Tag Archives: Klimawandel

Zu “Ihr habt keine Plan – darum machen wir einen” vom Jugendrat der Generationen Stiftung


Ihr habt keinen Plan „Wir widmen dieses Buch allen Menschen, die je zu uns gesagt haben: »It’s not gonna happen«“

Jeder kennt den Spruch, der immer wieder den Ureinwohner*innen Nordamerikas zugeschrieben wird: „Wir haben die Welt nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“ Eine fast schon Phrase gewordene Wendung, die aber für ein einleuchtendes Konzept steht: es gibt keine Zukunft, wenn sie nicht bereitet, ihre Bedingungen nicht antizipiert werden. Die Vergangenheit ist ausdeut- und belegbar, die Gegenwart gestaltbar, aber Zukunft muss bereitet werden, nur unter bestimmten Bedingungen kann sie überhaupt eintreten.

Wohlgemerkt: die Zukunft der Menschheit. In der Natur setzt sich durch, wer sich anpassen kann – und für die Menschheit hat nun die Stunde geschlagen, in der sie sich anpassen muss oder sie wird verschwinden wie viele andere dominante Spezies. Wer das für eine übertriebene Sicht hält, der hatte (bei aller Liebe) wohl in den letzten Jahren kein vernünftiges Buch in den Händen oder keine(n) vernünftige(n) Studie/Onlineartikel/Fernsehbericht vor Augen. Und hat folglich noch keinen Bericht über den Suizid einer Gattung mit pathologischem Befund gelesen, die wir geworden sind – sollte das aber schleunigst nachholen.

Tatsächlich ist Generationsgerechtigkeit ein revolutionäres Konzept, das uns zwingen würde, unser Leben, unser Wirtschaften und unsere Gesellschaft völlig neu aufzustellen.

Aber lassen wir das Pathologische des Menschen mal beiseite, denn mit „Ihr habt keinen Plan – darum machen wir einen“ hat der Jugendrat der Generationen Stiftung ein Manifest der Hoffnung und nicht (nur) des Zynismus vorgelegt (auch wenn es sich in vielerlei Hinsicht wie ein Manifest zu letzterer Regung liest, zumindest für mich). Zehn Felder arbeitet das Buch ab und identifiziert in diesen Feldern die Fehler aus Gegenwart und Vergangenheit und stellt eine Liste von Bedingungen auf, die das Überleben und Gedeihen der Menschheit als ganzer gewährleisten können, wenn sie zeitnah umgesetzt/jetzt in Angriff genommen werden.

Die Felder sind nach Dringlichkeit sortiert, denn den Anfang bilden die Punkte „Klima retten“ und „Ökozid verhindern“, anders gesagt: Lebengrundlagen bewahren – ohne die alles Kulturelle, Soziale und Gesellschaftliche eh keine Rolle mehr spielt oder sich zumindest verselbständig, der Kontrolle entzieht.

Ab sofort müssen wir die Klimakrise als das Wahrnehmen, was sie ist. Sie versetzt die ganze Welt in einen Notstand. […] Die nächsten Jahre bieten vielleicht die letzte Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern: die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, wie wir sie seit Beginn unserer Zivilisation kennen. […] Die Natur wird ausgebeutet – vermeintlich ohne Folgekosten. Denn sie macht keine Kostenvoranschläge, sie taucht nicht in Finanzbilanzen auf, sie schreibt keine Rechnungen. Irgendwann wird damit Schluss sein. Dann wird sie die Schulden eintreiben […] Wenn einmal das große Sterben um sich greift und riesige Löcher in Ökosysteme und Nahrungsketten reißt, ist nichts mehr unter Kontrolle. Jede Einsicht, dass auch wir Menschen ein Teil des großen Ganzen sind, das wir bereitwillig und rücksichtslos zerstören, kommt dann zu spät. […] Wirtschafts- und Finanzsysteme lassen sich wieder aufbauen. Ökosysteme nicht. […] Die Maßnahmen, die wir einfordern, sind radikal. Aber der drohende Ökozid lässt sich nicht durch harmlosere Maßnahmen, die niemandem wehtun, und kleine Einschnitte abwenden.

Schon in diesen ersten beiden Kapiteln schreitet das Buch mit einem enormen Tempo und großer Kompromisslosigkeit voran. Die Autor*innen machen klar: die Fakten haben wir gecheckt, unsere Vorschläge daran angepasst, folglich gilt: „Ein »Das geht nicht« verstehen wir als ein »Wir wollen nicht«.“ Dieses enorme Tempos und der kompromisslos-klare Ton wirken sich natürlich auch auf die Wucht der Darstellung aus. Wobei, die Inhalte reichen eh: Hier wird schließlich (leider nicht zum ersten, sondern zum wiederholten Mal, man denke nur an Philipp Bloms „Was auf dem Spiel steht“) nicht viel weniger als die ganze Hybris unseres derzeitigen Handelns offen gelegt, sicherlich hier und da vereinfacht dargestellt, aber im Kern zutreffend und voller erschreckender bis ernüchternder Beispiele.

Bis 2050 wird fast jeder Meeresvogel Plastik im Magen haben – schon heute sind es über 90 Prozent. Auf diesem Wege steigt das Plastik die Nahrungskette hinauf und landet schließlich auch in unserer Nahrung.

Kapitel drei nimmt sich dann des freien Marktes und der Finanzvorstellungen der Gegenwart an. Und hält fest:

Wer weiterhin behauptet, harte Arbeit zahle sich aus, macht aus der Existenz der meisten Menschen einen schlechten Witz.

Das habe ich selten so klar und prägnant gelesen. Und wenn es auch in Zentraleuropa vielleicht noch nicht so weit ist, dass der Satz mit vollem Recht an allen Häuserwänden prangen könnte, so gibt es doch viele Orte auf der Welt, an denen dies ohne Probleme der Fall sein könnte. Längst haben sich Paradigmenwechsel vollzogen, die hartnäckig geleugnet und retuschiert werden und weiterhin werden Konzepte auf Hochglanz poliert, die ihren Bezug zur Realität längst eingebüßt haben. Schere zwischen arm und reich, etc., die meisten werden das kennen, die wenigsten nehmen es leider ernst.

Im Grundgesetz heißt es, Eigentum verpflichtet. Wenn dieses Prinzip nicht bald wirklich wieder gilt, höhlt das unser Miteinander immer weiter aus.

Es muss wieder normal werden, dass Unternehmen, die häufig die Gesetze brechen, die Lizenz entzogen wird.

Und das Buch macht weiter große Schritte: von der sozialen Gerechtigkeit über Digitalisierung, Bildung, Demokratie, Menschenrechte and more and more. Zu jedem Punkt wird ein Katalog von Änderungen vorgelegt, die alle in Kurzform noch einmal hinten im Buch versammelt sind. Das Buch ist durchgehend gegendert, leider auch keine Selbstverständlichkeit.

Seit vielen Jahren wissen die meisten Menschen (oder könnten es wissen), dass unser derzeitiger Umgang mit den Ökosystemen, der Gesellschaft, den Kapitalflüssen etc. nicht funktioniert/keine Zukunft hat, eines Neuentwurfs bedarf. Hier, in diesem Buch, hat eine Gruppe junger Menschen einen solchen Neuentwurf gewagt. Sicher bedürfte er einiger Optimierungen, zusätzliche Ideen könnten eingeflochten werden, aber grundsätzlich ist es ein beeindruckender Plan für eine möglichzumachende Zukunft. Immer wieder pochen sie besonders darauf, dass Deutschland in der internationalen Gemeinschaft von Bedeutung ist (politischer und wirtschaftlicher) und sich dieser Bedeutung bewusst werden, sie nutzen muss, im Sinne einer für alle gesicherten Zukunft.

Ich muss zugeben, dass ich nicht viele Gründe kenne, an eine solche Zukunft noch zu glauben, leider erst Recht nicht nach diesem Buch, das die Probleme so gut und offen darlegt. Aber ich habe große Hochachtung vor diesem Versuch und hoffe natürlich, wider allen Pessimismus, dass dieser Plan adaptiert, in die Tat umgesetzt wird. Nicht nur hoffe ich das, ich wünsche es ihm. Vermutlich wird wieder nur endlos darüber diskutiert, wenn überhaupt.

Zu Jonathan Franzens “Das Ende vom Ende der Welt”


Das Ende vom Ende Jonathan Franzen ist das, was man einen streitbaren Intellektuellen nennt. So zumindest präsentierte er sich in seiner ersten Essaysammlung „Anleitung zum Alleinsein“, wo er sich gegen die große Vielzahl der Sexratgeberbücher aussprach und auch ansonsten eine ganze Reihe von entwicklungsskeptischen Texten vom Stapel ließ, die meisten getragen von einem Verlangen nach mehr kritischem Bewusstsein und vielperspektivsicher Wahrnehmung.

Im zweiten Essayband „Weiter weg“ wendete er sich mehr der Beziehung zwischen Leben und Literatur zu, allerdings waren auch hier noch die kritischen Ideale des Vorgängerbandes vertreten – und es finden sich dort bereits ein-zwei Texte über die Thematik, die in „Das Ende vom Ende der Welt“ zum Kernthema avanciert: Umwelt und Natur in hyper-kapitalistischen Zeiten und im Bann der Klimakrise (oder allgemein der menschlich verursachten Ungleichgewichte und Zerstörungen in allen Ökosystemen).

Franzen nimmt dieses Sujet von einer ganz eigenen Warte unter die Lupe: schon seit längerem ist er passionierter Vogelbeobachter und diese Leidenschaft hat ihn rund um den Globus geführt: nach Mittel- und Südamerika, in die Karibik, nach Albanien, Nord- und Südafrika, und sogar in die Antarktis. In etwa 50-60% der Texte in „Das Ende vom Ende der Welt“ berichtet er von diesen Reisen/Expeditionen, wobei er eine gute Balance wahrt zwischen den Schilderungen der Vogelbeobachtungen und den Berichten über die lokalen Gegebenheiten, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen die lokale Vogelpopulation leidet oder die Projekte, durch die sie geschützt wird.

Den Rest der Texte (bspw. ein Essay über das Werk von Edith Wharton, 10 Regeln für Romanautor*innen oder ein kurzes Dokument aus den Tagen nach 9/11) kann man getrost als Gelegenheitsarbeiten bezeichnen. Sie sind allesamt nicht schlecht oder überflüssig, wirken aber zwischen den anderen Texten eher wie Fremdkörper, bleiben ohne Anknüpfungspunkte und entfalten somit nicht ihr volles Potenzial.

Nun klingt ein Buch, in dem es hauptsächlich um Vögel, um die Beobachtung und die Darstellung ihres Überlebenskampfes in einer von Menschen dominierten Welt geht, erstmal nicht nach der spannendsten oder dringlichsten Lektüre, das ist mir bewusst. Dennoch würde ich sehr dazu raten, den Band zur Hand zu nehmen. Denn eben dieser Überlebenskampf und seine Umstände, die Franzen an verschiedenen Orten rund um den Globus schildert, und die Vögel selbst, mit ihrer Vielfalt und Schönheit, sind ein exemplarisches Beispiel für die Natur, die unseren Planeten so reichhaltig werden ließ, wie wir ihn vorfanden, und für die Arten und Weisen und kurzsichtigen Praktiken, mit denen wir diese Natur langsam aber sicher zerstören und uns selbst letztlich die Lebensgrundlagen entziehen.

Franzen zeigt dabei sehr schön auf, dass der Klimawandel hier nicht die einzige Bedrohung ist, sondern lediglich die umfassendste. Das Artensterben (und damit gleichzeitig das Sterben der Ökosysteme) – sei es nun bei Fischen oder Vögeln, Säugetieren oder Insekten – hat vielfältige Ursachen. Oft sind es Praktiken, zu denen schon Alternativen existieren, die sich nur endlich durchsetzen und/oder die gesetzlich verankert werden müssten.

Und lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Franzen es schafft, die Umweltthematiken nicht selten mit menschlichen Geschichten zu verbinden, ganz gleich ob es dabei um ein Ehepaar geht, das ganz allein einen großen Naturschutzpark aufbaut, um Menschen in den nordafrikanischen Ländern, die nicht verstehen, warum man Zugvögel nicht tonnenweise vom Himmel schießen sollte oder um seinen verstorbenen Patenonkel und die Geschichte, wie er dank ihm und einer heimlichen Liebe zu einer Reise in die Antarktis kam.

Nicht jede/r Leser*in wird etwas mit Franzens Vogelenthusiasmus anfangen können und das erschwert natürlich hier und da die Lektüre, auch ich tat mich teilweise schwer. Doch ich muss zugeben, dass ich seit der Lektüre einen frischen Blick auf mein natürliches Umfeld (soweit es in der Stadt existiert) gewonnen habe. Ich sehe wieder genau hin, wenn da etwas (abgesehen von den Menschen, die ich sofort als Personen wahrnehme) in meiner Nähe lebt, sich bewegt und an diesem unglaublichen Schauspiel teilhat, das den ganzen Planeten umspannt (es auf kleinstem Raum verkörpert). Oder besser gesagt: mehreren Schauspielen: Natur allgemein, heimisches Ökosystem, Evolution.

Franzens liebevolle Art, Vögel zu beobachten, zu unterscheiden und zu beschreiben, hat dieses neue Bewusstsein in mir angestoßen und ich glaube, dass es ihm darum auch geht: um mehr Empathie für die Natur, nicht nur aufgrund von wissenschaftlichen Fakten, sondern aufgrund konkreter Schönheit und Lebendigkeit. Die Menschheit muss diese Erde wieder als Ort vielgestaltigen Lebens begreifen, denn ohne dieses Bewusstsein, werden wir nie begreifen, was wir im Begriff sind zu verlieren, bevor es zu spät ist – für die Vögel und für uns.

Zu Rebecca Solnits Essays in “Die Dinge beim Namen nennen”


Dinge beim Namen nennen „Wir haben uns verlegt auf kurze, behauptende Statements, auf das Denken in Schlagzeilen, in Schwarz-Weiß, in unbestimmten Sammelkategorien.“

Mit diesem Buch bin ich wohl endgültig zum Fan von Rebecca Solnit geworden. Schon „Wenn Männer mir die Welt erklären“ (wo es nicht nur um Mensplaining, sondern auch um strukturelle, sexuelle Gewalt, Männlichkeit, Virginia Woolf und das Kassandra-Syndrom (das Untergraben der Glaubwürdigkeit von weiblichen Aussagen) geht) hat meine Sicht auf viele Dinge grundlegend verändert und geprägt; ich las es mit Begeisterung und Bestürzung. Die Lektüre von „Die Dinge beim Namen nennen“ wurde von einer ähnlichen Gefühlskombination begleitet und wird noch lange nachhallen.

In vier Kapiteln berichtet Solnit hier von US-amerikanische Realitäten, Phänomenen, Krisen (der Untertitel des Originals lautet: „American Crises (and Essays)“), kommt aber dabei auch auf viele grundsätzliche Probleme zu sprechen, die sie meisterhaft exzerpiert, ohne falsche Scheu direkt angeht. Schon im Vorworttext kommt sie auf die Idee der Perfektion zu sprechen und schreibt:

Viele von uns glauben an Perfektion, obwohl sie alles ruiniert, denn das Perfekte ist nicht nur der Feind von allem, was gut ist, sondern auch dessen, was realistisch und möglich ist und Vergnügen bereitet.

Eine Ansicht, die sie in einem späteren Text über Zynismus erweitert:

wer alles, was nicht perfekt ist, für moralisch kompromittierend erklärt, will sich damit nur selbst erhöhen, sich aber nicht mit aller Kraft einen Ort oder ein System oder eine Gemeinschaft engagieren.

In dem Buch wimmelt es nur so von solch dezidierten, klugen Beobachtungen und Feststellungen, die eingewoben sind in Analysen zu gegenwärtigen Geistesverfassungen, in den USA und, letztlich, allen westlichen Gesellschaften. „Gefühlslagen“ nennt Solnit dementsprechend die im zweiten (von vier) Abschnitt versammelten Texte – zu denen wir gleich kommen.

Die Texte in Abschnitt eins beschäftigen sich vor allem mit dem Phänomen Trump, seiner Wahl, sowie den Gegebenheiten und Umständen, die dazu geführt haben (und die kontrovers diskutiert wurden und werden – das Nachplappern verschiedenster Theorien hierzu ist sogar zu einer der beliebtesten Small-Talk-Thematiken geworden).

Neben handfesten Erklärungen, warum dieser Wahlkampf (und sein Ausgang) ein Meilenstein der Frauenfeindlichkeit war (nicht nur in Bezug auf Trump) und wie besonders für People of Color massenhaft die Stimmabgabe erschwert wurde – wenn ihre Stimmen durch die Wahlstrukturen nicht eh marginalisiert wurden – wagt sich Solnit in ihrem Text „Die Einsamkeit des Donald Trump“ auch an ein psychologisches Porträt des Wahlsiegers – mit dem Fazit: Er ist (auch) das folgerichtige Produkt eines Lebensweges ohne echte Rückschläge, Krisen oder Grenzsetzungen; Trump, stets umgeben von Ja-Sager*innen, sieht laut Solnit mittlerweile niemanden mehr als ebenwürdig/sich selbst gleich an, folglich fehlen ihm auch sämtliche Kontrollmechanismen, im Austausch mit solchen Menschen greifen und das Neubewerten der eigenen Handlugen ermöglichen.

das Gegenteil von Mensch, die uns herabziehen, sind nicht jene, die uns auf einen Sockel stellen und uns Honig um den Bart schmieren. Es sind Gleichgestellte, die großmütig sind, ohne uns aus der Verantwortung zu entlassen, Spiegel, die uns zeigen, wer wir sind und was wir tun.

Dieses Porträt hinterlässt als einziger Text einen etwas faden Nachgeschmack; es liegt darin ein Hauch von Küchenpsychologie, auch wenn Solnits grundsätzliche Ausführungen sehr schlüssig sind. Sie liefert eine gute Erklärung für Trumps Größenwahn, aber selbst gute Erklärungen wirken bei diesem Mann ziemlich widersinnig (wobei es vielleicht auch gut ist, Trump nicht als „outstanding“-Persönlichkeit zu behandeln; in diesem Sinne ist Solnits Porträt ein guter Versuch, ihn als einem stinknormalen Solipsisten abzustempeln, vom Sockel zu holen).

In dem zweiten Abschnitt „Amerikanische Gefühlslagen“ stellt sie u.a. dem Zynismus ein niederschmetterndes Zeugnis aus:

Zynismus ist in erster Linie eine Form der Selbstdarstellung, und mehr als alles andere sind Zyniker stolz darauf, sich weder für dumm verkaufen zu lassen noch dumm zu sein. Doch die Arten von Zynismus, die mir begegnen, enthalten häufig beides. Dass die Haltung, sich der eigenen weltmüden Lebenserfahrung zu rühmen, in Wahrheit häufig so naiv ist, zeigt, wie sehr der Schein inzwischen über die Substanz triumphiert, die Attitüde über die Analyse.

und kritisiert die Lust an der Eskalation, die Anfälligkeit der modernen Mediengesellschaften für den Trigger Zorn:

„Zorn ist nicht ganz dasselbe wie Entrüstung. Man könnte sagen, dass Letztere weniger aus der Wut darüber resultiert, was passiert ist, sondern aus dem Mitgefühl mit denjenigen, denen es passiert ist.“ (Solnit nennt als Beispiel hier Nelson Mandela, der es irgendwann einmal, so erzählte er in einem Interview, aufgegeben habe, zornig zu sein. Seinem Engagement habe es nie geschadet und er sähe Zorn mittlerweile als Falle an, die uns von konstruktiven Formen der Veränderung abbringt.)

Gleich zu Anfang kommt sie auf das fast schon mythologische Ideal der Isolation zu sprechen, das in den USA spätestens seit der Figur des einsamen Cowboys (Rächers, Helden, etc.) ins nationale Unterbewusstsein eingeflossen ist und sich dort hartnäckig hält, vor allem in Form von Männlichkeitsbildern (und dadurch leider oft auch den Charakter von politischen Entscheidungen beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt). Es ist sehr spannend, wie Solnit anhand von tagespolitischen und popkulturellen Referenzen dieses seltsame, fast schon pathologische Ideal nachweist und seine Wirkung und Stellung herausarbeitet.

Im letzten Text in Abschnitt Zwei beschäftigt sie sich mit einem Thema, das viele politisch interessierte und engagierte Menschen dieser Tage beschäftigen wird: bewegen wir uns nur noch in Echo-Kammern, erzählen wir unsere Ideen und Fakten immer nur den Leuten, die eh schon mit uns einer Meinung sind, die Bescheid wissen, kurzum: predigen wir dem Kirchenchor? Solnit nimmt hier wiederum eine erstaunlich vitale und entschiedene Gegenposition ein:

Die Faktenlage deutet stark darauf hin, dass politische Körperschaften am meisten profitieren, wenn sie diejenigen motiviert kriegen, die längst mit ihnen übereinstimmen – wenn sie also nicht diejenigen ansprechen, die noch unsicher sind, wen, sondern die, die nicht wissen, ob sie überhaupt wählen gehen sollen. […] Trotz allem machen sich gemäßigte Demokraten oft auf, um denjenigen um den Bart zu streichen, die sie definitiv nicht unterstützen, womit sie dann wiederum diejenigen verraten, die das eigentlich tun.

Sie positioniert sich im Verlauf des Textes u.a. eindeutig gegen den Mythos von der „weißen Arbeiterschaft“, die die Demokraten angeblich vernachlässigt und vergrault hätten, eine beliebte Erklärung für die verlorene Wahl; vielmehr wäre, auch unter Mitwirkung der Medien, Clinton als Person erschienen, die zu viele Gruppen habe ansprechen wollen. Solnit legt dar, warum es den Politiker*innen heute mehr denn je darum gehen muss, ihre Integrität zu bewahren, statt den Chimären von großen Mehrheiten und unsinnigen/unmöglichen Konsensen hinterherzujagen. Und sie macht die Irrelevanz dieser Taktiken und ihre hemmende Wirkung auf progressive Veränderungen an einem einfachen Beispiel deutlich.

In den letzten Jahren habe ich oft gehört, wie Leute sie die Köpfe heiß redeten angesichts von Umfrageergebnissen darüber, wie viele US-Amerikaner*innen den Klimawandeln für wahr halten. Sie schienen immer überzeugt davon, dass die Klimakrise gelöst wäre, wenn man alle dazu bekäme, an den Klimawandel zu glauben. Aber wenn diejenigen, die den Klimawandel längst für real und akut halten, nichts gegen dieses Problem unternehmen, dann passiert eben auch nichts. Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass sich irgendwann alle einig sein werden, sondern die Frage, ob dem so sein wird, ist auch völlig irrelevant. Es lohnt nicht, darauf zu warten. Es gibt ja auch immer noch Menschen, die nicht finden, dass Frauen die gleichen unveräußerlichen Rechte zustehen wie Männern, was uns aber ja auch nicht davon abgehalten hat, eine Politik zu machen, die auf dem Prinzip der Geschlechterfreiheit fußt. […] Wer darauf besteht, dass eine Idee in der Mitte der Gesellschaft angekommen sein muss und sich nicht noch auf Wanderschaft befinden darf, bevor an ihrer Umsetzung gearbeitet wird, hat nicht verstanden, wie Veränderung funktioniert.

Wie sie funktionieren kann, die Veränderung, schildert Solnit dann auch gleich, am Beispiel von gewaltfreien Bewegungen, historischen Beispielen und Ideen.

Im dritten Abschnitt geht es dann um „Amerikanische Hartleibigkeiten“, was u.a. das Blut auf dem Gründungsmythos von Texas und die Denkmäler konföderierter und sonstiger Sklavenhalter meint. In dem längsten Essay des ganzen Bandes setzt sich Solnit aber auch mit einem expliziten Fall von Polizeigewalt (mit Todesfolge) in San Francisco auseinander (ein Text, der ein wenig an Joan Didion erinnert) und beschreibt dabei auch die Umwälzungen, die in den meisten amerikanischen Großstädten an der Tagesordnung sind. In einem anderen, berührenden Essay beschreibt sie den Fall eines mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unrecht verurteilten Strafgefangenen, der mittlerweile, nach zahllosen Besuchen, auch ein Freund geworden ist – und auch hier ist der konkrete Fall natürlich der Ausgangspunkt für eine Betrachtung des ganzen Systems. Auch die Verhinderung einer Ölpipeline, mehrheitlich durch Vertreter*innen der Native Americans, ist Thema eines Textes.

Der vierte Abschnitt fasst dann drei Texte unter dem Titel „Möglichkeiten“ zusammen. Gleich der erste Text ist eine Antrittsvorlesung an der Graduate School of Journalism an der University Berkeley. Es ist vielleicht das Meisterstück dieser sehr überzeugenden Essaysammlung. Als Stichwort für die Rede wählte Solnit die Redewendung „[to] Break the Story“.

Der dominanten Kultur ist meisthin daran gelegen, ebenjene Geschichten zu stärken, auf denen sie wie auf Säulen ruht, Säulen, die allerdings allzu häufig zugleich die Käfigstäbe anderer sind. […] Warum nur machen die Medien so brav ein derartiges Gewese um Terrorismus, dem in den Vereinigten Staaten so wenige zum Opfer fallen, während sie gleichzeitig häusliche Gewalt verharmlosen, durch die Millionen amerikanischer Frauen über lange Zeiträume terrorisiert und alljährlich fast tausend getötet werden? […] Ich glaube, dass die Mainstream-Medien gar nicht so sehr rechts- oder linkslastig sind, sondern vielmehr Status-quo-lastig. Sie tendieren dazu, Menschen in Machtpositionen glauben zu schenken, auf Institutionen, Unternehmen, die Reichen und Mächtigen zu vertrauen – also so gut wie jedem selbstbewusst auftretenden weißen Mann in einem Anzug. Sie tendieren dazu, Menschen, die längst bewiesen haben, dass sie die Unwahrheit sagen, noch mehr Lügen erzählen zu lassen und dann noch ausführlich darüber zu berichten; von Thesen auszugehen, die längst als widerlegt gelten […] Zukünftige Generationen werden uns mehrheitlich dafür verfluchen, dass wir uns mit Belanglosigkeiten abgelenkt haben, während der Planet brannte.

Es ist eine Rede, bei deren Lektüre ich mir wünsche, dass alle Journalist*innen der Welt sie verinnerlichen würden, damit die „vierte Gewalt“ im Staat wirklich überall das aufklärende und wachsame Organ wird, das es sein könnte. Journalist*innen als Schöpfer*innen und Zerstörer*innen von Geschichten – Solnit löst dieses Potenzial, diese Verantwortung, in ihren eigenen Texten ein und fordert sie von den Studierenden, zu denen sie spricht.

Auch die anderen beiden Texte handeln von Courage, von Mut: dem Mut, Veränderungen in Gang zu setzen, selbst wenn nicht direkt Ergebnisse zu erwarten oder Wirkungen zu ersehen sind. Es geht ums tun und nicht ums Siegen, wie schon Konstantin Wecker sang. Der Zweifel am Tun ist zwar wichtig, aber ihn selbst als entscheidende Tat zu sehen, wäre fatal.

„Die Dinge beim Namen nennen“ ist ein lebenskluges, gleichsam feinsinniges und Klartext redendes Werk. Solnit, umtriebig und doch bei jedem Thema sehr fokussiert, festigt ihren Ruf als wichtige und profilierte Stimme ihrer Zeit. Sie spricht hier von Dingen, die uns alle angehen und die sie klug und beredet beim Namen nennt. Neben Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie” ist es außerdem das beste Buch über die derzeitigen amerikanischen Verhältnisse, das ich kenne.