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Das “Wir” auf der Probe


Wenn ich wir sage Das Wir ist vermutlich das unbestimmteste aller Personalpronomen. Wer wir sagt, der/die kann damit eine Gruppe von Leuten zusammenfassen wollen, aber auch sich und andere gegen eine Gruppe von Menschen abgrenzen wollen und der Inhalt der Gruppe muss gar nicht genau definiert werden, damit sich leider angesprochen oder ausgegrenzt fühlen. Wir, das signalisiert, behauptet, es gäbe ein gemeinsames Interesse, ein verbindendes Element zwischen einer bestimmten Anzahl an Individuen. Meist ist dieses verbindende Element eine Fiktion und die Geste, der Ausspruch des Wir ist nicht selten vereinnahmend. Populär ist das Wir nach wie vor trotzdem.

Auch Michael Köhlmeier ist das Wir suspekt, aber ihm ist bewusst, dass ohne ein Wir fast gar nichts existieren kann, das übers Zweckgemeinschaftliche hinausgeht, keine Freundschaft, keine Familie, keine Verbundenheit in einer gemeinsamen Aktivität etc. Dieser Erkenntnis und ihrer Fallstricke nähert er sich auf autobiographischen Pfaden, umkreist sie in Geschichten und Überlegungen. Beginnend bei der Freundschaft, bewegt er sich über die Familie hin zum größten, schrecklichsten Wir: dem Wir der Nation, des Volkes.

Die beiden Nadeln, mit denen er sein eigenes Muster zum Fall des Wir (in der Freundschaft und darüber hinaus) strickt, sind die Schriftsteller und Philosophen Michel de Montaigne und Ralph Waldo Emerson. Beide haben über die Freundschaft geschrieben, beide haben konträre Ansätze propagiert (für Montaigne ist das Wir etwas Heiliges, für Emerson etwas Trügerisches und vor allem Endliches, in Grenzen Aufwachsendes), die Köhlmeier gegeneinander abwiegt, zusammenwebt und zu den Grundlagen seiner Philosophie des Wir macht.

In seinen Geschichten, autobiographisch und entnommen aus der Weltliteratur (quasi Montaignes Essay-Stil), geht Köhlmeier seinen eigenen Wir-Erfahrungen auf den Grund, erzählt über die Beziehung zum zunächst (aufgrund bestimmter Umstände) fremden Vater, mit dem ihn später ein wichtiges Streben verband, über ein Identitätsspiel, das er einmal mit Freund*innen spielte und das auf faszinierende Weise aus dem Ruder lief und einige andere Gegebenheiten, in denen Wir-Erfahrungen eine Rolle spielen.

Am Ende schält sich heraus: das Wir ist möglich, aber fragil, im Kleinen oft mehr bedingt vom Zufall und den Umständen, als dem Willen derer, die daran teilhaben (wollen). Wo ein Wir sich durch Begriffe wie Nation oder Volk konzipiert, ist es ein reines Abstraktum, keine wirkliche Verbindung und kann nur zusammengehalten werden von extremen Gefühlen, die oft geschürt, hervorgerufen und zur Bedrohung/zum Ziel erhoben werden müssen, damit das Wir nicht zerbricht.

Streckenweise ist Köhlmeiers Text ein bisschen gestaltlos und auch wenn seine Geschichten interessant sind, ergibt sich trotz aller Ausblicke/Einblicke kein Konzept aus ihrer Aneinanderreihung. Der Einstieg in manche Teile ist etwas überhastet, manche Enden und Schlussfolgerugen sind zu abrupt, nicht immanent. Dennoch, wenn man sich auf diese Formlosigkeit und Sprunghaftigkeit einlassen kann, wird man mit einem teilweise sehr intimen und unterschwellig komplexen Lesererlebnis belohnt.

 

Zu den Reden von Michael Köhlmeier


erwarten sie nicht

Es war eines der wenigen Ereignisse, die mir in den letzten Jahren wirklich Mut gemacht haben: Michael Köhlmeiers Rede in der Wiener Hofburg am 04. Mai 2018. Da sprach ein Schriftsteller – kein/e politische/r Kabarettist/in im Gewand der Ironie, kein/e NGO-Vertreter/in aus der Opposition, sondern ein Künstler aus der Mitte der Gesellschaft – offen gegen die Verhältnisse, gegen die politische – und indirekt auch gegen deren Verlängerungen in der gesellschaftlichen – Kultur. Und fast noch wichtiger als das Thema seiner Rede (die Geschichtsvergessenheit der aktuellen österreichischen Regierung, ihre fragwürdigen Verlautbarungen und jüngsten Maßnahmen) war ein Satz, der nun dieser Sammlung mit neun Reden als Titel dient.

„Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle“, sagt Köhlmeier in der Rede. Dieser Satz war an die Regierenden gerichtet, aber er ist deswegen so schneidend, weil er sich darüber hinaus auch an die Regierten richten konnte. Dummstellen (auch als Synonym für Wegschauen) hat in unserem Informationszeitalter und in unseren Wohlstandsgesellschaften Hochkonjunktur – oft ist der Grund Ignoranz, manchmal auch Überforderung, Kapitulation. Wer sich dumm gibt, seine Dummheit schützt und pflegt, der kommt mit bestimmten Debatten nicht in Berührung und kann glauben, er hätte mit vielen Dingen nichts zu tun. Kenntnis zieht die Frage des Verhaltens, der Position nach sich, keiner kann sich dieser Konsequenz entziehen (und es wird oft versucht, meist durch Leugnung oder Verdrehung der Kenntnis).

Köhlmeier ergriff die Gelegenheit zu zeigen, wie das ist, wenn man sich in der Öffentlichkeit, bei einem offiziellen Anlass, nicht dumm stellt, sich nicht servil gibt. Es war Stefan Zweig, der einmal gesagt hat: „Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig.“ Ob er damit nun recht hatte oder nicht, Köhlmeiers Rede entsprang eben nicht der Geltungssucht, sondern der Gelegenheit. Er nutzte sie und mahnte.

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“

Seine Rede war dennoch keine Kampfansage und auch die übrigen Reden sind es nicht. Es sind Lektionen in Aufmerksamkeit, Menschlichkeit, Lehrstücke gegen das Vergessen, Elegien der Dialektik – und natürlich ein Stück weit das, was gute Literatur immer ist: Mittel gegen die Scheuklappen und die Ausreden der Ignoranz, gegen die Einseitigkeit.

Zum Beispiel jene Rede, die er 2014 bei der Verleihung des Humanismus-Preis hielt. Eine eher kurze Rede, in der er nach der Grundlage für humanistisches Verhalten fragt und auf den letzten Gesang der Ilias von Homer zu sprechen kommt. Dort schleicht sich Priamos, der König von Troja, in das Lager der Griechen, ins Zelt des Achilles, um ihn um den Leichnam seines Sohnes Hector zu bitten, den Achilles vor kurzem erschlagen hat. Der trauert noch um seinen Freund Patroklos, der wiederum von Hector erschlagen wurde. Als sie sich begegnen, erkennen sie, dass gerade sie den Schmerz des jeweils anderen am besten verstehen können.

„Sich des anderen zu erbarmen heißt, das gemeinsame Los aller Sterblichen an sich selbst zu erfahren“

Auch als Redner hält Köhlmeier an den Werten und der Aufgabe des Schriftstellers, des Erzählers fest. Was u.a. heißt: nicht nur den Spiegel vorhalten, sondern auch in ihn hineinschauen; den Spiegel nicht aus Eitelkeit ergreifen, sondern weil er etwas birgt, was wir normalerweise nicht zu Gesicht bekommen, mit dem wir selten konfrontiert werden. In einigen Reden spricht Köhlmeier über das Erbe des 20. Jahrhunderts, darüber wie sich Apathie und Schrecken angenähert haben, verschmolzen sind – so fest mittlerweile, dass sie kaum noch zu trennen sind.

„Wir sind begriffslos, seit wir das Böse nicht mehr von dem unterscheiden können, das uns ansieht, wenn wir in den Spiegel schauen.“

Köhlmeier erzählt von seiner Mutter und von dem Gegensatzpaar Leben und Historie. Er spricht über Toleranz und Individualität, über Empathie und Verdrängung. Er redet über Verbrechen und er redet über die Schönheit. Und alle seine Reden weisen uns, unter der Hand, an, uns nicht nur unserer Feinde zu vergewissern, sondern vor allem dem, was wir bewahren und bewirken wollen. Thomas de Quincey schrieb: „Feinde glauben, einander zu kennen. Es besteht die Gefahr, dass sie diesen Kenntnissen irgendwann mehr Bedeutung beimessen als den eigenen Erfahrungen.“ Sich nicht dummstellen will gelernt sein, aber ebenso, zu erkennen, dass die Wirklichkeit komplexer ist als der eigene Einblick in den Verlauf der Dinge.

Und gegen wen wir kämpfen darf nie verdrängen wofür wir kämpfen. Hier hat Köhlmeier in einer Rede eine schöne Anekdote parat:

„Mitten im Krieg gegen Hitler wurde im britischen Unterhaus der Antrag gestellt, das Kulturbudget zu kürzen. Churchill, Premierminister und Verteidigungsminister, empörte sich dagegen: „Wofür kämpfen wir denn?“, soll er ausgerufen haben. Und der Antrag war vom Tisch.“

Zu Köhlmeiers “Der Liebhaber bald nach dem Frühstück”


“Drüben, am Schweizer Ufer des Rheins,
Saß eine Katze, frei und reich. Sie tauchte

Die Pfote ins Schweizer Wasser. Wir hätten es
Uns leicht machen können, wir beide,

Katze im schwarzweißen Fell, Mann in
Khakihosen und Lumberjack: Ein Spaziergang

Bis zur Eisenbrücke und dann über die Böschung
Hinauf und fünfzig Meter hin ich

Und fünfzig Meter her du, und in der Mitte
Hätten wir uns getroffen.”

Die deutsche Gegenwartslyrik ist nicht frei von Selbstbezüglichkeiten und Luftbauten, von einer kargen Verzierung von Sprache mit Wirklichkeit und manchmal auch einer Sprachlosigkeit, die keine Hintergründe, ja nicht mal Gründe kennt.

Doch da ist auch die andere Seite, abseits der Experimente, wo das Dichterische aus der Assoziation, aus der uneinholbaren Natürlichkeit und Persönlichkeit entspringen mag, aber aus dieser Tatsache und der Sprache eine kosmische Konstante webt, die uns verblüffen, erfreuen und auf den Ebenen der Wirklichkeit herum teleportieren kann und uns erfahren, erdenken und erkennen lässt.

“Die Zeit, sage ich, ist nur ein anderer Lügner,
Sie spricht wie ein Knabe spricht
Mit dem gefühllosen Geiz eines Mannes.”

Michael Köhlmeier, ein sehr feinsinniger Romancier und ein bemerkenswerter Prosaist, schreibt Gedichte, die wie Leiter des Zufalls wirken, wie Eingebungen aus der Ferne. Lyrische Kurznotationen die einem plötzlich und kurz in Fleisch und Blut übergehen und dann in eben diesem Sog des Bluts wieder verschwinden – und doch einen Eindruck hinterlassen, der in seinem stillen Dasein unwillkürlich scheint, wie ein Bild, das man aus dem Fenster sah, aber nicht ganz wahrnahm: auf der Innenseite irgendeiner Erinnerungsmünze eingeprägt.

Zwischen Alltag und Metaphysik, Krumen und Planeten wachsen seine Verse wie Farnkraut, Tautropfen des Sinns auf ihren Blättern. Dabei fällt vor allem auf, wie neutral sie gehalten sind, mit Balance, genau in der Mitte und wie versöhnlich einen ihre Lektüre dennoch stimmt, mit all ihrer Lakonie. Denn da ist eine kleine Regung, die man selbst aus ihnen zieht, die einem selbst geschieht.

“Die Schönheit des Seins und der Dinge wird sich
Zeigen, wenn Sein und Ding
Frei von Metaphysik und Bedeutung

Und Metaphysik und Bedeutung
Als Zubereitung des Rohen erkannt
Sein werden.”

Dieser Ausschnitt kann sehr gut als Eingrenzung der Wirkung dienen, die Köhlmeier in der Lyrik zu erreichen sucht. Schönheit, die nicht als Schönheit auftritt, mit schönen Kleidern, Wortakrobatik, aushängender Metaphorik – nein, wenn überhaupt nur mit der kleinen Tätowierung “Gedicht” irgendwo am Körper und sonst ganz unscheinbar, aber eingebend.

Viele der Verse wirken zunächst unerreichbar, wie in Schneekugeln, Photos, entfernten Plakaten verloren, aber doch nicht wirklich distanziert, vielmehr ganz nah abgewandt, auf den zweiten Blick, als wäre es eine Täuschung gewesen – oder ist das jetzt die Täuschung?

“Bücher, sagte er, wiegen schwer,
Gedanke und Gedächtnis dagegen passen tausendfach
Auf eine Nadelspitze.”

Gedichte aber, wenn sie gut sind, imitieren diese tausendfache Präsenz auf einer Nadelspitze. Beeindruckend, das ist ein Wort, was man sicher sehr häufig bei Gedichten fallen lassen kann, aber hier passt es irgendwie besonders, auf eine stille Art und Weise. Vielleicht weil die Gedichte so einfach sind und doch in ihren Imitationen, Geschichten und Bildern das Einfache zu dem Erheben, was zählt, was zentral liegt, egal wo man lebt. In diesem Sinne sind sie wieder etwas Besonderes. Wieder einmal gebührt der Edition des Lyrik Kabinetts Dank für einen wirklich einzigartigen Gedichtband.

Link zum Band