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Zu Kazuo Ishiguros “The buried giant”


The buried giant Raymond Queneau hat einmal angemerkt, dass jedes Buch letztlich eine Ilias oder eine Odyssee sei – die Geschichte eines Konflikts oder die Geschichte einer Reise. Man sollte solche Verallgemeinerungen natürlich nicht unhinterfragt übernehmen, sonst fängt man bald an, alle Realien so zu verdrehen, dass sie zu diesen Verallgemeinerungen passen; was auf einem Gebiet wie der Literatur meist auf Polemiken und vereinfachte Darstellungen hinauslaufen würde.

Trotzdem entsann ich mich dieses Ausspruchs von Queneau, als ich nach der Lektüre von „The buried giant“ darüber nachdachte, wie ich die Struktur des Buches veranschaulichen könnte. Denn letztlich hat Kazuo Ishiguro hier ein Buch geschrieben, das ganz und gar eine Odyssee ist. Nicht nur, weil eine Reise im Zentrum steht, sondern weil dahinter der Schatten einer Ilias lauert; einer Ilias, deren Auflösung erst in dieser Odyssee erzählt wird (was viele nicht wissen: das trojanische Pferd kommt in der Ilias nicht vor, sondern erst in einer in die Odyssee eingeflochtenen Rückschau). Auch in der Verquickung von phantastischen, metaphysischen, mythischen und realistischen Vorgängen und Ereignissen, gleichen sich die Odyssee und „The buried giant“.

Das Buch spielt in den Dark Ages der Britischen Insel, als mehrere Volksstämme nach dem Abzug der Römer und in Zeiten der Völkerwanderungen um die Vorherrschaft und die Siedlungsräume auf der Inseln konkurrierten. Bevor Angeln und Sachsen schließlich fast die ganze Region des heutigen „England“ eroberten, leisteten die ansässigen Britannier wohl eine Weile ernsthaft Widerstand – in diesem Konflikt liegen auch die Wurzeln der Sagengestalt König Artus, der in den frühsten Geschichten ein britannischer König ist, der den Angelsachsen die Stirn bietet.
Es gibt keine Chroniken und nur wenige gesicherte Fakten und Aufzeichnungen über diese Zeit, die dem groben Rahmen der Völkerkonflikte klarere Dimensionen verleihen könnten. Hier setzt Ishigruo mit seinem Mix aus Imagination, historischem Anstrich und Mythenkosmos an.

Im Zentrum steht das Ehepaar Axl und Beatrice, Britannier, die aus ihrem Heimatdort aufbrechen, um ihren vor langer Zeit verlorenen Sohn zu besuchen. Oder zu finden. Haben sie überhaupt einen Sohn? Warum fällt es ihnen so schwer sich an einfachste Dinge zu erinnern? Was ist damals geschehen, in dieser Zeit, an die niemand sicher erinnern kann.

Von Anfang an liegt ein undurchdringlicher, unbehaglicher Nebel auf dem Geschehen und man ist als Leser*in fast versucht, verärgert zu sein über die Unklarheiten in den Gedanken der Protagonist*innen, ihre scheinbare Einfalt, ihre vagen Aussagen und Erinnerungen.

Mit der Zeit begreift man (oder: muss akzeptieren), dass das Ganze Methode hat. Es kann einen natürlich immer noch nerven, in dieser Hinsicht lässt sich nichts beschönigen: Ishiguros Roman verlangt von seinen Leser*innen, dass sie dranbleiben, dass sie sich in denselben Nebel und dieselbe Unklarheit wie seine Figuren hüllen, nur langsam vorankommen und den (fast immer ungemein höflichen) Gesprächen lauschen, um hier und dort einen Blick auf eine mögliche, vielleicht auch vermeintliche Erkenntnis zu erhaschen, Stück für Stück in die Hintergründe vordringend, die sich nicht mit einem mal, sondern mit vollendeter Behutsamkeit entfalten. Diese Behutsamkeit und ihre letztendliche Entfaltung erinnern am Ende an die unterschwellig elektrisierende Behutsamkeit der Geschichte von „Never let me go“, die sich ebenso langsam offenbart, allerdings weniger mühsam voranschreitet, weniger mühsam zu lesen ist.

Axl und Beatrices Reise führt sie mit einigen wenigen Gestalten zusammen, die meist dem festen Figurenensemble angehören, in dem sich alle Konflikte abspielen und das die Reise, mal getrennt, mal vereint, bestreitet. Gemeinsam und jeder für sich werden sie, scheinbar in Bestimmungen verwoben, immer wieder neu zueinander positioniert. In einer Welt, die voller übernatürlicher Gefahren ist, Menschenfresser, Kobolde und Drachen, deren essentiellste Bedrohung aber trotz allen mystischen Schrecken immer noch von der menschlichen Verworfenheit ausgeht.

Daniel Kehlmann hat in seiner Rezension in der FAZ darauf hingewiesen, dass Ishiguros Buch letztlich ein Roman über das Vergessen ist, für und wider abwägend. Ich behaupte (ohne Kehlmann, dessen Rezension ich für gelungen und kompakt halte und deren Eingangspassage ich nachdrücklich unterstreichen will, zu widersprechen), dass es ein Roman über sehr viel ist, Unzähliges. Gerade weil dieser Roman so langsam voranschreitet und so wenig Zeit und Raum auf offensichtliche Handlungen, Aussagen und Ansichten verwendet, dahinfließt in fast schon unverfänglich anmutenden, mitunter leicht willkürlich erscheinenden Episoden, gelingt es ihm, so viele Motive unterzubringen, die sonst nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren könnten, weil sie nach einer Forcierung verlangen oder um Aufmerksamkeit und ihren Platz als Spannungselement konkurrieren würden.

Es geht um Katastrophen, es geht um das Alter, es geht um die Gewissheit der Liebe, es geht um Rache, es geht um das Elend, es geht um das Schicksal, um die Frage nach Gut und Böse, um neuerzählte/-gedeutete Mythen, um Gerechtigkeit und Willkür. Und immer mehr Worte will ich anreihen, belasse es aber bei diesen, die mir zuerst eingefallen sind. Und habe schon Angst, zu große Erwartungen zu wecken, die ja der Feind jeder unverstellten Lektüre sind.

Also: warum ist dieses Buch so lesenswert?

Die einfache und für manche (ganz gleich, ob sie es (an)gelesen haben oder noch nicht gelesen haben) wohl unbefriedigende Antwort ist: Weil es großartige, feinmaschige Literatur ist. Ich behaupte, dass es keine einzige überflüssige Szene, keinen einzigen überflüssigen Dialog gibt; ja, dass, sobald man eine Szene streichen wollen würde, erkennen würde, wie viel die karge Handlung, die jovialen und sich dann doch zuspitzenden Gespräche, über die Figuren und die Themen, um die alles kreist, aussagen – vor allem, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, als Teil des Kosmos, den das ganze Buch webt. Diese Bedeutungsebenen nimmt man zunächst nicht wahr, während man – auf einen deutlichen Fingerzeig, das Eintreten einer klar ausgerichteten Narration wartend – die Szenen an sich vorbeiziehen lässt. Aber im Nachhinein fällt einem auf, wie noch in der kleinsten Szene vieles nachhallt und aufblitzt, das Große und das Kleine, die Weltgeschicke und das Individuum betreffend.

Diese Erfahrung macht man nicht häufig, behaupte ich. Natürlich wird es deswegen nicht zum Buch für jede/n Leser*in. Wem also schön (und darin manchmal auch umständlich) arrangierte und sich nur langsam offenbarende Prosa eher nicht zusagt, der sollte vielleicht die Finger von diesem Buch lassen. Er bringt sich aber, dies auch als Warnung, letztlich um eine Erfahrung, die an der Oberfläche nicht immer bestechen mag, letztlich aber unverhältnismäßig tiefe Abdrücke in einem zurücklässt, ohne dass man sagen kann, wann sie Gelegenheit hatte, in diesen Winkeln der eigenen Seele herumzuwandern.

Liebesgeschichten, Geschichten von Krieg und Schuld, von Mythen und Monstern, sie sind oft episch, lodernd, heischend. Ishiguro gelingt mit „The buried giant“ das Kunststück, all dies zu vermeiden und trotzdem über jedes dieser Themen zu schreiben, leibhaftig, innig, und ihre Dimensionen anzudeuten, aufzurufen. Der anfängliche Vergleich mit Homers großer Dichtung mag vermessen sein und letztlich greift er auch im Detail nicht. Denn Ishiguros Roman ist vielleicht eine Saga, die ihre stärksten Momente aber nicht in großen Geschichten und Ereignissen bündelt, sondern in Gesten, Erwähnungen und Unwägbarkeiten aufbewahrt. Dort also, wo alles Menschliche und Zwischenmenschliche letztendlich sitzt und entspringt – auch wenn es oft von dort aufbricht, um Weltgeschichte zu schreiben, zu errichten und vernichten. Letztlich liegt es dort und nirgendwo anders.

 

Zu dem ersten Band der gesammelten Erzählungen von W. Somerset Maugham


Als Lawson ins Hotel zurückging, fühlte er sich auf seltsame Art glücklich. Das wirre Durcheinander, in dem diese Menschen lebten, rührte ihn. In der lächelnden Gutmütigkeit von Mrs. Brevald, dem phantastischen Lebenslauf des kleinen Norwegers und den glänzenden, geheimnisvollen Augen der greisen Großmutter sah er etwas Außergewöhnliches und Fesselndes. Ihr Leben war natürlicher als alles, was ihm je begegnet war, es stand der freundlichen und fruchtbaren Erde näher.

Angeblich konnte William Somerset Maugham eine Kurzgeschichte in kürzester Zeit skizzieren und vollenden und ebenso in Windeseile Figuren erdenken und entwickeln. Im Angesicht der zehn Bände mit Kurzgeschichten, die er hinterlassen hat (zusätzlich zu seinen Romanen, Theaterstücken und allerhand Abenteuern und Lebenserfahrungen als Agent, Lebemann und Reisender), scheint dieses Gerücht nicht so weit hergeholt.

In jedem Fall war er ein filigraner, sorgfältiger Erzähler; die “Macht der Umstände” und die Tiefe und Unausweichlichkeit der Charakterzüge waren seine großen Themen; und damit die Tragik der menschlichen Existenz und der Versuch, sie zu überwinden, sich nicht unausweichlich in diese Tragik hinein zu manövrieren. Ähnlich wie bei den Figuren von Graham Greene sind seine Protagonist*innen meist Menschen mit begrenztem Horizont und auf der Suche nach dem Ausweg aus dem Dilemma ihres Daseins – ganz gleich, ob es derzeit auf einem Schiff vor Hawaii oder in der Beschaulichkeit einer Hütte auf einer karibischen Insel stattfindet. Auffällig ist dabei (zumindest in der deutschen Übersetzung), die getragene Feingliedrigkeit der Feststellungen und das minuziöse Abbilden der Gedankenbewegungen.

und der Gedanke beunruhigte ihn, er habe vielleicht in einer Sache, die sein eigenes Interesse berührte, eben dieses eigene Interesse über seine Donquichotterie den Sieg davontragen lassen.

Obwohl in ihrem Inhalt, Schauplatz und Verlauf sehr unterschiedlich, weisen seine Texte bei genauerer Ansicht oft einen geradezu klassischen Aufbau auf. Am Anfang die Einführung, dann das langsam zur Schau tretende Dilemma/Problem, die Zuspitzung der Lage/des Konflikts; in all dem geraten seine Figuren an Erkenntnisse (was immer der wichtigste Moment in einer Maugham-Erzählung ist, elektrisierend und oft sehr gekonnt in Szene gesetzt) und das Ende ist oft abrupt, jäh.

Warum sollte man Maugham lesen? Vor allem wegen seiner Beobachtungsgabe, seiner Fähigkeit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich inmitten der Gedanken der Figur bewegt, quasi umringt von ihrer Lebenswirklichkeit. Diese Lebenswirklichkeit macht seine Geschichten aus, bedingt eine Menge an luziden und starken Momenten, die zwar oft sehr deutlich auf einen Erkenntnismoment, eine klare Einstellung, hinarbeiten, aber darin doch eindrücklich sind, bestechend und auch auf furchtbare und faszinierende Weise unvermeidlich.

Ich hielt den Atem an, denn für mich gibt es nichts Ehrfurchtgebietenderes, als wenn mir jemand die Nacktheit seiner Seele offenbart. Denn keiner ist, wie man dann sieht, so trivial oder heruntergekommen, als dass nicht doch noch ein Funken von dem in ihm wäre, das unser Mitgefühl erregt.

Boom-Effekt und Luminous-Effekt – zu Leif Randts “Planet Magnon”


„In den Dekaden zuvor mussten auf jedem Planeten unzählige Wahlen stattfinden. Es wurde immerzu über Neuformulierungen gestritten, zu denen es aber oft gar nicht kam.“

Ich habe mich zunächst mitreißen lassen, mich dann ergötzt an all den schönen Facetten, bald habe ich – im Sinne des Buches, behaupte ich mal – am Sinn seiner Bewegung gezweifelt, schlussendlich bin ich unschlüssig, aber auf angenehme Art und Weise. Und auch etwas bezaubert.

Und das ist eine mehr als unzureichende Zusammenfassung meines Leseerlebnisses. Zwar würde ich nicht so weit gehen „Planet Magnon“ als literarisches Halluzinogen zu beschreiben, denn Randts Sprache tut eben gerade das nicht: sich aufblähen oder malerisch werden, vielmehr setzt sie Akzente, punktgenau, und dominiert ihre eigene Schöpfung mit fast schon problematischer Überlegenheit (worin sich aber wiederum die Problematik des Inhalts sehr gut wiederspiegelt.) Aber über weite Strecken hat mich die Erzählart des Buches sehr für sich eingenommen, ich bin geradezu hindurchgerauscht und immer wieder überrascht worden von der filigranen Glattheit der Darstellung.

Wir befinden uns in diesem Buch in einem von Menschen bewohnten Sonnensystem, die Erde ist allerdings nicht mit von der Partie, dafür 6 andere Planeten, die unterschiedlichste Bedingungen aufweisen. Seit ca. 40 Jahren werden alle Belange der Bewohner von einer Computerintelligenz namens ActualSanity (kurz AS) bearbeitet: sie verteilt das Geld, regelt Wohnraum, Müllabtransport. Sie ist kein Big Brother, sondern eine unaufdringliche, hinter den Kulissen strukturierende Instanz, die anscheinend keine eigenen Machtansprüche verfolgt – die Problematisierung der künstlichen Intelligenz ist kein Thema dieses Buches.

Einige Menschen haben sich zu friedlich miteinander konkurrierenden Kollektiven zusammengeschlossen, die alle ihre Art mit der Wirklichkeit umzugehen propagieren und eigene Techniken und Ideen für ein ideales Zusammenleben entwickelt haben. Der Protagonist ist Mitglied im Dolphin-Kollektiv, denen es vor allem um postprogrammatische, vernünftig-maßvolle und zugleich lebensbejahende Lebens- und Bewältigungskonzepte geht. Vor allem was sexuelle und romantische Beziehungen angeht, pflegen die Dolphins eine um entspannte, lose Beschaffenheit bemühte Vorstellung von Zweisamkeit.

Wir werden nicht wirklich in diese Welten eingeführt, sondern in sie hineingeworfen; über das ganze Buch verteilt und noch auf den letzten Seiten erfahren wir neue Details über die Aspekte des Lebens und Denkens in dem imaginären Kosmos; diese Art der Informationsvermittlung wirkt wunderbar ungezwungen und glaubwürdig. Überhaupt geht es ja auch nicht um die Attribute dieser neuen Schöpfung, auch wenn man merkt, dass der Autor Spaß an jedem Detail hatte (und die meisten von ihnen tragen nicht nur zur Atmosphäre, sondern auch zu Verdichtung des Konfliktes bei.)

Der Konflikt materialisiert sich zunächst sehr still, in kleineren Momenten des Unbehagens, der Verlockungen, des abwegigen Gedankens, in den Reflektionen der Hauptfigur. Doch schon bald macht ein neues Kollektiv von sich reden: das Kollektiv der gebrochenen Herzen. Wie soll man deren neuem Konzept umgehen, wo es doch die Ordnung gefährdet. Aber steckt nicht etwas zutiefst Wichtiges in der Idee ihres Konzepts? Oder nur etwas zutiefst Gefährliches?

Es geht also nicht um Science-Fiction, nicht nur, es geht um die Frage nach der menschlichen Utopie. Was wäre, wenn wir schon da wären, wo wir hingelangen wollen? Was bliebe dann noch, was bleibt dann noch zu sagen, zu tun? Diese Frage ist natürlich schon in unzähligen Geschichten verhandelt worden, die sich thematisch vom profanen Eheleben bis zu den großen Anti-Bewegungen in der modernen Kunst erstrecken, in ihrem Feld war der Groschenroman tätig, aber auch die Odyssee. Es sind ja gerade die epischen Geschichten, die dieses Problem ausklammern, denn in ihnen gibt es immer ein fernes/schwieriges Ziel, das noch erreicht werden muss, sei es der Frieden in der Galaxis oder in Mittelerde, die Rettung der Welt oder der Kampf mit einer übermächtigen Macht.

Randts Roman stellt sich stattdessen der Problematik, und bricht sie in Facetten auf. Dieses Aufbrechen ist wichtig, denn so gerät sein Roman nicht zum Plädoyer oder wird bloßes Anschauungsmaterial, sondern bleibt ein Roman, der auch immer das Ausloten einer individuellen Figur sein kann und im Fall von „Planet Magnon“ auch ist.

Ein Buch, das einen eine Weile beschäftigen wird, intelligent, subversiv, sprachlich vielleicht etwas zu beherrscht, aber darin auch konsequent, gekonnt. Irgendwie ist es wie ein Urknall und gleichsam nur wie ein sanftes Nachglühen, ein Spannungsraum, in dem Unerhebliches und Essentielles herumschwirren und immer wieder zusammenstoßen, funkenschlagend, zischend.

Zu Taha Muhammad Ali’s Gedichten in “An den Ufern der Dunkelheit”


an-den-ufern-der-dunkelheit„Fliegen unter dem Gewicht der Trauer/ Hoffen innerhalb des abgerissenen Traums“ (Adam Zagajewski)

“Und der Horizont,
dieses über Sand und Tränen
Fest geschlossene Augenlid –
Was hinterließ er,
Was versprach er dir?”

“Wer liest, der wird lernen, dass es nicht einfach nur “Gut” und “Böse” gibt. Und noch schlimmer: Er wird begreifen, dass das Böse oft eine Form von Vergangenheit, das Gute zunächst die Hoffnug auf eine zukünftige Form ist.”
Dieses Zitat von Malraux weist auf eine der der zentralen Problematiken hin, mit denen sich unsere Generation und die heutige Welt auseinandersetzen müssen: dem Erbe des 20. Jahrhunderts, diesem nahen und doch gleichsam fernen Zeitalter, das vor scheinbaren Gewinnern und tatsächlichen Verlierern nur so wimmelte und in dem unzählige Konflikte angefacht wurden, sodass das ganze Ausmaß des Brandes auch heute noch, auch in der westlichen Welt (der einzigen, für die das 21. Jahrhundert wirklich schon begonnen hat) nicht sichtbar geworden ist, medienpräsent in den Hintergrund gerückt, zugeschnittendurch die Scheren der Brisanz und der verschiedenen Interessen.

Von all den Schauplätzen, an denen im letzten Jahrhundert tiefgreifende Konflikte aufkamen, ist der mittlere Osten bis heute derjenige, der, zumindest in den westlichen Medien, am häufigsten und stärksten in den Fokus gerückt wird. Das Problem des Staates Israel ist dabei von besonderer Sprengkraft und beschäftigt die Gemüter seit dessen Gründung im Jahre 1948. Dieses Problem hat viele verschiedene Stufen und Metamorphosen durchlaufen und besitzt mittlerweile so viele Aspekte, dass oft die andauernden Katastrophe hinter dem ewigen Tauziehen um Gebiete und Geltungsrechte, völlig ausgeblendet werden. Und mit Katastrophe meine ich nicht zentral die Opfer der immer wieder auftretenden Kämpfe, sondern die Opfer der Zustände, die seit über 60 Jahren in dieser Region herrschen.

“Allabendlich lagert sich in der Brust
Wie Geröll ein Gefühl von Finsternis ab,
Eine Empfindung von Schwärze,
Eine Schwärze, die den Weg versperrt wie eine Wand.
[…]
Ich kann das Unglück der Sonnenuhr vernehmen
Wenn ihre Zeiger schrumpfen wie Schiffe
Ohne Häfen
[…]
Wie die Augen der Kinder
Träume ich
Von Straßen und Wäldern
Die Hügel und Jahreszeiten bedecken
Und die Gärten der Stunden überschreiten,
Um nach Belieben in einen Raum
Aus Sternen und Ähren einzutauchen,
Wo der Abend mir zulächelt,
Sich zu mir hinbeugt, mich tröstet,
Wie der liebste Großvater.”

Es wäre eine Verfremdung und unsinnige Überhöhung, wenn man sagen würde, dass Taha Muhammad Ali dem Schicksal eines ganzen Volkes eine Stimme verleiht, denn es würde ihn vom großen Dichter, der er ist, zur bloßen Galionsfigur degradieren. Ein Dichter, wie leidenschaftlicher er auch für etwas kämpft, schafft mit seinen Gedichten zwar die Möglichkeit, dass sich die darin enthaltene Stimme ausbreitet, aber es kann nicht sein erste Intention sein, denn er muss stets von sich selbst ausgehen, von dem einen kleinen Punkt seiner eigenen Empfindung. Doch am einzelnen Ich, da hatte Max Frisch Recht, erklärt und zeigt sich oft das Schicksal von vielen. Das ist die Wesenheit, die Kunst ausmacht, aus dem Großen und Ganzen eine Gestalt zu machen, die nicht wieder ins Große und Ganze eingehen kann, die sich als individuelle und zugleich übergreifende Erfahrung behauptet.

“Sein Menschenrecht ein Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean”

Erst einmal: Sehnsucht, tief hinuntergeschluckt; dann, gleichsam klamm und nur als Stimmung: die Berührung einer warmen Welt, die Andeutung von Orient, Dörflichkeit, Schattenwärme und Sternennacht, mit Spuren von alten Namen und da sind Farben von dunklem Ruf, großer Schönheit und tiefem Sinn – doch davor: Der Schleier des Gefangenseins, des Verharrens in einer Trauerarbeit, durch den nur die Ahnungen und Erinnerungen zu dringen vermögen. Eine düstere Vision, die einen nicht loslässt, die jeden Punkt zuschüttet, an dem man nach dem Grundwasser des Lebens gräbt.

So begegneten mir die Gedichte von Muhammad Ali. Keine scharfen, platzierten Windungen, kein direktes Ziel in ihrem Zeilenfluss; die ganzen Worte ausgerichtet auf ein Einfachheit, das Erzählen, die Botschaft der Zeilen – und: das Abwarten. Das Abwarten, welches man überwinden, das man erklären will, damit es verschwindet. Das man mit Hoffnung überstrahlen, das man mit dumpfer Wut in einen großen Kosmos verzahnen will.

“Ich werde fortbestehen
als ein Fleck Blut
von der Größe einer Wolke
auf der weißen Weste der Welt”

Doch am meisten fällt auf: Größe. Ich weiß, das klingt ein wenig klotzig und man könnte meinen sie ist eh ein häufiges Merkmal von Dichtung. Ich habe sie auch erwartet (wobei einen Größe in der Dichtung immer wieder, unentwegt, zu überraschen weiß – da gibt es keine Gewöhnung). Aber trotzdem ist die Größe in Alis Gedichten doch überwältigend, denn sie erwächst, wie bereits erwähnt, aus einer Schlichtheit, die sich noch hier und da mit gewöhnlichen, sogar sachlichen Emotionen paart – und doch im Kern ihre Fläche, ihr Seelenmaß nie verkleinert. Jeder gelungene Vers flutet die innere Fülle des Gedichts.

“Ich höre nicht auf zu mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.”

“Jetzt aber
Ist das Brot meiner Angst
Zur Neige gegangen
Und der Wein meiner Trauer
Sprudelt aus allen Quellen.”

Natürlich spielen Wut und Trauer in diesem Buch eine wichtige Rolle. Wie auch soll man sein Schicksal vergessen oder abhaken, wenn man ihm nicht entfliehen kann? Es geht in diesen Versen nicht darum, ob Wut oder Trauer die Oberhand gewinnen, sondern ob es jenseits von Trauer und Wut noch etwas anderes gibt. Danach suchen diese Gedichte, das ist ihr Thema, ihre innerste Wesenheit. Einige gehen sicherlich auch in die Untiefen der oben erwähnten Emotionen, aber eigentlich bleibt auch da ihre Suche eine Suche nach Gefühlen und Hoffnungen jenseits dieser Gründe, auf denen ihr Schicksal erbaut und festgeschweißt ist.

Ein schwieriges Unterfangen und in der Realität noch nicht einmal wirklich begonnen. Aber gerade deswegen musste es vielleicht in der Lyrik geschehen, der Form der Literatur, die am freisten ist und doch meisten nach einer inneren Notwendigkeit verlangt – denn auch das sind diese Gedichte: notwendiger Ausdruck, ja, die Verkörperung eines Exils, das ein Zuhause kennt, aber nur ein Zuhause der Vergangenheit und eine immer wieder bedrohliche Gegenwart. Die Auseinandersetzung mit einer solchen Lebensart kann sehr profan sein; in den Gedichten von Muhammad Ali beschreitet sie einen ungeheuer geraden, tiefen und anspruchsvollen Pfad, der schließlich immer wieder an Ufern der Dunkelheit endet. Doch unser aller Weg endet an diesen Ufern und genauso wie bei uns selbst, zählt auch bei diesen Gedichten der Weg dorthin, der die Ausdrücke kennt, die sich der Tod nicht ausmalen kann und die das Leben ausmachen: Ausdrücke der Sehnsucht, der Freude, der Freiheit, der Geborgenheit, des Glücks, der Liebe, der Angst, des Zorns, der Namen für die Dinge der Seele.

“Nach unserem Tod,
wenn das müde Herz
Zum letzten Mal seine Lider verschließt
Vor allem, was wir taten,
Vor allem, was wir wünschten,
Vor allem, was wir träumten
Und begehrten
Oder fühlten –
Wird der Hass das Erste sein,
Was in uns
Verfault”