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Kritik der Begriffskraft in Klimadiskursen


Klima, Sprache, Moral

„Um von den Fakten zu konkreten Handlungszielen zu gelangen, bedarf es eines großen Schrittes. Über diesen Schritt wird verhältnismäßig wenig gesprochen – und zu diesem Schritt hat die Philosophie einiges zu sagen.“

Dass der Klimawandel zu den großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört, ist zwar nicht unbestritten, aber mehr als ausreichend beglaubigt. An diesem Faktum will auch Johannes Müller-Salo nicht rütteln, wenn er in seinem Buch „Klima, Sprache und Moral“ einige Fallstricke und Problematiken in den heutigen Klima-Diskursen aufzeigt.

Ihm geht es nicht darum, die Bewegungen für den Klimaschutz in Verruf zu bringen – aber er will deutlich machen, dass dieses Thema ein Schlachtfeld ist, auf dem es vor allem auf eine Waffe ankommt: die Sprache. Narrative und Begriffe vermögen es, Menschen zu überzeugen und zu motivieren. Fakten und Zahlen sind schön und gut und wichtig, aber ohne eine Erzählung, ohne die richtige Sprache, ziehen nicht genug Menschen mit.

Und so fühlt Müller-Salo der Sprache der Klimadiskurse, mit ihren Leitgedanken und zentralen Aussagen, auf den Zahn, analysiert Begriffe wie Klimanotstand, Zukunftsraub und Natur, auf sprachlicher und auf moralischer Ebene. Sein Fazit lautet, in vielerlei Hinsicht: so gut gemeint viele Schlagworte & Wendungen auch erscheinen, wie oft sie auch ins Feld geführt werden, wie sehr sie Dinge auf den Punkt zu bringen scheinen (als Beispiel: „Wir haben die Erde nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“), philosophisch gesehen sind sie alles andere als wasserdicht, voller sprachlicher und moralischer Untiefen, Fragwürdigkeiten.

Natürlich ist der Klimawandel nicht die erste Krise, bei der mehr mit Emotionen als mit Konkretionen, mehr mit großspurigen Ansagen als mit filigranen Überlegungen gearbeitet wird. Müller-Salo pocht auf die Philosophie, sieht sie (und beruft sich dabei auf Wittgenstein) „als Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Das kann sie ohne Zweifel sein und seine Darlegungen sind in dieser Hinsicht hilfreich, geben zu denken.

Die Frage ist, ob eine solche philosophische Kritik in irgendeiner Form Chance auf Gehör hat, in einer Welt, deren mediale Öffentlichkeit von schnelllebigen Sprüchen, liebgewonnenen Vorstellungen und komplexen Abhängigkeiten bestimmt wird. Oder vielleicht ist das nicht die Frage. Eher: Wie gelangt man von den Fakten, die unbestreitbar sind, zu Zielen, die überzeugen und gut umzusetzen sind? Hier hat die Philosophie einiges anzumerken, allerdings, in diesem Buch, mehr über das „so nicht“ als über das „so“.

Zu “Das Duell” von Volker Weidermann


Das Duell Die Geschichte vieler Autor*innenbiographien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist mit seinem Namen verwoben, manchmal nur in ein-zwei Fädchen, manchmal elementar: Marcel Reich-Ranicki, Kritikerpapst, Chef des literarischen Quartetts, selbsternannter Kanon-Verwalter, Urteilssprecher über die deutsche Literatur von einst bis in die Gegenwart. Mit einem Autor hat er sich ganz besonders gebalgt, hat viele seiner Bücher verrissen und doch unermüdlich den Glauben an sein Talent beteuert: Günter Grass.

Ich war sehr erpicht darauf, dieses Buch von Volker Weidermann zu lesen: gab es da noch unerzählte pikante Details, konnte die Beziehung zwischen den beiden denn sonst überhaupt genug Material für ein ganzes Buch liefern? Meine Hoffnung auf Enthüllungen wurde jedoch größtenteils enttäuscht, denn das Buch ist, was die Beziehung Grass-Reich-Ranicki betrifft, mehr ein Revue-passieren-Lassen der bekanntesten Geschichten und Zerwürfnisse, ergänzt um die Kenntnis und Erkenntnisse aus Briefverkehr und Aufzeichnungen aller Art, die jedoch zumeist nichts Spektakuläres an sich haben.

Dass das Buch dennoch sehr lesenswert ist liegt zum einen daran, dass es gut geschrieben ist, mit dem gerade richtigen, noch nicht überzogenen Gespür für Spannung und Dramatik, die Weidermann an den richtigen Stellen einstreut, als hätte noch niemand vor ihm diese Geschichte erzählt. Zum anderen ist das Buch gelungen, weil letztlich tatsächlich niemand die Geschichte der beiden Größen in der deutschen Nachkriegsliteratur so erzählt hat, wie Weidermann es tut.

Statt sich nämlich nur und von Anfang an auf die konkreten Überschneidungen und Berührungspunkte zu konzentrieren, ist das Buch eine Doppelbiographie vor dem Panorama einer Zeit, eines Jahrhunderts, das beide Protagonisten prägte (und das sie prägten, sowie sich gegenseitig). Die ersten hundertdreißig Seiten werden ihre Lebenswege getrennt voneinander und in unterschiedlichen Kapiteln geschildert: Grass Jugend in Danzig, Kriegszeit, Soldatenzeit, dann Anfänge als Schriftsteller – Reich-Ranickis Jugend in Polen und Berlin, dann Krieg, Warschauer Ghetto, Flucht und Überleben in einem Keller, Intermezzo beim polnischen Geheimdienst und später Rückkehr nach Deutschland, Anfänge als Kritiker.

Erst mit dem ersten Zusammentreffen führt Weidermann die Stränge zusammen und erzählt von da an ihre jeweiligen Lebensgeschichten nebeneinander, immer auch vor dem Hintergrund ihres Verhältnisses zueinander. Natürlich ist das eine kluge Entscheidung, denn in beiden Fällen ist die biographische Vorgeschichte wichtig für das Verständnis der Persönlichkeit, ihres Schaffens und ihrer jeweiligen wunden Punkte, liefert das Dekor für den Raum, in dem sich viele zentrale Szenen abspielen werden.

Der Titel allerdings erscheint dadurch zunächst etwas reißerisch und klingt auch am Ende noch etwas überzogen (in meinen Ohren – obgleich ich verstehe, warum er seine Berechtigung hat). Meiner Ansicht nach beschreibt der Untertitel des Buches viel besser, worum es vor allem geht: nicht um das Freund-Feind-Verhältnis und die Frage nach dem Sieger des Duells, beides sorgt lediglich dann und wann für die Ausschläge auf dem Spannungsbarometer, sondern um die beiden Persönlichkeiten.

Zu kurz kommt ihre affaire compliquée, ihre nicht zu scheidende Ehe dennoch nicht. Jedoch sollte jedem/r potenziellen Lesenden klar sein, dass es sich bei diesem Buch nicht vorrangig um einen Bericht über literarischen Klatsch handelt (auch wenn er durchaus vorkommt) , auch nicht um einen bestechenden literaturhistorischen Essay, der Werke und Meinungen unmittelbar ins Visier nimmt und/oder ausführlich kommentiert (vielmehr bezieht Weidermann sehr dezent, dafür umso souveräner, Stellung zu einzelnen Ereignissen, Disputen). Sondern eine Doppelbiographie, die sich im zweiten Teil auf eine besondere Verflechtung konzentriert.

Wer ein gut lesbares Stück deutscher Literaturgeschichte erwartet, mit Fokus auf die Biographie der beiden Figuren, wird nicht enttäuscht werden. „Das Duell“ ist gut geschrieben, mitunter hat es etwas Mitreißendes, geschickt abgeschöpft, Längen hat es eher nicht.

Zu Tim Parks Essayband “Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen”


Worüber wir sprechen, wenn wir von Büchern sprechen Tim Parks erklärtes Ziel, wie es sich in den verschiedenen Themen dieser Essaysammlung manifestiert, ist es, alle zu selbstverständlichen und dar ob wunden Punkte in unserem heutigen Verständnis von Literatur und Büchern zu finden und an ihnen zu rühren, sie auszustellen und umzukrempeln.

In „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ geht es nicht primär, wie sonst oft, um die heilsamen Wirkungen, faszinierenden Erlebnisse und relevanten Funktionen der Literatur, sondern um ihre (starren) Glaubenskonzepte, ihre Schwächen und Abhängigkeiten. Und auch wenn Parks als Romanautor, Essayist, Creative-Wrtiting-Lehrer und Übersetzer (auch hier lehrend) sich natürlich nie ganz von den Ideen der Literatur distanziert, hier stellt er sie doch einmal gnadenlos auf den Prüfstand.

Schon die Eingangssequenz fragt „Brauchen wir Geschichten?“ und führt uns alle so hochgerühmten Ideen der Literatur als Schemen und Hörensagen vor, konfrontiert uns mit den Hohlräumen und Leerstellen in ihrem so klar und richtig erscheinenden Selbstverständnis.

Im weiteren Verlauf wird aus dieser grundsätzlichen Hinterfragung ein Netz aus vielfältigen Ansätzen, die meist das Fragwürdige in verschiedenen literarischen Disziplinen und Institutionen, aber auch und vor allem in Entwicklungen, herauskehren. So setzt sich Parks etwa mit der Globalisierung des Buchgeschäfts auseinander (das für ihn als englischsprachigen Autor viel Raum bereithält) und er beschreibt wie viele Romanautor*innen heute zwischen regionalen und weltliterarischen Themen/Ansätzen hin und her geworfen sind, wie die moderne Literatur gefahrläuft omnipräsent, aber dafür gleichförmig und unspezifisch zu werden.

Spannender hingegen als dieses schon etwas geläufigere, durchaus breit rezipierte Problem sind seine unnachgiebige Kritik an Literaturpreisen und seine vielen kleineren Überlegungen zum literarischen Verfahren und der Stellung von Sprache im Verhältnis zur modernen Gesellschaft. So schreibt er an einer Stelle:

„Wir haben es also heutzutage mit dem Hang zu tun, das Handeln durch das Katalogisieren und Dokumentieren zu ersetzen, eine Illusion (oder Simulation) verantwortlichen Handelns zu erzeugen, indem wir die sogenannte Arbeit, die dem verantwortlichen Handeln vorausgeht und – in den seltenen Fällen, in denen ein solches Handeln noch stattfindet – auf es folgt, endlos vermehren.“

Er führt im Anschluss aus, dass Literatur sich lange Zeit als Widerpart der Bürokratie inszeniert/gesehen hat, sprachlich wie auch inhaltlich. Aber ist sie dies noch oder war sie es je? Ist sie nicht stets vom Kampf gegen diese Verkürzung und Festschreibung selbst in die Eitelkeit der Verkürzung und Festschreibung verrutscht (und nur durch die Brechung der Ironie gesehen, steht sie heute noch abseits davon)?

Und führt die Dokumentation des Leids, wie sie ein Großteil der Romanliteratur betreibt, oder die Ironie, die längst von einem Mittel zum Zweck zu einem reinen Zweck verkommen zu sein scheint, irgendwohin? Gäbe es andere Ansätze, denen zu folgen sich lohnen würde?

Parks umkreist diese Fragen, bringt sowohl eigene Überlegungen als auch eine ganze Reihe von Beispielen aus dem angelsächsischen Literaturkosmos mit ein (einige wiederkehrende Autor*innen sind Samuel Beckett, Henry Green, Thomas Hardy und William Faulkner). Seine Haltung ist immer skeptisch, trotzdem merkt man durchaus, dass er selbst sich auch dann nicht von der Literatur lösen könnte, wenn seine polemischen Hiebe tatsächlich Erfolg hätten. Wie Thomas Hettche in „Unsere leeren Herzen“ sucht Parks nicht einfach nur eine originelle Position, nicht nur Schwachstellen, mit deren Entdeckung er sich profilieren kann, sondern auch nach Erkenntnissen hinter diesen Schwachstellen.

„Ist jede »locution« (Beschreibung) zwangsläufig auch »circumlocution« (Umschreibung, Umschweif), wie Beckett glaubte, und wird der Westen sich womöglich langsam und genüsslich selbst die Luft abdrücken und unter einem Haufen von Akten ersticken, während er sich zu Tode unterhalten lässt von einem Berg an Literatur, die diesen skandalösen Vorgang beschreibt und auf bestechende Art und Weise vermittelt?“

Manches Thema wird von Parks etwas zu einseitig betrachtet und seine Ausführungen lassen sich hier und dort leicht abschütteln. Seine Grundsorgen und -überlegungen sind aber oft erstaunlich bestechend. Statt groß zu polemisieren und zu behaupten, zu prophezeien oder glanzvoll zu akzentuieren, nimmt er die derzeitige Buchkultur Stück für Stück auseinander und betrachtet ihr Innenleben. Ihm geht es dabei nicht um die Demontage, sondern um die Frage: wie funktioniert das alles? Funktioniert es wirklich? Könnte es auch anders funktionieren?

Zu Jessa Crispins “Warum ich keine Feministin bin”


warum ich keine feministin bin „Ich kann mich keinem Feminismus verbunden fühlen, der sich gedankenlos auf »Selbstermächtigung« fixiert, ohne die Unternehmenskultur restlos zerstören zu wollen, einem Feminismus, dem es genügt, für einen hohen Prozentsatz an weiblichen Vorstandsvorsitzenden und Militäroffizieren zu sorgen, aber weder intensives Nachdenken noch Unannehmlichkeiten oder echte Veränderungen verlangt. […] Wenn ich mich nicht als Feministin bezeichnen darf, ohne versichern zu müssen, dass ich weder wütend bin noch eine Bedrohung darstelle, dann ist dieser Feminismus ganz bestimmt nichts für mich.“

Jessa Crispins Buch wartet schon im Titel mit einem Widerspruch auf: „Warum ich keine Feministin bin – ein feministisches Manifest“. Dieser Widerspruch ist natürlich ein kalkulierter, der signalisieren soll: ich kritisiere zwar die Bewegung, aber ich bin keine Nestbeschmutzerin, keine Abweichlerin, mir liegt die Sache an sich schon am Herzen. Der Titel suggeriert außerdem, dass Crispin es u.a. auf Begrifflichkeiten abgesehen hat, vor allem den Begriffskomplex „Feminismus/Feministin“.

Gibt es den „einen“ Feminismus? Selbstverständlich nicht. Das ist einer von Crispings Hauptkritikpunkten: dass ihrer Ansicht nach viel zu viel Zeit damit vergeudet wird, die Grenzen dessen zu definieren, was feministisch ist, wer sich als Feministin bezeichnen darf und wer nicht. Gleichzeitig sieht sie den Feminismus als unbequeme, konstruktive, progressive Bewegung bedroht. Er wird ihrer Meinung nach aufgeweicht von allzu hipp-braven Vorstellungen, teilweise entkernt durch eine Kommerzialisierung, die ihn letztlich entradikalisiert.

Die Gefahr, so meint sie, ist, dass eine Welt entsteht, in der das Patriachat nicht abgeschafft, sondern lediglich infiltriert wird. Es wird nicht mehr das System dekonstruiert und attakiert, stattdessen werden lediglich Freiräume innerhalb des Systems geschaffen. So entsteht ihrer Meinung nach eine Welt

in der das Konzept der persönlichen Entscheidungsfreiheit den Versuch ersetzt, begreifen zu wollen, unter welchem Druck Frauen politisch und sozial stehen. […] wir müssen aufhören, Wertschätzung seitens des Patriachats zu erwarten. Wir müssen uns vielmehr eingestehen, dass Erfolge innerhalb dieses Systems verdächtig sind.

Crispin will ein Ende des Systems. Die große Schwäche ihres Buches ist, dass sie neben vielen Kritikpunkten an einigen derzeitigen feministischen Debatten und Weltanschauungen (und den Atmosphären in diesen), kaum Möglichkeiten präsentiert, wie solch ein Ende vonstattengehen soll. Ihr Buch diagnostiziert aggressiv – teilweise, finde ich, mit schiefen Vergleichen und etwas vereinfachten, teilweise pauschalen Urteilen – aber sobald es um Mittel und Wege geht, gleicht ihr Schreiben plötzlich einem pathetischen Aufruf, einem nebulösen Appell an Altruismus und Gemeinsamkeiten.

Der Fokus verschiebt sich weg von der Gesellschaft hin zum Individuum […] Ich glaube, dass das Ziel der meisten immer schon die Teilhabe am System war, nicht dessen Zerstörung.

Wobei sie ja nicht ganz Unrecht hat: das Individuum wird in den westlichen Gesellschaften derzeit so hoch im Kurs geführt, dass manche gesellschaftlichen Gefüge dadurch einer Zerreisprobe nah sind; ob das gut oder schlecht, wichtig und notwendig oder übertrieben und vermeidbar ist, kann man diskutieren. Aber es ist definitiv kein Problem, dass man einfach dem Feminismus überstreifen kann.

Generell scheint Crispin den Feminismus einerseits an seine Wurzeln erinnern zu wollen (sie kritisiert u.a. die häufig in feministischen Diskursen der dritten Welle auftretende Verdammung radikaler Autorinnen und Aktivistinnen, wie bspw. Andrea Dworkin oder Kate Millett, von deren Werken man sich distanziert oder die man für fehlgeleitet erklärt), andererseits will sie ihn zu einer universellen Bewegung machen, an deren Ende eine bessere Gesellschaft steht. Beide Ansätze haben Potenzial und könnten in einer umfassenden Studie vielleicht sogar verknüpft werden. Hier stehen sie etwas disparat.

Das Zeitalter der Dominanz muss durch ein Zeitalter der Kooperation, nicht der Spaltung abgelöst werden. Das ist nur möglich, wenn wir mit einem Gespür für die uns gemeinsamen Verpflichtungen aufeinander zugehen, nicht mit überzogenen Vorstellungen davon, was uns zusteht.

Gemeinsam und tatkräftig – so könnte man Crispins Vision zusammenfassen. Sie will keine Etappensiege, bei denen auf der einen Seite ein Sexist im Licht der Öffentlichkeit deklassiert oder auf der anderen Seite eine Frau Präsidentin wird, sie will keinen Wettkampf, sondern ein Ende des Wettkampfs. Eine Revolution, nach der alle zusammenfinden und nicht einfach nur neue Anführer*innen gewählt werden.

Während diese Vision universell ist, hatte ich zumindest den Eindruck, dass einige ihrer Kritikpunkte nicht auf der Höhe der Zeit sind (zumindest nicht in Europa, vielleicht ist der amerikanische Diskurs ein bisschen anders). Bspw. wenn sie schreibt:

Nie war der Druck so groß, ein ganzes Leben sexuell verfügbar zu bleiben. Weibliche Prominente, die ihr Figur halten und nach vielen Jahren immer noch heiß aussehen, werden als feministische Role Models gepriesen.

Ich maße mir nicht an zu glauben, dass ich weiß, wie sehr ein solcher Druck auf Frauen in heutigen europäischen Gesellschaften lastet und sicher sind Body-Shaming, Körperkult und die als Obsession suggerierte und als großer Glückshort verehrte unbedingte Fixierung auf Sexualität weiterhin problematische Züge in unseren gesellschaftlichen und kulturellen System und Konstrukten.

Aber ich habe bei den Begegnungen und Diskussionen in meinem Freund*innenkreis (und darüber hinaus) schon das Gefühl, dass viele dieser Mechanismen zwar längst nicht überwunden sind, aber durchaus durchschaut werden von vielen Menschen, auch denen, die nicht mit beiden Beinen auf feministischen (oder feministisch inspirierten) Standpunkten stehen. Bei einigen Punkten bin ich dagegen sicher, dass die meisten Feminist*innen sich dieser Problematiken durchaus bewusst sind. Beispiel:

Will man eine geeinigte feministische Front aufbauen, ist auch Folgendes Teil des Problems: Im Allgemeinen ist die Durchschnittsfeministin eine gebildete weiße Frau aus der Mittelschicht.

Ich glaube nicht, dass sich die Problematiken, die Crispin anspricht, eins zu eins auf europäische Verhältnisse übertragen lassen; andererseits kann ihr Buch nicht ganz als „amerikanisches Problem“ abgestempelt werden. Mit einigen Kritikpunkten stellt sie sich klar gegen – von ihr als virulent empfundene – Phänomene und Erscheinungen in vielen feministischen Bewegungen, zum Beispiel gegen das Gerede über alte weiße Männer:

Wenn wir jemanden abqualifizieren, weil er ein weißer alter Mann ist, sinken wir auf das Niveau von Ideologen. Wenn dieser weiße männliche Sündenbock gleichbedeutend wird mit langweilig, privilegiert und mittelmäßig, denken wir nicht mehr nach, sondern wiederholen nur noch Stereotype.

Ein Denken, das sich langsam aber sicher Scheuklappen überstülpt, so charakterisiert Crispin die Dynamiken in derzeitigen feministischen Diskursen und Zielen. Sie macht es sich an vielen Stellen etwas zu einfach und hüpft manchmal von einem Thema ins andere, argumentiert nicht immer schlüssig und stringent. Ihre Ansprüche sind groß, ihre Beobachtungen teilweise unpopulär und interessant, teilweise vorschnell und bedenklich. Und manchmal alles auf einmal:

Mit den Behinderungen, Diskriminierungen und Diffamierungen, der Gewalt und dem Schmerz, den wir erfahren haben, rechtfertigen wir, dass wir uns jetzt nehmen, was wir wollen, ohne je zu hinterfragen, warum wir es wollen.

Als kritischer Kommentar zu feministischen Diskursen ist dieses Buch sicherlich keine schlechte Lektüre, sofern man die Thesen nicht einfach schluckt, sondern hinterfragt, ja sogar dekonstruiert und/oder auf die Füße stellt. Crispins Kritik an der Kommerzialisierung, Verharmlosung und Vereinfachung feministischer Ziele ist nicht ganz unberechtigt (wobei nicht der Feminismus an sich, sondern lediglich einige Feminist*innen von dieser Kritik betroffen sind).

Vieles andere biegt sie sich zurecht. Ihr Buch ist eben kein Manifest, sondern ein Sammelsurium, eine Polemik, ein Katalog von Sachen, die sie immer schon mal sagen/kommentieren wollte, egal, ob das nun unter einen Hut passt oder nicht. Das nervt teilweise.

Es sollte noch erwähnt werden, dass sich ihr Buch vor allem an Frauen richtet. Männer, so meint sie, sollten sich um ihre eigenen Probleme kümmern und Frauen sollten sich nicht den Kopf über Männer zerbrechen, sich an ihnen abarbeiten, sondern ihre einzigartige Position und Rolle nutzen.

Heute befinden sich Frauen in einer einzigartigen Position. Wir sind halb drin. Wir befinden uns auf beiden Seiten der Dynamik zwischen Mächtigen und Machtlosen. Eigentlich müsste es ganz einfach sein, dieses Mistding zu zerstören, wenn wir nur an beiden Seiten kräftig ziehen.

Zu dem Band “Suchers Welt – Literatur, 49 leidenschaftliche Empfehlungen”


Suchers Welt, Literatur Ich frage mich, ob es noch andere Leute gibt, die diese Art von Empfehlungsbüchern in großer Anzahl kaufen und lesen; ich jedenfalls habe ein Faible dafür. Vielleicht, weil ich Begeisterung mag, vielleicht, weil man in jedem dieser Bücher mindestens eine Entdeckung macht (sonst taugen sie nichts) oder vielleicht, weil sie einem immer wieder längst bekannte Werke nahelegen; manchmal so überzeugend, dass man sie direkt im Anschluss zur Hand nehmen will.

C. Bernd Suchers neunundvierzig Empfehlungen beherbergen allerhand Bekanntes, viel Erfreuliches und ein paar ungewöhnliche (und mitunter ebenfalls erfreuliche) Spezialitäten. Die Texte zu den einzelnen Büchern füllen 3-4 Seiten und haben leicht unterschiedliche Gewichtungen (auch je nachdem, welches Genre der Text hat), verlaufen dennoch meist auf ähnliche Weise.

Zu Anfang erzählt Sucher in der Regel, wie er mit dem Buch oder dem Autor in Berührung kam, gibt eine kurze Auskunft über den Inhalt und/oder den Verfasser. Im weiteren Verlauf schildert er dann, was er aus dem Buch für Erkenntnisse gewonnen hat, zitiert und verknüpft es nicht selten mit seiner eigenen Entwicklung. Leidenschaftlich sind diese Empfehlungen tatsächlich, dennoch auch behutsam und filigran, manchmal etwas beliebig, aber mit einem Zug zum Wesentlichen.

Ärgerlich ist allerdings eine Bemerkung aus dem Vorwort: „Dass unter den 49 nur zwei Autorinnen sind, beweist keineswegs eine misogyne Haltung. Allein, ich kann mit vielen, vor allem zeitgenössischen Autorinnen nicht allzu viel anfangen. Da ich aber nicht den Ehrgeiz habe, politisch korrekt zu lavieren, sondern wirklich nur jene Bücher nennen möchte, die ich auf jede unbewohnte Insel mitnehmen würde, sind eben nur die zwei geblieben.“

Diese halbseidene Rechtfertigung hätte mir fast das ganze Buch vermiest. Entweder man hinterfragt als Autor(*in) eines solchen Buches seine Lesegewohnheiten und handelt entsprechend oder man lässt es bleiben und setzt sich der rechtmäßigen Kritik an seiner Sammlung aus. Sich aber präventiv dazu zu äußern und so zu tun, als würden sämtliche Vorwürfe von vorneherein nicht zutreffen (weil: eh bemerkt, aber halt Geschmack, etc., da kann man nichts machen), das wirkt etwas armselig.

Auch an anderen Stellen beweist Sucher wenig Taktgefühl, zum Beispiel, wenn er das teilweise erniedrigende Frauenbild in James Joyce‘ „Ulysses“ schlicht zum Bereich der notwendigen Grenzüberschreitungen zählt, es zum Tabubruch stilisiert. „Ulysses“ ist in vielerlei Hinsicht ein tolles, innovatives Werk und Sucher schafft es, viele Vorzüge gut herauszuarbeiten. Aber man sollte auch als begeisterter Freund eines Werkes, nicht blind für dessen Fehler und Zeitgeisterscheinungen sein oder sie retuschieren, wegerklären.

Auf jeden Fall sollte man derlei nicht in Nebenbemerkungen verhandeln, sondern umfassender Stellung zu den Themen beziehen oder es gleich bleiben lassen. Es wirkt sonst, als wäre das ganze Thema für den Autor nur eine Lappalie, was ich nicht glaube. In seinem Text zu „Malina“ setzt sich Sucher jedenfalls sehr viel genauer und sensibler mit dem Stoff auseinander und weist vortrefflich nach, warum „Malina“ auch ein Buch über die Gewalt ist, die Männer an Frauen verüben. Solcherlei versöhnt, macht die anderen Schnitzer aber nicht wett.

Man kann in diesem Buch viele Entdeckungen machen und wer eine breite Palette erwartet, wird nicht enttäuscht werden. Es finden sich zwar keine Werke jüngeren Datums (nach 1970), aber die Spannweite ist ansonsten groß und reicht von Dantes „Die göttliche Komödie“ über Hans Henny Jahnns „Perrudja“ bis zu Pasolinis „Raggazi di vita“.

Überhaupt sei das Buch besonders denen ans Herz gelegt, die sich für Literatur interessieren, die homosexuelle Aspekte und Geschichten beinhaltet und behandelt – hier präsentiert Sucher ein paar wunderbare Beispiele und wagt sich unter anderem an eine Auseinandersetzung mit Shakespeares Sonetten.

Gedanken zur Eröffnungsrede von Thomas Kunst beim Lyrikpreis Meran und zur deutschen Lyrikszene


 

Publiziert wurde mein kurzer Essay beim Signaturen-Magazin (dort auch ein Verweis auf die Original-Rede).

Zu Joan Didions Essays in “Sentimentale Reisen”


Sentimentale Reisen Joan Didion ist neben Susan Sontag wohl die bekannteste amerikanische Essayistin des 20. Jahrhunderts. Oft ist sogar von einem besonderen Didion-Stil die Rede, dessen Abklatsche sich in vielen amerikanischen und europäischen Zeitungsbeilagen, Blogs und anderswo finden.

Auf ihre Essays trifft tatsächlich die Wendung „par excellence“ zu. Über lange Strecken gelingen ihnen umfassende Darstellungen und doch sind sie auf kleinster Ebene noch Auslotungen, freie Radikale, sie fügen viele Dinge zusammen und brechen sie unverhofft wieder auf. Es sind denkende Gebilde, die nicht nur um ein bestimmtes Thema kreisen, sondern die Darstellung Zeile für Zeile erweitern, zu einem neuen Aspekt vorstoßen, viele Töne anschlagen.

In „Sentimentale Reisen“ sind Texte versammelt, die zwischen 1982 und 1992 geschrieben wurden. Den Reagan-Jahren (und den Jahren seines Vize-Präsidenten Bush sen.), eine Zeit des Kapitalbooms, der deregulierten Märkte, des neuen Aufflammens der US-amerikanischen Interventionspolitik. Jahre, in die das Ende des kalten Krieges fällt, aber von denen auch die starke Prägung der letzten Verschärfungen dieses Konflikts geblieben ist.

Warum sollte man, wenn man von einem Interesse am Historischen absieht, diese Essays im Jahre 2018 noch lesen? Aus zwei einfachen Gründen: zum einen, weil die Texte eine wichtige Lehrstunde in Diversität sind, im Aufbrechen von Oberflächen, in Vielschichtigkeit. Didions Sprache ist ein Prisma, das den schönen Schein – zusammengesetzt aus Hörensagen, vereinfachter Darstellung und schematischem Denken, Zeitungsgebrüll und bequemen Versatzstücken – bricht und auffächert, das Farbspektrum dekodiert.

Zum anderen, weil das heutige Amerika in vielerlei Hinsicht ein Produkt jener Zeit ist, die Didion beschreibt. Ihre Berichte aus Washington (das Buch ist in drei Teile unterteilt, die „Washington“, „Kalifornien“ und „New York“ heißen) über die Mentalität der Leute in Reagans Weißem Haus, die Inszenierung einer Reise von Bush sen. in den Nahen Osten und den Parteitag der Demokraten, auf dem Bill Clinton zum demokratischen Kandidaten gekürt wurde, gewähren einen guten Einblick in das gleichsam vital-glänzende und innen marodiert-chaotische, hyperbolische Räderwerk des US-amerikanischen Politik- und Gesellschaftsverständnisses und dessen Praxis.

Ihre Essays über Ereignisse und Themen aus Kalifornien (die am meisten Platz einnehmen), präsentieren sehr anschaulich die Westküstenmentalität und veranschaulichen überdies, fast nebenbei, die Diskrepanz zwischen den Staaten/Gebieten in den USA, auf zu weit voneinander entfernt Formen von Lebenswirklichkeit (die letztlich auf eine Vereinzelung der Staaten hinausläuft). Mit scharfer Feder legt sie offen, wie sehr die Vorstellungen der US-amerikanischen Gesellschaft von unbewusst mitgetragenen Legenden und Mythen, betonierten Mentalitäten und medialen Schablonen geprägt sind. Natürlich trifft letzteres auf viele nationale Gesellschaften zu, aber bei der US-amerikanischen im hohen Maß, was das Angesicht dieses Landes (und seiner Probleme) nach wie vor entscheidend prägt, ebenso die Haltung seiner (weißen) Bevölkerung.

Eine sentimentale oder falsche Legende über die disparate und oft zufällige Erfahrung zu stülpen, die das Leben einer Stadt oder eines Landes ausmacht, bedeutet notwendigerweise, dass vieles von dem, was in dieser Stadt oder in diesem Land geschieht, lediglich illustrierend wiedergegeben wird, als eine Reihe von Versatzstücken oder Gelegenheiten zur Selbstdarstellung.

Das wird noch einmal sehr deutlich im letzten Text „Sentimentale Reisen“, dem einzigen Text im Kapitel „New York“. Ausgehend von einem Überfall im Central Park, bei dem eine Joggerin vergewaltigt und fast totgeschlagen wurde, sowie dem anschließenden Prozess, entwirft sie Stück für Stück ein Panorama der New Yorker Wirklichkeit und zeigt die Stadt als misslungenen Schmelztiegel, in dem weder von Aufstiegschancen, noch von kultureller Durchdringung die Rede sein kann. Es ist eine Stadt mit klaren Hierarchien, deren (fast ausschließlich weiße) Bildungs- und Wirtschaftselite immer wieder das Lied von der widerständigen und einzigartigen Bevölkerung der Stadt anstimmt, damit aber eine bestimmte Gemeinschaft meint und bestimmte Viertel, die schon vor Jahren quasi aufgegeben wurden, gar nicht miteinbezieht.

Dieser letzte Text zeigt eine Gesellschaft, die hinter ihrem selbstdarstellerischen Pathos von immer größer werdenden gesellschaftlichen Gräben auseinandergerissen wird; die eine glorreiche Oberfläche pflegt, die schon nach wenigen Schritten zu knacken beginnt, wenn man darüber geht. Didion knackt diese Oberfläche, zerbricht sie, bis aus den einzelnen Splittern Spiegel werden. Darin und darunter kommen Mentalitäten und Realitäten zum Vorschein, die die Vorläufer von Trumps-Amerika und ein paar der Grundursachen für die Probleme der Vereinigten Staaten sind.

Trotzdem bleiben es natürlich 25-35 Jahre alte Texte. Sie bilden sehr viel ab, aber sie können dadurch ihr Alter nicht gänzlich verstecken. Sie sind lesenswert, als literarische Werke und historische Dokumente. Die Aktualität, die darin liegt, ist subtiler Natur.

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!