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Die Frauen in der Revolte


Schon im Vorwort macht die Autorin Valentina Grande klar, dass der Titel ihres (und Eva Rossettis) Comicbandes natürlich nicht enzyklopädisch gemeint ist und Frauen, die die Kunst revolutioniert haben keinen Anspruch auf vollständig erhebt. Die vier Kapitel des Bandes sollen ein möglichst anschaulichen Einblick in die Welt der feministischen Kunst und ihre Akteurinnen liefern und deren Anteil an der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts würdigen und bekannter machen.

Im Zentrum der Kapitel stehen die Künstlerinnen Judy Chicago, Faith Ringgold, Ana Mendieta und die Guerrilla Girls, eine Gruppe von anonymen Künstlerinnen und Aktivistinnen. Allerdings wird in den einzelnen Lebensgeschichten auch Bezug auf andere bekannte Künstlerinnen Bezug genommen (bspw. Miriam Schapiro, Marina Abramovic, Yoko Ono, Georgia O’Keeffe oder Eva Hesse; hinten im Buch gibt es dann noch eine Portraitliste). Meist greift Grande ein paar zentrale Augenblicke im Leben der Frauen heraus und entfaltet von dort ein kleines Panorama ihres Wirkens. Dabei geht es auch um verschiedene Aspekte, von Körper über Rassismus, Identität bis zu der Frage von Repräsentation.



Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen enttäuscht war von den einzelnen Darstellungen der Lebens- und Werkgeschichten, die mir wie Abrisse und nicht wie echte Auseinandersetzungen erscheinen. Der grafische Teil ist dagegen in jeder Hinsicht schön gestaltet und die Informationen, die man erhält, sind wohl auch mehr als Einstieg in eine tiefere Auseinandersetzung gedacht. Trotzdem finde ich, dass das Buch leider nicht wirklich den Tatbestand der Graphic Novel erfüllt. Eine treffendere Bezeichnung wäre vielleicht Short Cuts oder etwas in der Art gewesen.

Abseits dieser Kritik bin ich natürlich sehr froh, dass es dieses Buch gibt und gerade als Anstoß zur weiteren Beschäftigung ist es zu empfehlen – und als Würdigung der Künstlerinnen ohnehin eine feine Sache. Ich lege das Buch also allen ans Herz, die auf feministische Kunst aufmerksam werden oder eine schön gestaltete Hommage an einige Vertreterinnen bei sich im Bücherschrank haben wollen.

Leidenschaft der Klugheit, Klugheit der Leidenschaft


Schon Lukas Bärfuss erster Essayband „Stil und Moral“ hatte mich überzeugt und so war ich gespannt auf den zweiten, mit dem vielversprechenden, aber auch gefährlichen Titel „Krieg und Liebe“. Und, was soll ich sagen: ich bin verblüfft, berückt, aufgewühlt, beseelt.

Wenn es um Begeisterung geht, furiose zumal, ist immer die Frage, wie man die vernünftig zu Papier bringt. Und in diesem Fall könnte sie auch ausufern, denn nicht nur sind die Texte von Bärfuss in sich gut, sie schneiden zudem unglaublich viele Themen an, über die lange nachzudenken nicht schwerfallen dürfte, auch über die Ansätze und Ideen von Bärfuss hinaus.

Da ich hier nicht auf alle Texte eingehen kann, will ich nur 1-2 als Beispiele kurz herausgreifen. Als erstes gleich den Einstiegstext, der zunächst unaufgeregt, geradezu bewusst neutral wirkt, wie ein kurzer Abriss, eine eher uninspirierte Rezensionsnotiz zu einem japanischen Kriegsbericht.

Und dann geschieht das Wunder: mit einer kurzen Beobachtung, die er gegen Ende hin zuspitzt, schafft Bärfuss es, dass den Leser*innen aus dem glatten Text eine fulminante Erkenntnis entgegenspringt: Er verquickt die Leidenschaft, mit der sich die Soldaten für ihr Land, ihren Kaiser oder dergleichen opfern, mit der Leidenschaft der Liebe. Und formt aus dieser unheiligen Verbindung die Frage: kann es sie geben, eine Welt ohne Krieg, in der aber noch (leidenschaftlich) geliebt wird? Wie lässt sich die Leidenschaft für das eine von der Leidenschaft für das andere trennen?

Sie haben immer ein bisschen etwas Abwegiges an sich, diese Essays, und stoßen dann mit einem Mal oder auch ganz subtil ins Zentrum der Überzeugungen vor. Nicht anders in einem Text, in dem es um Nietzsche „und die Populisten“ geht. Gähn, hab ich da gedacht. Und erstmal wirkte der Text auch recht gewöhnlich, gutgeschrieben durchaus, aber eher lammfromm, überschaubar.

Doch schon bald war da eine besorgniserregende Umwälzung zu beobachten und nach der Lektüre musste ich mir eingestehen: ich hatte noch nie einen so guten Text über Nietzsche oder über Populismus gelesen; ich begriff jetzt wesentliche Aspekte von beiden, wo ich bisher meinte, dass eine vage Vorstellung, eine vorgefasste Meinung genügen würde.

Nicht alle Texte in dem Buch sind so umwerfend wie diese beiden oder auch die grandiose Dresdener Rede „Am Ende der Sprache“, die ich nun schon mehrmals gelesen habe und die so trostspendend und gleichsam kämpferisch ist wie nur Weniges, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Aber immer sind sie interessant, hinterfragen, zeigen auf, schaffen Perspektiven, wo es vorher nur festgelegte Linien zu geben schien.

Es ist ein Buch für jene, die sich gern wirklich mit Texten beschäftigen, nicht nur denken gefällt mir (nicht), nicht nur Unterhaltung suchen, sondern auf der Suche nach Auseinandersetzung, Denkimpulsen, Erschütterung und Belebung sind. Kurzum: es ist wirklich nur ein Buch für leidenschaftliche Leser*innen. Aber die werden es zu ihren Schätzen zählen, da bin ich mir sicher.

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu Dagrun Hintzes “Wer was in welcher Nacht träumte”


Wer was in welcher nacht träumte Nach dem herrlichen Fußballbuch „Ballbesitz“ und den unterhaltsamen Gedichten in „Einvernehmlicher Sex“ ist nun der Erzählband „Wer was in welcher Nacht machte“ von Dagrun Hintze beim Textem Verlag erschienen – mit dem Zusatz „Erzählungen zu Kunst, Design und Architektur“. Dieser Untertitel hat leider wohl ein bisschen Abschreckungs-, zumindest Irritationspotenzial.

Um hier Abhilfe zu schaffen: Obgleich die drei Gestaltungsformen in den Erzählungen eine wichtige Rolle spielen, oft auch Dreh- und Angelpunkt sind, ist der Band nicht einfach eine sich an solchen Elementen aufhängende Reihe von Erzählungen. Vielmehr hat Hintze hier ein vortreffliches Kabinett der Innenleben angelegt, das sich in den jeweiligen Gestaltungsformen auf unterschwellige bis klar zu tage tretende Art und Weise spiegelt – so schiebt sie die Tiefen von Innen- und Außenwelt immer wieder neu ineinander und filtert dabei Untiefen heraus, erschafft dann und wann ein psychologisches Zwielicht.

So gibt es zum Beispiel eine Geschichte über einen Mann mit Hundephobie, der durch Kunstwerke und Disneyfilme seine Angst vor den Tieren zu überwinden, sich selbst und diese Angst quasi zu domestizieren versucht und sich schließlich sogar einen Hund kauft. Aber auch der Hund ist nur ein domestizierter Wolf und unter den beruhigten Oberflächen wartet die immer weniger vom Licht der Erkenntnisse durchdrungene Tiefsee, die anderen 9/10 des zerstörerischen Eisbergs …

Man muss sich auf die Innenlebentrips einlassen, die Hintze hier serviert, wird aber belohnt mit spannenden, zwischen Darstellung und Leben oszillierenden Settings, mit Erzählflüssen, in denen die Idee der Komposition und menschliche Empfindungen auf spannende Art und Weise ineinander münden. Im letzten Text, der denselben Titel wie das Buch trägt, liefert sie ein besonders vielschichtiges Kunststück ab, auf das ich aber hier nicht vorgreifen will. Es bleibt bei der schlichten Empfehlung, sich selbst in dieses Kabinett zu begeben.

 

Alben, die ich sehr schätze – Erster Eintrag: “Blood on the tracks”


Bob Dylan - Blood on the tracks

Ich habe in meiner Schulzeit zu den Leuten gehört, die viele CDs hatten (und LPs, allerdings nur ein paar wenige) und in dieser Zeit habe ich sie rauf und runter gehört. Es gibt nicht viele Alben, die man mehr als einmal vom Anfang bis zum Ende hören kann. Alben, die (für das eigene Ohr) fast ohne Schwächen sind, die genügend Abwechslung haben oder eine gelungene Sturktur.1 Alben, bei denen es reizvoll ist, sie immer wieder anzuhören; sie sind wie ein Gedicht oder ein Buch, das man immer wieder liest. Eine Galerie von Klängen, die man immer wieder betreten mag.

Beim letzten Durchsehen meiner Sammlung wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass ich viele CDs eigentlich weggeben könnte, weil die entscheidenden Lieder längst digital gesichert sind und ich die CDs – sei es zum Hören oder einfach als eine Art Schatz, als Münze oder Juwel in meinem Drachenhort – nicht wirklich haben will; dafür sagen sie zu weniger über das aus, was ich bin(/sein will) und mag(/mögen will?).

Also sortierte ich aus, schmiss weg, verschenkte. Einige Alben überlebten diesen Prozess natürlich und irgendwie habe ich das Bedürfnis, diese Alben zu teilen. Wie meine Lieblingsbücher haben sie mich schon eine Weile begleitet und werden mich weiterbegleiten.

Den Anfang macht direkt ein Album, das ich tatsächlich für perfekt halte. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es unter Bob Dylan-Fans einen Streit gibt, welches Album das beste sei und sich ungefähr gleichviele Fürsprecher*innen für „Blonde on Blonde“, „Highway 61 revisited“ und „Blood on the tracks“ finden lassen (während andere sich noch darüber streiten, ob er singen kann). Trotz großer Sympathie für „Blonde on Blonde“ – „Blood on the tracks“ hätte immer meine Stimme.

Bob Dylan hat in Interviews oft gesagt, dass dieses Album ihm aus einer Schaffenskrise geholfen habe – oder besser gesagt: das Resultat einer beendeten Schaffenskrise ist. Ich muss zugeben, dass mich herzlich wenig interessiert, welche Bedeutung dieses Album in seinem Schaffen einnimmt – die besten Kunstwerke überwinden ihre Kontexte vollends oder gehen ganz und gar in ihnen auf und bei „Blood on the tracks“ trifft ersteres zu. Reporter*innen haben sich den Mund fusselig gefragt, ob er in diesem Album die Trennung von seiner Frau verarbeitet habe und noch jede Menge anderes Zeug.

Aber kein Label – egal ob „Trennungsalbum“ oder „Symbol neuer Schaffenskraft“ – vermögen in meinen Augen dieses Album zu definieren, zu vereinnahmen. Es ist unbeugsam, wüst, es ist fabulierend, es ist zärtlich, rotzig, euphorisch, bitter, aberwitzig, blitzgescheit und noch einiges mehr; vor allem aber kann es für sich selbst stehen.

And everyone of them words rang true
And glowed like burnin’ coal
Pourin’ off of every page
Like it was written in my soul
From me to you
Tangled up in blue

Schon beim ersten Lied „Tangled up in blue“, diesem Gedicht auf das Leben – das Abenteuer, in dem jeder von uns ein/e Protagonist*innen ist – ist alles da: die Heftigkeit und Zartheit, die in Begegnungen liegen. Die herantretende Unvermeidlichkeit und wie es nach ihr doch weiter geht, mit einer neuen Kerbe am Bootsrumpf, die sich wie ein Leck anfühlt.

„Tangled up in blue“ ist ein wunderbarer Startschuss. Der Song fächert auf, worum es in dem Album noch gehen wird, nimmt aber nicht zu viel vorweg; springt von einer Strophe in die nächste, während einem beim Zuhören das Gefühl beschleicht, es gehe Großes, Wichtigeres vor sich, das einem das Lied gleichsam offeriert und entzieht.

Am Ende steht man bei diesem Auftakt wieder vor dem nichts, obwohl so viel aufgefächert wurde. Wie ein Teaser, der die besten Momente des Films einfängt, ist „Tangled up in blue“ ein Portrait des ganzen Albums – und sein Spiegel.

People tell me it’s a sin
To know and feel too much within
I still believe she was my twin
But I lost the ring
She was born in spring
But I was born too late
Blame it on a simple twist of fate

Musik kann auf viele Arten mitreißend sein: Weil sie einen zum Tanzen animiert. Zum Mitsingen. Weil sie eine Lebensweise ausdrückt, eine Haltung, eine Meinung. Weil sie ausgeklügelt ist, ein Ohrenschmaus für Kenner. Oder weil die Melodien mit den Worten zusammen ein Netz weben, in dem, gezogen durch einen riesigen Ozean, sich plötzlich dein Herz befindet, schlagend, zappelnd.

Der zweite Track „Simple twist of fate“ ist so ein Netz für mich. Eine Art Soft-Blues, nicht zu eingängig, nicht zu beschwingt, mit viel Lakonie gewürzt – wenn er ein Gericht wäre, wäre er angenehm scharf. Keine Bitterkeit weit und breit und diese Abwesenheit von Bitterkeit ist beeindruckend, weil doch in diesem Lied alles nur auseinanderbricht. Doch kein Widerstand, nur Abfinden.

Dabei spricht so viel Kleines darin für sich, der Song liest es auf, wie von den Bäumen gefallene Blätter, die sagen: es war Zeit. Das muss akzeptiert werden, dass es Zeit war (oder nicht die Zeit war). Aber über Jahre hinweg bleibt dieser Stich: war es ein simple twist of fate, war es NUR ein simple twist of fate? Solche Gedanken fängt das Lied ein, webt sie in das dünne Leinen, unter dem es sich hin- und herzwälzt. Sanft, bedächtig, geradezu beschaulich, erzählt Dylan die allertraurigste Geschichte: Über das „es hat nicht sollen sein“, in dem sich spiegelt „ich wüsste zu gern, ich hätte gern, ich hab dich gern.“

Time is a jet plane, it moves too fast
Oh, but what a shame if all we’ve shared can’t last
I can change, I swear, oh
See what you can do
I can make it through
You can make it too

“You’re a big girl know” ist eine Zwischenstufe, bedächtig auch, noch nicht wirklich bitter, aber zuckend hier und da, sich zusammenreißend, ins Langen und ins Appellieren driftend, gefangen zwischen Klimpern und vielem, das in der Stimme anschwillt, aus den Worten tropft. Ein Lied, das nicht loslassen will (und für einen Dylan-Song auch ungewöhnlich lange nach dem Ende des Textes noch weiterläuft.)

Gäbe es ein Lied, das man einer Person, mit der man Ähnliches wie in „Simple twist of fate“ erlebt hat, hinterher- oder zuschicken würde, so wäre es wohl dieses. Es ist ein Epilog zum vorangegangenen Track und im Prinzip ein Prolog zu „Idiot wind“. Die Reihenfolge folgt dem Muster jeder unerwünschten Trennung: Zuerst will man nicht weg, dann will man zurück, und wenn man merkt, dass man nicht zurück kann, will man nur noch weiter, will der Vergangenheit, die einen nicht mehr aufnimmt, möglichst demonstrativ den Rücken kehren.

„You’re a big girl now“ ist das Mauerblümchen des Albums und trotzdem ein großartiges Lied, in all seiner Schlichtheit. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Dylan in diesem Album gelingt, für jeden seiner Songs den richtigen Umfang, die richtige Art des Kreisens um ein Thema zu finden. Fast scheint es, als würde dieser Song, der weniger ambitioniert und konzipiert daherkommt als „Simple twist of fate“ und „Idiot wind“, weniger geschlossen, ins Banale ragen, zu sehr verankert sein in einer bestimmten Emotion. Aber gerade diese verwaschene Schmalheit macht dieses Lied schön. Es nimmt sich die Freiheit, zwischen den Stühlen zu singen.

I ran into the fortune-teller
Who said beware of lightning that might strike
I haven’t known peace and quiet
For so long I can’t remember what it’s like
There’s a lone soldier on the cross
Smoke pourin’ out of a boxcar door
You didn’t know it, you didn’t think it could be done
In the final end he won the wars
After losin’ every battle

I woke up on the roadside
Daydreamin’ ’bout the way things sometimes are
Visions of your chestnut mare
Shoot through my head and are makin’ me see stars
You hurt the ones that I love best
And cover up the truth with lies
One day you’ll be in the ditch
Flies buzzin’ around your eyes
Blood on your saddle

Es gibt viele bittere Lieder, viele von ihnen sind gleichzeitig auch melancholisch, andere schrill. „Idiot Wind“ ist nicht melancholisch und nicht wirklich schrill. Es ist eine Ballade reiner Bitterkeit, musikalisch großartig arrangiert und von einer Stimme getragen, die sich die Seele aus dem Leib zu singen scheint, weil sie sonst anfangen müsste zu brüllen. Das Lied lädt seine Bitterkeit aber nicht einfach ab, sondern schneidet mit ihr, zerreißt, schmeißt sie. Es ist Befreiung und Verurteilung, torture und cure in einem.

Schlicht eine Wucht. Ein Song, bei dem das Wort „großartig“ auf jeder Ebene zutrifft. Mitreißend. Und am Ende, in genau dem richtigen Moment, einsichtig, wenn man es gar nicht mehr erwartet.

Was kann auf so eine bittere, tosende Stafette folgen?

I’ve seen love go by my door
It’s never been this close before
Never been so easy or so slow.
Been shooting in the dark too long
When somethin’s not right it’s wrong
Yer gonna make me lonesome when you go.
[…]
Situations have ended sad,
Relationships have all been bad.
Mine’ve been like Verlaine’s and Rimbaud.
But there’s no way I can compare
All those scenes to this affair,
Yer gonna make me lonesome when you go.

Mundharmonika und sanfte Fröhlichkeit. Der Wind hat sich gedreht, Ring frei für eines der schönsten Liebeslieder überhaupt. Ein Text voller einfachster, funkelnder Sätze und ein Refrain, der ein schlichtes Bekenntnis ist, leichter als Luft, und doch so schwer, wie einem das Herz werden kann: „You’re gonna make me lonesome when you go“.

Ein Satz, der ein Ruf ist, eine Narbe, ein Nagel, ein Winken, eine Inschrift, ein Fluch. Was da alles drinsteckt, wie viele Emotionen dieser einzelne Satz (und erst das ganze Lied) transportiert: Einsamkeit, Zuneigung, Angst, Hoffnung, Melancholie, Dankbarkeit, etc.

Und das alles haut uns Dylan mit einem beschwingten Lied von unter drei Minuten um die Ohren, tänzelnd auf einem dünnen Seil, auf sechs dünnen Saiten, süßlich, ohne ein Spur von Klebrigkeit. Kurzweilig, wie etwas Unverhofftes, begegnet uns dieses Lied. Auf gewisse Weise ist es das Schönste des ganzen Albums.

Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Ain’t that just like my heart, babe
When you kissed my lips?

Wenn das Album ein Schulhof wäre, dann wäre “Meet me in the morning” der Typ, der auf cool macht, cool rüberkommt, aber eigentlich gar nicht so cool ist. Ich mag die Lässigkeit dieses Stücks und auch die Seltsamkeit des Textes, den leichten Aberwitz. Trotzdem ist diese dubiose Hymne sicher der schwächste Song. Er zwinkert einem zu, sieht gut aus, aber man hat nicht das Gefühl, dass da wirklich „blood on the track“ ist.

Trotzdem – wenn „Meet me in the morning“ nicht da wäre, würde es fehlen. Es ist die staubige Straßenkreuzung, der Moment im Nirgendwo, den das Album braucht. Etwas Übliches, unverfängliches. „Meet me in the morning“ verschafft den Zuhörer*innen eine kurze Pause und liefert außerdem ein ordentliches Pausenprogramm. Man kann sich anschauen, was war und sich auf das freuen, was noch kommt, während man nebenbei der Lässigkeit des Stückes lauscht.

Backstage the girls were playin’ five-card stud by the stairs
Lily had two queens, she was hopin’ for a third to match her pair
Outside the streets were fillin’ up, the window was open wide
A gentle breeze was blowin’, you could feel it from inside
Lily called another bet and drew up the Jack of Hearts

Das längste Stück, platziert an siebter Stelle: “Lily, Rosemary and the jack of hearts”. Eine rasante Ballade, ein Narren- und Schurkenstück, eine Wild-West-Erzählung mit viel Couleur. Fast beiläufig beginnt es, steigert sich mit jeder Strophe, unbarmherzig und fabulierend, in der Intensität, in welcher viele kleine Pointen und Wendungen funkeln.

Der „jack of hearts“ ist einerseits der Herzbube im herkömmlichen Kartenspiel, andererseits auch der gutaussehende Verführer, der gerissene, sympathische, aber skrupellose Jüngling (und, btw: eine Marvelfigur).

Obwohl es nicht mein liebstes Stück ist, habe ich es öfter gehört als alle anderen (außer vielleicht „Tangled up in blue“). Es lässt einem kaum Zeit zum Luftholen und am Anfang hörte ich es vor allem deshalb mal um mal, um den Text Stück für Stück nachzuvollziehen, herauszuhören. Auch heute entdecke ich noch neue Kleinigkeiten oder erfreue mich an alten Lieblingsstellen.

We had a falling-out
Like lovers often will
And to think of how she left that night
It still brings me a chill
And though our separation
It pierced me to the heart
She still lives inside of me
We’ve never been apart
[…]
If she’s passin’ back this way
I’m not that hard to find
Tell her she can look me up
If she’s got the time

Manchmal werden Menschen unerreichbar für uns. Gäbe es nur jemanden, der ihnen Hallo von uns sagen könnte oder: Wie geht es dir? fragen könnte. Vielleicht sogar ein „Vermisst du mich?“ überbringen könnte, ganz unproblematisch. „If you see her, say hello“ ist ein Lied des Haderns, schafft es aber, dieses Hadern von seiner liebevollsten Seite zu präsentieren, auch wenn der ganze Umfang seiner Problematik durchscheint. Es steht an der Schwelle zum Verzagen, blickt aber fast die ganze Zeit über die Schulter.

Die Stimme versucht stark zu sein, fliegt sich aber selbst davon. Es ist das haltloseste Stück des Albums. Mit Gitarrenklängen, die klingen, als würde jemand mit baren Händen etwas ausgraben, während die Stimme versucht ruhig zu bleiben, unverfänglich, sich nicht zu verhaken in den Nachfragen, der verlassenen Hoffnung, in der sie immer noch steht, ohne zu warten, ohne zu wissen warum, aber noch nicht bereit, wegzugehen.

I’ve heard newborn babies wailin’ like a mournin’ dove
And old men with broken teeth stranded without love
Do I understand your question, man, is it hopeless and forlorn
Come in, she said
I’ll give ya shelter from the storm

Popsongs are cheesy or corny. Eine solche Bemerkung fegt “Shelter from the storm” einfach vom Tisch. Ich bin verliebt in dieses Lied (in die Studio-Version und die Live-Version vom Album „Hard Rain“ gleichermaßen), seinen zärtlich-lapidaren Stil, seine Fülle, seine Offenheit. Wäre der Song eine Person, ich würde sie wunderschön finden – nicht im begehrlichen Sinne, sondern unverfänglich – ihre Art, ihre Ausstrahlung. Gut, diese Liebeserklärung ist jetzt schon etwas corny.

Um es noch schlimmer, aber auch eindeutiger zu machen: In einem Gedicht von W. H. Auden heißt es: „life remains a blessing/although you cannot bless“. Ich kann und will sagen: This song blessed me and blesses me.

Mehr kann ich auch gar nicht sagen. Hört ihn euch an. Lasst euch einspinnen. Lasst euch wiegen von diesem Lied, in dem Grausamkeit und Seligkeit, Heimatlosigkeit und tiefe Zuneigung vorbeiziehen wie Autos auf einer Straße vor der Tür, unterlegt vom Klang einer Gitarre, die sagt: „Es wird nicht alles gut, aber es wird alles und geht wieder vorbei.“ Und: “Lass zu, was dich liebt.”

Buckets of rain
Buckets of tears
Got all them buckets comin’ out of my ears
Buckets of moonbeams in my hand
You got all the love
Honey baby, I can stand

I’ve been meek
And hard like an oak
I’ve seen pretty people disappear like smoke
Friends will arrive, friends will disappear
If you want me
Honey baby, I’ll be here

Nachdem am Ende von “Shelter from the storm”, in den letzten Tönen, die Hand von der Gitarre abzurutschen scheint, könnte das Album eigentlich zu Ende sein. Es ist doch alles gesagt, geschrien, geflüstert, gebeichtet. Aber nein.

Die Gitarre setzt noch mal ein. Sehr bestimmt, mit einem Hauch Verspieltem. Und direkt das erste Bild wirft seinen Schatten über das ganze Lied: Eimer voller Regen, die eigentlich Eimer voller Tränen sind. Tränen, die einem „zu den Ohren wieder rauskommen“.

„Buckets of rain“ summiert noch einmal die vielen Emotionen des Albums in wenigen, fastschon kargen Strophen. Bitterkeit, Verlassenheit, Zuneigung und Hoffnung dämmern in den Versen, die wie Wassertropfen von den Saiten der Gitarre perlen. Unfertig wirkt der Song, verstreut alle Erkenntnisse des Albums, anstatt sie zu bündeln.

Ich denke, dass das meine ganz persönliche, nicht im Text oder in der Musik zu verortende Phantasie ist – aber sobald das Lied beginnt, sehe ich eine Person, die Eimer eine Treppe hinauf oder eine Straße entlang trägt. Über den Rand schwappen die Tränen, laufen herunter. Er trägt diese Eimer überall mit sich herum, alle anderen tragen auch welche mit sich herum, aber niemand kann die Eimer der anderen sehen. Nur wenn sie übervoll sind oder etwas über den Rand schwappt, sieht man die Tropfen, die über die Wangen gleiten.

Schön, traurig, meditativ. Der letzte Track bleibt hinter den meisten anderen zurück, macht nicht viel her. Aber mit seiner rustikalen Art bleibt er einem fast am längsten in Erinnerung. Sein Klang erstreckt sich auf die nächsten Stunden, wie ein Zauber. Eine Tür die ins Schloss fällt. Ein würdiger Schluss.

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!

Zu Kazuo Ishiguros Nobelpreisrede


Mein 20. Jahrhundert Für mich besteht der Kern der Geschichte darin, dass sie Gefühle mitteilt. Dass sie anspricht, was uns Menschen, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, eint. Rund um das Erzählen sind riesige, glanzvolle Industrien entstanden, die Buchindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie, die Theaterindustrie. Am Ende aber handeln Geschichten immer davon, dass ein Mensch zu einem anderen sagt: So empfinde ich das. Verstehst du, was ich sage? Empfindest du genauso?

In allem, was ich bisher von dem britischen Autor und letztjährigen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro gelesen hatte, lag eine so ungekünstelte und authentische, souveräne Authentizität, dass ich die Lektüre dieser Rede ein klein wenig fürchtete; könnte doch ein persönliches Dokument das hehre Bild, welches ich von dem Menschen Ishiguro vor dem Hintergrund seiner Werke pflegte, untergraben.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Ich bin nach der Lektüre sogar noch mehr von der Sensibilität, die Ishiguros Narrative meiner Ansicht nach bedingt und ausmacht, überzeugt; vom Feinsinn, den ich in seiner Prosa immer gespürt zu haben glaubte.

Eigentlich schildert Ishiguro lediglich seinen schriftstellerischen Werdegang, allerdings mit dem Augenmerk auf die kleinen Erkenntnisse, die, in einem Moment an ihn herangetreten, die Konzeption und Ideen ganzer Romane zur Folge haben sollten und sich als Wendepunkte erwiesen, die seine Auffassung vom Schreiben und Erzählen grundlegend veränderten.

Schon sein erstes Buch hätte er nicht geschrieben, wenn er nicht 1979 an einem einjährigen Graduierungskurs für kreatives Schreiben teilgenommen hätte. In einer kleinen Stadt, in einer geräumigen Dachkammer hausend, mit wenigen Kursen an der Universität, war er zurückgeworfen auf seine bisherigen literarischen Versuche. Die Auseinandersetzung damit führte schließlich, wie bei einem Fluchtreflex, dazu, dass er zum ersten Mal über Japan schrieb, das Japan seiner Erinnerung, seiner Vorstellung. Es entstand „A pale view of hills“.

„Diese Monate waren insofern entscheidend für mich, als ich, hätte ich sie nicht erlebt, wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden wäre. Seither habe ich oft zurückgeblickt und mich gefragt: Was ging damals in mir vor? Woher kam diese eigenartige Energie? Mein Fazit ist, dass es an diesem Punkt meines Lebens um einen notwendigen Akt des Bewahrens ging.“

Das Bewahren blieb ein wichtiges Element von Ishiguros Werk, aber andere Aspekte traten hinzu. Auch die weiteren Erkenntnisse und wie er zu finden ihnen fand, beschreibt Ishiguro eindrücklich und schlicht: Wie ihn ein gewöhnlicher Filmabend auf die Essenz jeder Geschichte brachte: wir wollen, dass es darin um Beziehungen (oder die Abwesenheit von Beziehungen) geht, die etwas bedeuten. Oder wie ein Besuch in Ausschwitz, wo die schrecklichen Todesbauten der Nazis allmählich verfallen, ihn mit der Frage konfrontierte, ob und wie Erinnern in Gesellschaften gepflegt werden sollte. Wie soll man mit solchen Erinnerungen umgehen?
Diese Überlegungen wirkten sich direkt auf die Romane „Never let go“ bzw. „The buried giant“ aus.

Ishiguros Nobelpreisrede ist keine große Poetikvorlesung. Sie ist etwas viel Schöneres, Menschlicheres: eine Erzählung von den Momenten, in denen Kunst ihren Anfang nimmt, in Regungen, die dem Bedürfnis nach Mitteilung, nach Bewahrung, nach Wahrheit und Verstehen entspringen. Ishiguro verleiht dem Akt des Schöpfens menschliche Züge, ohne ihn zu entzaubern.

Ich bin sehr dankbar für dieses kleine Dokument, diese einfache Schilderung eines Lebensweges und eines daraus erwachsenden Selbstverständnisses, in dem Ishiguro im letzten Abschnitt außerdem noch klar Position bezieht, was die neusten Umbrüche und zersetzenden Dynamiken in unserer Zeit angeht, über die er kurz und bündig schreibt:

Wenn wir heute auf die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken, erscheint sie uns als Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Gelegenheiten. Wir haben eine gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen zugelassen, zwischen Nationen ebenso wie innerhalb von Nationen. […] Die langen Jahre der Austeritätspolitik, die nach der skandalösen Finanzkrise 2008 dem einfachen Volk aufgezwungen wurde, haben uns in eine Gegenwart geführt, in der sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten. Rassimus, ob traditioneller Prägung oder in seinen modernen, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen, ist wieder im Kommen. Vorläufig scheint uns jede progressive, einigende Vision zu fehlen. Stattdessen zerfallen selbst die reichen Demokratien des Westens in rivalisierende Lager, die erbittert um Macht und Ressourcen streiten.

Also: Eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre!

 

Hier auch noch der Link zu einem Essay, den ich zu Ishiguros Werk verfasst habe, publiziert beim Signaturen-Magazin

Zu der Dreiergeschichte “Luftschlösser” von Almudena Grandes


Luftschlösser “Als wir zu dritt waren, war die Welt so riesig, dass wir sie mit unseren sechs Händen nicht fassen konnten. Als ich nur noch zwei Hände hatte, war sie so klein, so bedeutungslos wie eine Brotkrume zwischen meinen Fingern, ohne dass ich den Grund für diesen Schwund hätte benennen können.”

Drei in einem Bett, in einer Liebe: Umgangssprachlich der flotte Dreier, dramatisch die Dreiecksbeziehung, pornographisch der threeway, gehoben die menagé à trois (wobei manches davon gemeinsame sexuelle Akte impliziert, manches nicht). Die Vorstellung, dass man nicht nur eine Person lieben (geschweige denn mit einer Person sexuell zufriedengestellt sein) kann, ist natürlich längst kein Tabuthema mehr, weder emotional noch sexuell (wobei: emotional vielleicht schon noch ein bisschen).

Es mangelt auch nicht an Geschichten darüber: Michael Cunningham hat mit “Ein Zuhause am Ende der Welt” eine großartige Mann-Mann-Frau-Geschichte verfasst, Phoebe Ann Miller mit ihrem “Auf die andere Art” ebenfalls und in den Werken von John Irving sind Dreiecksbeziehungen schon fast eine Gewohnheit. Viele Hollywoodfilme arbeiten (mal mehr, oft weniger subtil) mit dieser Art von Verhältnis. Ein Beispiel für eine Frau-Frau-Mann Geschichte findet sich in dem meiner Meinung nach eher misslungenen Buch Das Licht und die Geräusche von Jan Schomburg.

Bei Almudena Grandes ist die Geschichte im Übergang von der Jugend- zur Erwachsenenzeit angesiedelt: José (eigentlich José Maria, aber sie benutzt als Alleinstellungsmerkmal nur ihren Männernamen) studiert im vierten Jahr Kunst in Madrid, als sie die ungleichen Freunde Jaime und Marcos kennenlernt – der eine spaßig, galant und gewitzt, der andere bildschön und eher verschlossen. Die beiden studieren ebenfalls Malerei und zu dritt bilden sie bald ein enges Dreiergespann. Eines Abends landen sie zusammen im Bett…

Was folgt ist eine vor allem von Emotionen vorangetriebene Geschichte. Es wird immer aus Josès Perspektive erzählt und es ist spannend und geschickt, wie Grandes ihren Blick und ihre Vermutungen bzgl. der Gefühle ihrer beiden Liebhaber einfließen lässt; ihm die Schwere einer absoluten Gewissheit gibt, obgleich man als Leser/in schnell merkt, dass die Dinge nicht so einfach liegen, sondern dass vielmehr die Ferne der mit Sehnsucht aufgeladenen Episode (erzählt wird mit einem Abstand von 20 Jahren) eine Unabänderlichkeit in die Vorgänge legt, die zu dem Zeitpunkt ihres Stattfindens nicht unbedingt vorhanden war – damals hing viel von jeder einzelnen Entscheidung, jedem Detail ab, was Grandes sehr klug in den Zwischentönen anklingen lässt.

Ihre Sprache ist oft leidenschaftlich, aus dem Innenleben ihrer Figur hervorbrechend, aber nicht zu sinnlich, wodurch sie nicht ins Kielwasser allzu glatter, eher an Schundhefte erinnernder Prosa gerät. Die Erotik liegt mehr in der Dramatik, in der schwierigen und zugleich berauschenden Balance der Beziehung zwischen den jeweiligen Personen. Explizite sexuelle Darstellung gibt es nicht, dafür expliziten Seelenstriptease. Beeindruckend gelingt es Grandes, die Verschiebung in der Wahrnehmung nachzuzeichnen, wie sie über Wochen, über Monate und Jahre vonstattengeht.

Alles in allem ist Luftschlösser ein Buch, das seinem Titel mehr als gerecht wird. Denn genau darum geht es: um Träume, die man lebt und am Leben zu halten versucht, auch wenn die Gefühle bereits andere Wege gehen, die einzelnen und komplizierten Stränge unseres Denkens und Fühlens sich nicht unter dem Hut einer schönen, freien Sache zusammendrängen lassen. Es ist bestürzend und doch sehr gut nachvollziehbar, wie die drei Liebenden im Taumel leben und zunächst so viel Tempo draufhaben in ihrem neuentdeckten Lebensstil, dass sie alle gegenteiligen Anzeichen überfliegen und links liegen lassen – nur um dann zu merken, dass es nichts hilft, irgendetwas zu ignorieren. Es ist da und es wird seinen Verlauf nehmen. Und das wird einen zwangsläufig tangieren.

Über die Launigkeit der Liebe, den Rausch, die Freiheit der Kunst und des Glücks und das Talent oder das Fehlen des selbigen wird hier viel geschrieben. Dazwischen finden sich in “Luftschlösser” aber auch immer wieder ganz andere bestechende Momente, kleine Erkenntnisse, neue Züge. Kurzum: eine lesenswerte Novelle, sehnsuchtsbetont und emotionsgeladen, aber von einem Kern mit klarem Wirklichkeitsanspruch zusammengehalten. Eine Geschichte über die Tragik der Liebe und des Schaffens, mit dem Kopf in den Wolken, auf stabile Füße gestellt.

“Göttertage” von Gabriele Glang


Göttertage “Sie ist die erste Frau in der Kunstgeschichte, die sich nackt malt. Ein ungeheurer Schritt. Bis dato gab es nur den Blick von Männern auf den nackten Frauenkörper.”

Paula Modersohn-Becker verstarb bereits mit 31 Jahren. Doch in den wenigen Jahren, in denen sie als Künstlerin tätig war, schuf sie über 700 Gemälde und noch viel mehr Zeichnungen, Skizzen. Viele der Gemälde waren Selbstportraits, einige eben auch Akte.

Gabriele Glang portraitiert diese mit einer Reihe von kurzen Gedichten, die das Innenleben der Künstlerin während der Zeit ihres letzten halben Jahrs, ihrer Zeit in Paris, abbilden, nachvollziehen, umkreisen.

“Seht: in der Freiheit
wird etwas aus mir.”

Ein wichtiges Motiv in den Gedichten ist die Befreiung, die Freiheit – ein anderes allerdings die Rechtfertigung, die Erklärung. Zwischen diesen beiden Polen ist Modersohn-Becker als eine der ersten Frauen, die als eigenständige Künstlerin arbeitete, unausweichlich hin und her geworfen. Sie will ihr Tun mit der Selbstverständlichkeit annehmen, mit der sie es betreibt, aber sie kann nicht umhin, die Besonderheit ihrer Lage zu erkennen. Sie erlebt den Rausch der Inspiration und will sich durch nichts bremsen lassen …

„Göttertage“ ist kein großer lyrischer Wurf, da sich die meisten Gedichte eher wie Dokumente ausnehmen, aber ein ungeheuer einfühlsames Portrait einer Frau, einer künstlerischen Kraft und Obsession und zusätzlich auch einer Frauengeneration.

Wie Glang Modersohn-Becker Leben einhaucht, ganz ohne großes Tam-Tam, aber bestimmt, ist beeindruckend. Die Wahrnehmung der Frau als dem Mann gleichgestellte Akteurin auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft ist noch nicht abgeschlossen – sie begann mit Gestalten wie Paula Modersohn-Becker, die einst freudig aufbrach in ihr neues, leider kurzes Leben und der Glang in einem ihrer Texte den Gedanken eingibt, den jeder junge Mensch, gleich welchen Geschlechts, beim Eintritt in sein selbst bestimmtes Leben haben sollte:

“Nun muss ja alles kommen.”

Zu Alberto Manguels Essays und Betrachtungen in “Im Spiegelreich”


Indem wir Wörter mit Erfahrungen paaren und Erfahrungen mit Wörtern, durchforschen wir Leser die Geschichten, in denen etwas nachhallt, die uns auf eine Erfahrung vorbereiten oder uns von packenden Abenteuern erzählen, die wir niemals anders erleben werden (wie wir nur zu gut wissen) als auf dem Papier. Dementsprechend ändert sich mit jeder Lektüre unsere Vorstellung von dem Buch, das wir uns vorgenommen haben.

Seit ungefähr zwei Jahren zähle ich den Literaturliebhaber und vielseitigen Essayisten Alberto Manguel zu meinen Lieblingsautoren; für mich stehen seine Bücher gleichberechtigt neben den (natürlich umfassenderen, universelleren) Essay-Werk von Jorge Luis Borges (Borges verliebt sein ist einer der Essays in diesem Band gewidmet). Ich kann nur jedem empfehlen “Die Bibliothek bei Nacht”, “Eine Geschichte des Lesens” und, allen voran, das Büchlein “Eine Stadt aus Worten” zu lesen. Viel Feinsinn und viel Anregung erwarten alle Lesenden.

„Im Spiegelreich“ habe ich in den letzten beiden Jahren immer wieder gelesen, mal einen Text, mal hundert Seiten am Stück, mal nur eine Passage; das Buch blieb eine Fundgrube, eine immer wieder gern zur Hand genommene Beschäftigung und ich habe mich auf sehr unterschiedliche Weise mit den Texten auseinandergesetzt.

Ich möchte nicht die ganze Geschichte dieser Auseinandersetzungen hier auswälzen. Fest steht, dass in diesem Buch eine Sammlung von Artikeln, Betrachtungen, Portraits, Rezensionen und Essays zusammenkommt, die eine beachtliche Anzahl von Ideen & Ansätzen zur Literatur und ihrer Umgebung ausarbeitet, bedenkt und widerspiegelt; mannigfaltiger als bei jedem anderen Band, den ich kenne. Letzteres ist nicht nur ein Qualitätsmerkmal, denn mancher Gesichtspunkt ist weniger gut ausformuliert, mancher Text hat eher den Charakter eines Einwurfs, einer Anmerkung oder verliert sich in seiner Agitation.

Nichtsdestotrotz: ein paar dieser Texte sind Gold wert. Sie umkreisen politische, ästhetische, gesellschaftliche, historische und biographische Dimensionen, fesseln manchmal durch das Beziehen einer klaren Position, oft aber auch durch das feine und nicht abschließend wertende Ausloten und -balancieren einer Idee. In jedem Fall enthalten Manguels Exkurse und Meditationen die eine oder andere Epiphanie. Denn Literatur, das ist der Gang ins Spiegelreich. Und wie verblüfft sind wir, wenn sich ein solcher Spiegel manchmal als Fenster mit einer wunderbaren Aussicht und manchmal als Mikroskop, dann wieder als gebogene Linse erweist, mit deren Hilfe wir alles ein bisschen klarer sehen können.

Wahres Erleben und wahre Kunst (mag dieses Adjektiv auch noch so unbequem geworden sein) haben eines gemeinsam: Sie umfassen immer mehr, als wir begreifen, mehr sogar als unsere Begriffsfähigkeit. Ihre Dimensionen liegen immer ein wenig außerhalb unserer Reichweite, wie es die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik einmal beschrieb:

Und wenn die Seele fragen würde, um wieviel weiter? Müsstest du antworten: Bis zum anderen Ufer des Flusses, aber nicht dieses Flusses, sondern des Flusses danach.