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Zu den Reden von Michael Köhlmeier


erwarten sie nicht

Es war eines der wenigen Ereignisse, die mir in den letzten Jahren wirklich Mut gemacht haben: Michael Köhlmeiers Rede in der Wiener Hofburg am 04. Mai 2018. Da sprach ein Schriftsteller – kein/e politische/r Kabarettist/in im Gewand der Ironie, kein/e NGO-Vertreter/in aus der Opposition, sondern ein Künstler aus der Mitte der Gesellschaft – offen gegen die Verhältnisse, gegen die politische – und indirekt auch gegen deren Verlängerungen in der gesellschaftlichen – Kultur. Und fast noch wichtiger als das Thema seiner Rede (die Geschichtsvergessenheit der aktuellen österreichischen Regierung, ihre fragwürdigen Verlautbarungen und jüngsten Maßnahmen) war ein Satz, der nun dieser Sammlung mit neun Reden als Titel dient.

„Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle“, sagt Köhlmeier in der Rede. Dieser Satz war an die Regierenden gerichtet, aber er ist deswegen so schneidend, weil er sich darüber hinaus auch an die Regierten richten konnte. Dummstellen (auch als Synonym für Wegschauen) hat in unserem Informationszeitalter und in unseren Wohlstandsgesellschaften Hochkonjunktur – oft ist der Grund Ignoranz, manchmal auch Überforderung, Kapitulation. Wer sich dumm gibt, seine Dummheit schützt und pflegt, der kommt mit bestimmten Debatten nicht in Berührung und kann glauben, er hätte mit vielen Dingen nichts zu tun. Kenntnis zieht die Frage des Verhaltens, der Position nach sich, keiner kann sich dieser Konsequenz entziehen (und es wird oft versucht, meist durch Leugnung oder Verdrehung der Kenntnis).

Köhlmeier ergriff die Gelegenheit zu zeigen, wie das ist, wenn man sich in der Öffentlichkeit, bei einem offiziellen Anlass, nicht dumm stellt, sich nicht servil gibt. Es war Stefan Zweig, der einmal gesagt hat: „Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig.“ Ob er damit nun recht hatte oder nicht, Köhlmeiers Rede entsprang eben nicht der Geltungssucht, sondern der Gelegenheit. Er nutzte sie und mahnte.

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.“

Seine Rede war dennoch keine Kampfansage und auch die übrigen Reden sind es nicht. Es sind Lektionen in Aufmerksamkeit, Menschlichkeit, Lehrstücke gegen das Vergessen, Elegien der Dialektik – und natürlich ein Stück weit das, was gute Literatur immer ist: Mittel gegen die Scheuklappen und die Ausreden der Ignoranz, gegen die Einseitigkeit.

Zum Beispiel jene Rede, die er 2014 bei der Verleihung des Humanismus-Preis hielt. Eine eher kurze Rede, in der er nach der Grundlage für humanistisches Verhalten fragt und auf den letzten Gesang der Ilias von Homer zu sprechen kommt. Dort schleicht sich Priamos, der König von Troja, in das Lager der Griechen, ins Zelt des Achilles, um ihn um den Leichnam seines Sohnes Hector zu bitten, den Achilles vor kurzem erschlagen hat. Der trauert noch um seinen Freund Patroklos, der wiederum von Hector erschlagen wurde. Als sie sich begegnen, erkennen sie, dass gerade sie den Schmerz des jeweils anderen am besten verstehen können.

„Sich des anderen zu erbarmen heißt, das gemeinsame Los aller Sterblichen an sich selbst zu erfahren“

Auch als Redner hält Köhlmeier an den Werten und der Aufgabe des Schriftstellers, des Erzählers fest. Was u.a. heißt: nicht nur den Spiegel vorhalten, sondern auch in ihn hineinschauen; den Spiegel nicht aus Eitelkeit ergreifen, sondern weil er etwas birgt, was wir normalerweise nicht zu Gesicht bekommen, mit dem wir selten konfrontiert werden. In einigen Reden spricht Köhlmeier über das Erbe des 20. Jahrhunderts, darüber wie sich Apathie und Schrecken angenähert haben, verschmolzen sind – so fest mittlerweile, dass sie kaum noch zu trennen sind.

„Wir sind begriffslos, seit wir das Böse nicht mehr von dem unterscheiden können, das uns ansieht, wenn wir in den Spiegel schauen.“

Köhlmeier erzählt von seiner Mutter und von dem Gegensatzpaar Leben und Historie. Er spricht über Toleranz und Individualität, über Empathie und Verdrängung. Er redet über Verbrechen und er redet über die Schönheit. Und alle seine Reden weisen uns, unter der Hand, an, uns nicht nur unserer Feinde zu vergewissern, sondern vor allem dem, was wir bewahren und bewirken wollen. Thomas de Quincey schrieb: „Feinde glauben, einander zu kennen. Es besteht die Gefahr, dass sie diesen Kenntnissen irgendwann mehr Bedeutung beimessen als den eigenen Erfahrungen.“ Sich nicht dummstellen will gelernt sein, aber ebenso, zu erkennen, dass die Wirklichkeit komplexer ist als der eigene Einblick in den Verlauf der Dinge.

Und gegen wen wir kämpfen darf nie verdrängen wofür wir kämpfen. Hier hat Köhlmeier in einer Rede eine schöne Anekdote parat:

„Mitten im Krieg gegen Hitler wurde im britischen Unterhaus der Antrag gestellt, das Kulturbudget zu kürzen. Churchill, Premierminister und Verteidigungsminister, empörte sich dagegen: „Wofür kämpfen wir denn?“, soll er ausgerufen haben. Und der Antrag war vom Tisch.“

Zu Eduardo Galeanos Vermächtnis: “Geschichtenjäger”. Großartig!


Geschichtenjäger „Die Erde segelt dahin.
Sie trägt mehr Schiffbrüchige als Passagiere.“

Eduardo Galeano war einer der umtriebigsten linken Autoren des 20. Jahrhunderts. Fußballfan und Feminist, anprangernder Journalist und Geschichtenerzähler, Mythensammler, Aktivist und Herausgeber – die Breite seiner Interessen, die Größe seines Augenmerks und seines Bewusstseins für Ungerechtigkeiten, Verschüttetes und Tröstendes war enorm.

Diesem besonderen Gespür bot sich in Südamerika und seinem Heimatland Uruguay genügend Stoff dar. In einem seiner bekanntesten Bücher, „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (das in vielen der südamerikanischen Militärdiktaturen verboten war), zeichnete Galeano minutiös und akribisch die einstigen und derzeitigen Ausbeutungen und Zerstörungen des Kontinents und seiner indigenen und derzeitigen Bevölkerung nach. Auch in vielen seiner anderen Bücher war ihm vor allem daran gelegen, den Reichtum und die Grausamkeit des Daseins nebeneinander zu stellen und auch aus der kleinsten Perspektive heraus sichtbar zu machen.

Eduard Galeano, Ausländer (Lutz Kliche)

„Geschichtenjäger“ ist das letzte von Galeano noch abgeschlossene Buch (in der deutschen Ausgabe befinden sich aber auch noch einige Stücke aus seinem vor dem Tod begonnenen Buch „Kritzeleien“). Es ist, dies will ich direkt sagen, eines der schönsten, mannigfaltigsten, reichsten, aufrechtesten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ein Schatz, ein Buch für alle Zeiten und Tage.

Wie soll man die zumeist nur eine Seite langen Kurzprosastücke dieses Büchleins beschreiben? Begebenheiten? Erinnerungen aus der Unzahl der Leben und Tode? Spuren der Ungerechtigkeit und der Schönheit? Verbrechen und Wunder? Phänomene? Nadelstiche, stechend und gleichsam ein großes Panorama nähend? Anekdoten und Fabeln? Zerschlagenes und Utopisches? Berichte von Courage und Ignoranz?

Eduard Galeano, Yucatan (Lutz Kliche)

Das alles deckt einen Teil der Texte ab und vernachlässigt manch anderes, eigensinniges oder plötzlich aus einer ganz anderen Richtung herbeiwanderndes Kleinod. Über Galeanos Buch kann man sagen, was man über die Erzählbände Julio Cortázars oft sagt: es sind keine Bücher, es sind Welten.

Bei Galeano bestehen diese Welten zu gleichen Teilen aus scheinender Transzendenz und harter Realität. Die Adjektive sind wichtig. Denn auf der einen Seite breitet er Mythenkosmen und Sagenstoffe aus, spielt sie an wie Melodien und es scheint daraus ein Glaube an den ewigen Kreislauf von Überwindung und Fehlschlag hervor, an die Kraft der Ideen und gleichzeitig Zerrissenheit der Existenz.

Eduard Galeano, Sonne und Mond (Lutz Kliche)

Auf der anderen Seite legt er ohne Ende die Verfehlungen, die ganze Ignoranz der menschlichen (und vor allem männlich dominierten) Gesellschaften bloß: Prüderie und Körperfeindlichkeit, Bigotterie und mangelnde Vorstellungskraft, Rassismus und Unterdrückung, Misogynie und Vorurteil – seine Geschichten aus der Realität handeln von all diesen Verbrechen und wie Menschen und Völker ihnen erliegen, sie verfechten und wie einzelne und viele sich ihnen entgegenstellen.

Eduard Galeano, Kleine Gaucho Gil (Lutz Kliche)

Ca. 250 dieser anekdotischen Fundstücke, erjagten und erinnerten Geschichten sind hier versammelt. Sie machen Mut, berühren, erschüttern, faszinieren und stimmen nachdenklich. Galeano liefert ein Panorama der Niedertracht und erzählt dazwischen von den Momenten des unbeirrbaren Widerstands, Fortschritts und von kleinen leuchtenden Beispielen, die sich wie Wunder aus dem Getümmel der sonstigen harten Fakten emporheben, die über den Globus wuseln, zusammenstoßen und sich vermehren, sodass man gar nicht glauben mag, dass ihnen jemand entgehen kann.

Hier und dort kann man dieser Härte entgehen, wenn man sich dem Ewigen zuwendet oder gegen den Sog der Härte ankämpft, für und für andere einen kleinen Flecken erstreitet, auf dem Ideen des Guten und des Wandels gedeihen können. Galeano erzählt von diesen Versuchen, vom Scheitern, vom Untergang und schafft es, dass man als Lesende/r, in diesen Darstellungen nicht bloß Ereignisse sieht, sondern Lektionen fürs Leben, Flammen, die bewahrt werden sollten, weil noch viel in ihrem Schein bewerkstelligt werden kann.

Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, sich dieses Buch zuzulegen. Es ist ein Schatz fürs Leben. Ein Vermächtnis, ein glühendes, funkenschlagendes, strahlendes. Danke Eduardo Galeano. Für so vieles.

Eduard Galeano, Neugier (Lutz Kliche)

Und dank auch an den Peter Hammer Verlag, dafür, dass er seit vielen Jahren die Werke von wichtigen südamerikanischen Autor*innen wie Eduardo Galeano oder auch Ernesto Cardenal herausgibt.

Ein bisschen was auf Brecht


I – Die Hauspostille

“O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!”

Die Hauspostille war der erste bedeutende Gedichtband den Brecht veröffentlichte (1927). Größtenteils besteht er aus Liedern – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Brecht hat den Vertonungen seiner Gedichte immer viel Bedeutung beigemessen – mit zahlreichen Strophen und oft auch Refrains (im Folgenden sind z.B. die letzten vier Zeilen der Refrain):

“Kein Kleid war arm, wie das ihre war
und es gab keinen Sonntag für sie,
keinen Ausflug zu dritt in die Kirschtortenbar
und keinen Weizenfladen im Kar
und keine Mundharmonie.
Und war jeder Tag, wie alle sind
und gab’s kein Sonnenlicht:
Es hatte die Hanna Cash, mein Kind
die Sonn stets im Gesicht.”

Viele der längeren Gedichte haben die üblichen Balladenthemen; Seeräuber oder Abenteuer, Tunichtgute und Säufer, und häufig trübes Menschenschicksal, verdammt, das alles steht im Mittelpunkt; vielfach kommt auch der Tod vor, allerdings wird Brecht dann meistens sehr lyrisch. Die wenigen Gedichte zum Zeitgeschehen, die vor allem im ersten Teil -Bittgänge- stehen, sind dagegen von frontaler Sachlichkeit (So hier am Ende eines Gedichts über eine Kindermörderin):

“Ihr, die ihr gut gebärt in sauberen Wochenbetten
und nennt gesegnet euren schwangeren Schoß
wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen,
denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid war groß.”

Das Schöne an den Gedichten ist, dass sie tatsächlich eingängig sind, man kann sie tatsächlich fast mitsingen, allein deswegen fühlte ich mich, auch wenn thematisch keine Verbindung besteht, doch an Heinrich Heines Das Buch der Lieder erinnert, ebenfalls ein Debüt. In beiden findet sich die einfache Form, eine Form von erzählender Lyrik, zusammengefügt mit einfachen, sich wiederholenden Klängen und Motiven, lesegenüsslich schnell zu konsumieren.

“Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese
still und grinsend vergehenden Gesichts
träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese
mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.”

Sicherlich ist dieser Gedichtband mehr ein schöner Sing-Sang als ein großes, lyrisches Meisterwerk. Aber wie in vielen Dingen, ist auch in der Einfachheit der Zeilen hier eine karge Schönheit aufbewahrt worden.
Schließen tue ich mit einem Gedicht, einem Liebesgedicht, dass viele von Brecht vielleicht kennen und das eine der wenigen feinsinnigen Ausnahmen in diesem Band darstellt:

Erinnerung an die Marie A.

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheur oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär’
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumebäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

II – Svendborger Gedichte

“Die Regierung
schreibt Nichtangriffspakte.
Kleiner Mann
schreibe dein Testament.”

1933 floh Bertolt Brecht mit seiner Familie ins dänische Svendborg, wo, in relativer Nähe zu Deutschland, dieser 6teilige Gedichtband entstand. Hauptsächlich sind es Widerstandsgedichte, die die deutschen Geschehnisse kommentieren, parodieren und untersuchen. Natürlich ist mit dem Anstreicher, der häufig vorkommt (und wie Brecht ihn nicht nur in seinen Satiren nannte) Hitler gemeint.
Brecht sah sich auch nach der Aberkennung der Staatsbürgerschaft 1935 noch als Deutscher, weshalb er auch stets von “unserem Land” spricht.

“Es ist möglich, dass in unserem Land nicht alles so geht, wie es gehen sollte.
Aber niemand kann bezweifeln, dass die Propaganda gut ist.
Selbst Hungernde müssen zugeben,
dass der Minister für Ernährung gut redet.
[…]
Und noch etwas macht ein wenig bedenklich
über den Zweck der Propaganda: je mehr es in unserem Land Propaganda gibt,
desto weniger gibt es sonst.”

Obwohl Emigrant, versuchte Brecht die Verbindung zum deutschen Volk nicht zu verlieren, zu wahren, zu kritisieren und vor allem, mit ihnen zu leiden, was vor allem im zweiten Teil deutlich wird, der vor allem Gedichte über das Schicksal von Juden und von Deutschen im neufaschistischen Klima enthält. Im sechsten Teil dieses Bandes setzt er sich mit dem Emigrantendasein selbst auseinander und schreibt:

“Schlage keinen Nagel in die Wand,
wirf den Rock auf den Stuhl!
Warum für vier Tage vorsorgen?
Du kehrst morgen zurück!”

Diese Bestimmtheit verlor er wohl erst mit Anfang des Krieges, von dem er weiter weg, erst nach Schweden, dann nach Finnland flüchtete; ein Krieg, vor dem er schon viel früher zu warnen begann:

“Auf der Mauer stand mit Kreide:
Sie wollen den Krieg.
Der es geschrieben hat
ist schon gefallen.”

Diese Gedichte sind zwar hauptsächlich vom zeithistorischem Interesse und verraten viel über Brechts Persönlichkeit (der vierte Band z.B. besteht aus Gedichten, die sich mit dem Kommunismus und dem sozialistischen System auseinandersetzen, sehr intensiv und anschaulich), aber so manches Gedanke und manches Gedicht mag sich hier auch finden, welche ihre Überlegungen, Schlüsse und Bilder über die Zeit hinaus zu schicken vermögen. Sei es eine einfach Lehre gegen Krieg:

“Wenn es zum Marschieren kommt, wissen viele nicht,
dass ihr Feind, an ihrer Spitze marschiert.
Die Stimme, die sie kommandiert
ist die Stimme ihres Feindes.
Der da vom Feind spricht
ist selber der Feind.”

oder eine der frei gereimten Chroniken aus dem dritten Teil, aus dem auch das bekanntere Gedicht “Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration” stammt und in welchem sich noch so manch andere gute Geschichte findet.

Ein vielseitiger Gedichtband, auch heute immer noch interessant und lehrreich.

III – Gedichte aus dem Widerstand (Chinesische Gedichte + Studien + Steffinische Sammlung)

“Mein Bruder war ein Flieger
Eines Tages bekam er eine Kart’
Er hat seine Kiste eingepackt
Und Südwärts ging die Fahrt.

Mein Bruder ist ein Eroberer
Unserm Volke fehlt’s an Raum
Und Grund und Boden zu kriegen ist
Bei uns ein alter Traum.

Der Raum, den mein Bruder eroberte
Liegt im Quadaramamassiv
Er ist lang einen Meter achtzig
Und einen Meter fünfzig tief.”

Die Studien und die chinesischen Gedichte sind sehr kleine Sammlung. In den Studien geht es um Werke anderer Dichter, Shakespeare, Dante, Kant, Schiller, Goethe, die in Sonetten abgehandelt, kommentiert oder zusammengefasst werden, manchmal auch alles gleichzeitig. Die Chinesischen Gedichte behandeln allgemeine Themen vor dem Hintergrund der chinesischen Mentalität und Geschichte.

Die “Steffinische Sammlung” ist ein Dokument von Brechts Exilreise, seinem Aufenthalt in Schweden und Finnland und enthält auch Chroniken und Satiren auf die Geschehnisse vor und im Krieg.
Die “Gedichte aus dem Messingkauf” sind Gedichte über das richtige Theater (ebenso wie die Dialoge aus dem Messingkauf)

-Gedenktafel für 4000, die im Krieg des Hitler gegen Norwegen versenkt wurden-

“Wir liegen allesamt im Kattegat.
Viehdampfer haben uns mitgenommen.
Fischer, wenn dein Netzt hier viele Fische gefangen hat
Gedenke unser und lass einen entkommen!”

IV – Buckower Elegien

“Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?”

Die Buckower Elegien, immer als Reaktion auf den 17. Juni 1953 verstanden, sind die letzte Gedichtsammlung Brechts. Bedeutend sind sie vor allem wegen ihrer komprimierten Konzeption und ihrem allegorischen Charakter. Wie zum Beispiel “Der Radwechsel”(oben) oder dieses:

“In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
vor einem halben Jahrhundert
vor zwei Weltkriegen
mit jungen Augen.”

Am schönsten empfinde ich gerade bei diesen Gedichten die freie Form. Sie sagen so viel mehr und ihre Melodie ergibt sich bei jedem Gedicht, am Schluss, rückwirkend. Ein Eindruck manifestiert sich mit ihnen, gerade groß genug für ihre kleine, meditative Gestalt.

Der zweite Teil dieses Bandes sind die “Gedichte im Exil”, sehr wenige kurze Gedichte (plus eine Erweiterung der Satiren aus den Svendborger Gedichten), die während der späten Phase des Krieges und danach entstanden. Fast jedes von ihnen ist ein kleines Meisterwerk und zugleich sehr persönliche Erschütterungen, wie dieses Gedicht -Ich, der Überlebende-:

“Ich weiß natürlich: einzig durch Glück
Habe ich so viele Freunde überlebt. Aber heute Nacht im Traum
Hörte ich diese Freunde von mir sagen: “Die Stärkeren überleben.”
Und ich hasste mich.”

Über alle Zeit werden diese Gedichte lesenswert bleiben.
Zum Abschluss, ein letztes Brechtgedicht, das ihn ganz umreißen kann: gewitzt, kaltschnäuzig, herablassend und demütig:

“Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.”

Ein stiller Dichter der Seelsorge : R.S. Thomas


“Sie sind weiße Nachtfalter
die Flügel
aufgeschlagen
über dunklem Wasser
als wollten sie fliegen,
doch aufgehalten
von ihren zarten Bildern
in seinen Mahagoni-Tiefen.”
-Aus dem Gedicht “Alpenveilchen”-

Der Titel dieser Werkauswahl von Gedichten des walisischen Dichters und anglikanischen Priesters R.S. Thomas – dessen Werk sich der Babel-Lyrik Verlag mit besonderem Aufwand angenommen hat (noch vier Gedichtbände sind dort bereits erschienen) – könnte nicht verfänglicher sein. Denn man könnte nun surreale, aber auch barocke, oder gar epische Psalmen\Gesänge\Insignien\ erwarten, doch nicht diese eher kurz gehaltene, sehr einfach inspirierte und doch tiefe Gedankenlyrik, die einem dann auf den wenigen Seiten entgegentritt. Nur ein einziges Gedicht ist (bei großem Druck) länger als eine Seite; meist sind es nur 8 oder 12 Zeilen. Zeilen in denen es auf sehr engem Raum um die Schönheit und das Sein geht und um ihrer beider Heimsuchungen.

“Ich sitze in der Vermittlung
der Fernmeldeämter der Menschen
aller Zeiten und empfange ihre Botschaften,
ob ich will oder nicht. Liebst
du mich?, schreien die Stimmen.
Und es gibt keine Antwort; es gibt
nur die Verträge und Machtübernahmen
und die Vision von verschränkten
Händen über dem unruhigen Blut.”

Fragen spielen eine zentrale Rolle in dieser kurzen Lyrik, existenzielle Fragen und doch auch die, die sich jeder stellt. Außerdem ständig anwesend: die Beschaffenheit des geistlichen Lebens und des Glaubens – Dinge bei denen Thomas wenig zu sagen hat, die er aber auf so schlichte und nachempfundene Weise schildert, dass sie kaum mehr etwas sakrales haben, sondern etwas ausgesprochen menschliches.

Insgesamt ist hier eine sehr gute Auswahl enthalten. Und manches Gedicht, ist, außerhalb von Form und Farbton, einfach anrührend aus dem Leben gegriffen. So jener 8zeiler, in dem ein alter Mann sich fragt, ob er mit einem jungen Mädchen tanzen soll und darf. Oder eine sehr entschiedene und menschliche Anteilnahme an dem Schicksal Gottes.

Es ist es die Kunst des Dichters, immer die richtigen Fragen zu stellen (wenn auch nur ganz still für sich allein) um dann Verse an die Antworten zu legen. Thomas nun stellt hauptsächlich die Fragen, auf das wir die Antworten selber finden. Und warnt uns gleichzeitig vor dem Verhängnis, dass eine zu einseitige Antwort hervorrufen kann. So bleibt seine Lyrik in der Schwebe, so wird sie zum Gruß an das Lyrische, das jeder Situation innewohnt und doch nur ein Spiel ist mit der Wirklichkeit, die sich nicht hinter, sondern vor der Welt befindet.

“Wohin sich wenden, ohne zu Stein
zu werden? Von der einen Seite
starrt die Medusa der Geschichte,
von der anderen die Liebe

an ihrem Kreuz. Während das Herz
sich füllt nicht mit dem Licht
aus dem Kopf, sondern mit den Schatten,
den zu viel solchen Lichts wirft.”

Link zum Buch

Gedichtband “Die Uhr” von Kurt Aebli


die-uhr_kurt-aebli  “Presslufthämmer
Bruchteile der
Welt auf den
Punkt gebracht”

Als eine ganz kleine, unscheinbare Sache hat die Poesie sicherlich einmal begonnen. Und noch heute lebt sie mehrheitlich von (und aus) den kleinen Bildern, Momenten, Eindrücken, die die Lektüre unwiderruflich machen – als etwas, dass einem widerfährt, in den vielen Erinnerungspunktierungen und zweideutigen Schlaufen, die das Gedicht bereithält.

Kurt Aebli, ein schweizer Autor, der sich auf die kurze Form in Prosa und Lyrik spezialisiert hat, legte 2000 mit dem schmalen Band „Die Uhr“ sein Lyrikdebüt vor. Er ist voller knapper, poetischer Aussichten und konzentrierter Einsichten.

“Ich bewege mich
als Windstille
verkleidet”

“Kirchenglocken bearbeiten die Luft
bis ihnen der Atem ausgeht”

Wenn man Lyrik liest, ergibt es sich immer wieder, dass man weniger zu den Gedichten sagen kann, als einem lieb ist. Man kann natürlich bloße Fakten aufzählen; hier könnte man dann über die Gedichte Aeblis sagen, dass sie selten länger als eine halbe Seite sind und meistens nicht über 4,5 Zeilen hinauskommen. Es sind Sekunden, Momente, noch einmal gestaucht durch die szenische Verlangsamung von Geschehen, von Innen und Außen. Die poetische Nuance ergibt sich manchmal aus der Tiefe der Wortzusammenspiele, manchmal (wie bei den oberen Beispielen) aus einem plötzlichen Gewahr werden der Wirklichkeit in den Ziffern der Sprache. Meist führt Aebli auf die eine oder andere Weise den Leser mit Nähe & Ferne von Welt und Eindruck zusammen.

“Der Tag drückt ab
ich erwache ausgelöscht”

Eindringlich ist vielleicht das beste Wort, um Aeblis sehr eigenwillige, beinahe stumpfe und doch unglaublich intensive Lyrik zu beschreiben. Sie könnte Verschwinden, das Verschwinden ist ihr fast eingeschrieben, eine bloße, schwarze Idee auf leicht gebräuntem Papier. Und doch scheint jedes seiner Gedichte so trefflich, nicht von der Hand zu weisen, unwillkürlich, als schreibe man es gerade selbst mit dem eigenen Blick, dem eigenen, gelüfteten Eindruck nieder.

Sicherlich gibt der Band zum Ende nicht so viel her – er enthält zwar eine starke, aber äußerst schmale Erfahrung, mit einer leisen Spur von Melancholie und Wahrheit. Ein paar kleine Momente der Unwiederbringlichkeit, aber auch diese und jene Lichtblicke:

“Die Straße
die sich unter meinen Schritten
duckt
wird von einem Humpelnden
getröstet”

Link zum Buch

Liebe 160 – “Mein Herz morst deinen Namen”. Ein SMS-Lyrikbuch über die Liebe


“Mein Handy funktioniert mit
Herzschlag-Energie;
seit ich dich kenne, versagt es nie!”
(Monika, 15)

Vorweg ist zu sagen, dass dieses Buch (wie andere Rezensenten bereits richtig feststellten) kein reines Sammelsurium netter SMS-Texte ist, die man an Freunde/Freundinnen versenden kann, wenn man ihnen einen kleine Liebesbotschaft zukommen lassen will (auch wenn durchaus ein paar sehr süße, nette Texte dieser Art enthalten sind). Das Buch geht “über” Liebe und Freundschaft und nicht “an” und das schließt sowohl die Kehrseite der erfüllten Liebe, als auch verschiedene modus operandi ein, von der Lautsprache bis zum schwülstigen, himmelherzschreienden Vers.

“zum mond und zurück
ist ein ganz schönes stück,
doch mess ich mein glück,
kannst du das rechnen lassen,
denn jeder Astronaut
würde beim Anblick
der Zahl erblassen.”
(Sophie, 19)

“Als ich noch klein wahr, sagte meine Mutter:
Eines Tages, wenn du groß bist,
wirst du erfahren, was wahre Liebe ist.
Leider vergaß sie mir zu sagen, wie weh es tut”
(Krasniqi, 19)

Dabei geht es zugegebenermaßen regelmäßig auch sehr schlicht zu und es wäre sicherlich übertrieben, wenn man dem Buch eine vollendet adäquate Highness in Sachen Ästhetik und Ausdruck zuschreiben würde. Aber um solche Elitärrereien geht es ja gar nicht. Die Liebe ist, selbst wenn man ihr nicht die allerhöchsten Bedeutungen von Erlösung und Vervollkommnung zugesteht, doch immer noch ein Gefühl, das faszinierenderweise fast auf jeder Ebene der sprachlichen Qualität zu erreichen ist. Ihr Ausdruck ist wandelbarer als viele andere Gefühle, die eine spezielle Art der Herangehensweise erfordern, wenn wir sie durch das Gedicht erfassen wollen. Die Liebe jedoch, sie kennt auch schlichte, wahre Zeilen:

“ein leben ohne lachen ist leer,
ein leben ohne liebe ist schwer,
aber ein leben ohne dich
ist kein leben mehr”
(Michael, 19)

“Nicht zu wissen, was man denken soll,
ist nicht so schlimm, wie nicht zu wissen,
was der andere denkt,
an den man ständig denkt”
(Frit, 21)

Zum anderen waren die Botschaften über Liebe in diesem Band ja beschränkt, auf 160 Zeilen und in diesem Rahmen mussten die Dichter (zumeist jugendliche oder knapp über 20jährige) operieren. Dafür ist so manches Ergebnis dann schon beeindruckend.

“emotion (uralt/unendlich)
himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt,
such einsame Herzen
zwecks zusammenführung.
risikobereitschaft erforderlich,
wird evtl. belohnt.”
(Simone, 20)

und manchmal geradezu weise:

“hand in hand gehen wir einen weg
und entscheiden uns an jeder kreuzung
füreinander –
wo haben wir begonnen, wo werden wir enden?”
(Karin, 21)

10 Jahre ist das Buch jetzt alt und die SMS hat immer noch ihre eigene Kultur, SMS-Sprüche sind weiterhin “inn”. Jedoch ist gerade wenn es um Liebe geht, natürlich auch die emotionale Komponente der SMS interessant. Viele dieser Nachrichten mögen einfache Dichtungen sein oder große Worte, kleines Gebet – aber ihnen allen ist vermutlich jene Geschichte gemein: sie wurde eines Nachts, um 2.00 Uhr morgens zum Beispiel, nach einem wunderschönen oder niederschmetternden Abend versandt und in dem Moment konnte sie, mit ihrer simplen, blinkenden, aus kleinen Vierecken zusammengesetzten Buchstaben-Botschaft die ganze eigene Gefühlswelt umfassen, mit Zittern und Hoffen, als gäbe es nichts darüber hinaus. Auch so muss man sie lesen.

“Wenn das Meer die Tinte wäre
und der Himmel das Papier,
würde es nicht ausreichen,
um aufzuschreiben,
welche Gefühle ich für Dich habe.”

Mir hat das Buch, im Großen und Ganzen, trotz einiger Plattitüden und schwitzerdeutscher Unverständlichkeiten, gut gefallen. Besonders schön waren auch die letzten beiden Kapitel, in denen neben den Einsendungen zu dem Wettbewerb, durch den das Buch entstanden ist, auch einige Netz-Klassiker und einige kurze Gedichte von klassischen Autoren versammelt wurden. Z.B. Theodor Fontane:

“Erst unter Kuss und Spiel und Scherzen
Erkennst du ganz, was Leben heißt;
O lerne denken mit dem Herzen,
Und lerne fühlen mit dem Geist.”

“Liebe – die zarteste Versuchung,
seit es dich gibt.”
(Corinne, 21)

Wenn man bedenkt, dass der Spielraum beschränkt und die Emotion oft auf kurze Distanz, quasi ins Handy hinein, verarbeitet werden muss, ist die Sammlung Liebe 160 ein sehr vielschichtiges und nettes kleines Portrait eines Momentes, in dem Kunst und Berührung zusammenfanden. Vielleicht keine hohe Kunst, aber eine, die von mir zu dir geht, die etwas mehr über das Zwischenmenschliche erzählt, als über das Wesentliche – aber brauchen wir nicht gerade manchmal eine solche Kunst?

“Eines Tages sagte die Liebe zur Freundschaft:
-Wieso existierst du, wenn es mich gibt?-
-Ich bringe ein Lächeln,
wo du eine Träne zurückgelassen hast.-”
(Martin, 18)

Man kann in diesen Versen Virtuosität sehen und einen scheuen Glanz, man muss sich vielleicht nur einiger Dinge bewusst werden, die ich angesprochen habe. So verbleibe ich mit der Hoffnung, dass sich manche doch von diesem Buch für eine halbe Stunde beschäftigen lassen und vielleicht lockt es zumindest das ein oder andere Lächeln hervor – wie z.B. dieses Gedicht über das Magische des -EINEN- Kusses:

“Gestern ging ich nach Hause,
stieg die Tür hinauf,
schloss die Treppe ab, öffnete Licht;
und das alles nur, weil du mir
einen Kuss gegeben hast.”

und das ein oder andere Gedicht findet vielleicht den Weg ins Kuriositätenkabinett der Geschichten, Anekdoten und Sprüche, die wir uns erzählen oder die wir gerne verwenden.

“Eines Tages wirst du mich fragen,
wer mir wichtiger ist, du oder mein Leben.
Ich werde sagen: Mein Leben.
Und du wirst gehen, ohne zu wissen,
dass du mein Leben bist.”

“Wenn du eine Blume in der Wüste wärst,
würde ich immer vor dir knien und weinen,
damit du nicht verdurstest!”

“Liebe ist wie das Licht einer Kerze
in einem dunklen Tunnel.
Es zeigt dir zwar den Weg,
nur es sagt nicht,
was dich am Ende erwartet.”
(Isabelle, 39)

Link zum Buch

Ein “Wörterbuch der Liebenden” von David Levithan – eine Liebesgeschichte wie alle und doch wie keine


“Morgens, wenn du in meiner Wohnung herumläufst, in meinen Shorts und nicht weißt, dass ich schon wach bin. Du nimmst dir jeden Morgen dermaßen viel Zeit für deine Haare. Aber lass dir sagen: Am liebsten habe ich sie wirr, zerzaust, verwuschelt.”

Die Liebe ist nicht nur wegen dem Mythos, den wir um sie weben, etwas Besonderes, sondern auch weil sie eine der wenigen Sachen ist, in denen sich das, was die Welt verspricht und das, was sie einem gibt, elementar und unleugbar überschneiden; da, wo Authentizität und Schönheit sich treffen.

Und doch ist über Liebe zu schreiben (obwohl sich viele, was sie ausmacht, nicht sehr weit abseits dessen abspielt, was beinahe jede Liebesbeziehung ausmacht) immer auch ein Wagnis. Bei keinem anderen Thema muss man so sehr die Achtung vor dem Individuellen wahren und muss doch versuchen darzustellen und mit Worten zu vermitteln, was im Zentralen viele angeht und auch viele betrifft. “Ermiss die Hoffnung dieses Augenblicks, dieses Gefühls. Alles andere wird sich daran messen lassen”, steht gleich zu Anfang über das Verlieben und ich denke beinahe jeder kann ermessen, was dieser Satz einschließt und doch ist er wie ein endloses Parallelogramm, dass sich über die unterschiedlichsten Gefühle und Spiele der Emotionen schieben kann.

“Über Liebe zu schreiben ist letztendlich so, als versuche man, das Leben selbst in ein Lexikon zu packen. Egal, wie viele Wörter es enthält, es werden nie genug sein.”

Aber ein Roman geht weiter als jedes Lexikon, den er ist nicht die Definition, sondern die Ahnung, der Verschleiß, die Welt, das Lexikon der einzelnen Wörter. Er kann Abbilden ohne zu erklären und erklären ohne Abbildungen zu erschaffen, die mehr sind als die flüchtigsten Momente des Lebens selbst.

David Levithan hat mit dem “Wörterbuch der Liebe” einen Roman geschrieben, der gleichsam die Grenzen diese Genres sprengt und ihn doch im Bezug auf das Thema Liebe auf eine gewisse Weise vollendet hat. In ein- bis zweiseitigen Texten, die unter der Überschrift eines bestimmen Adjektivs, Verbs oder Substantivs gelistet sind, zeigt er uns Szenen, Gewohnheiten und Geschichten aus einer Beziehung; Kleinigkeiten, Verrücktheiten und Verliebtheiten – Abgründe und Probleme.

“antsy, adj. hibbelig, Adj.

Ich schwor, dich nie wieder in die Oper mitzunehmen.”

“buffoonery, n. Posse, Clownerie, f.

Du warst betrunken, und ich machte den Fehler, in einer halbleeren U-Bahn den Film Showgirls zu erwähnen. Die Haltestange hatte keine Ahnung, was auf sie zukam.”

Dies als zwei der kürzesten und unverfänglichsten Beispiele. Meistens dringt Levithan tiefer unter die Oberfläche des Liebens und des Geliebtwerdens. Es geht dabei nicht nur um die Person, die man liebt, sondern auch noch um die Beziehung, die wie eine dritte Person ständig in den Kreislauf eingreift, mit ihren bisherigen Errungenschaften, Wunden und Gewohnheiten. Es geht um die Schönheit der Augenblicke und um die Verschiedenheit der Ansichten, die unter dem Deckmantel dieser Schönheit verborgen bleibt und doch immer da ist. Und es geht um Wandlungen und Veränderungen – selten habe ich ein so intensives Buch über die Liebe gelesen, ein so unpathetisch poetisches, mit solch Sätzen wie:

“Wir haben die Oberflächlichkeit des Einanderwollens hinter uns gelassen und befinden uns nun in den Untiefen des Einanderbrauchens.”

Das hat schon etwas sehr präzises und doch auch etwas, dass man von einem Roman erwartet: Flüchtige Wahrhaftigkeit, nur auf der kompletten Achse dieses Satzes ganz sichtbar.

Die Schwierigkeit den Glanz eines Buches ganz zu vermitteln, diese Schwierigkeit lässt sich bei diesem Buch wieder einmal nicht ganz überwinden. Also schließe ich einfach: Wer die Liebe nicht ausgewalzt, nicht gestreckt und nicht überhöht und nicht verkannt und doch ein bisschen hautnah erleben will, für den dürfte dieses Buch doch einen Blick wert sein. Es ist angenehm und unterhaltsam zu lesen, nicht vertrackt und in seiner Natürlichkeit auf die wesentlichen Kleinigkeiten reduziert – und es zeigt, wie schön allein schon diese Kleinigkeiten sind.

“breathtaking, adj. atemberaubend, Adj.

Wenn wir uns morgens küssen und uns einander hingeben, eine Stunde lang, bevor wir ein einziges Wort sagen.”

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Das-W%C3%B6rterbuch-Liebenden-David-Levithan/dp/3548610846/ref=cm_cr_pr_pb_t

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen