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Ein Schnee der Worte, als schlucke man Landschaft: verdecktes gelände von nico bleutge


“ein drift, als die möwen sich
senken, ihr andruck, nicht hier

nicht zu fern. die luft ist gespannt
zwischen wirbeln, schubgeräuschen

und der ganze raum schlägt aus
über dem wasser der fahrspur.”

Als wäre man das Empfinden der Landschaft in sich, als wäre man das Feld der Erinnerung als Raum in einem verschlossenen Universum, in das nur dann und wann der Ruf eines Gedächtnisses dringt, so streift man durch die Gedichte von Nico Bleutges Band “verdecktes gelände”. Da gibt es kein hinterher, keine Entfernungen, keinen Fluchtpunkt – nur die Konturen, das Glas, auf dem unsere Eindrücke stehen, wie herunterperlender Regen, im Ankommen und Verschwinden.

Wann immer ich ein Bleutge Text oder besser noch, einen ganzen Band lese, habe ich danach eine kleine Prise Verschwinden in mir, die sich nur schwer wegpusten lässt, die aufsteigt und alles Licht in mir bricht. Seltsam, denn auf den ersten Blick sehen die Gedichte aus und klingen an wie Gitter, durch die man nur, Hände an die Stäbe, auf einen geschwungenen Ausblick von Nirgendwo sehen kann. Aber bald schon löst sich alles, nicht nur das Gitter, sondern wirklich beinahe alles, und fließt in diesen Ausblick hinein wie ein Fluss, immer weiter, und sammelt sich schließlich in einer tiefen Stelle oder an einer Kante, um hinunterzustürzen.

“luft dehnt sich aus und zerfällt
zu dichten flocken […] vor dem fenster
der schattenriss eines Vogels, der näherkommt
weiter und weiter entfernt”

Das klingt jetzt alles sehr mysteriös und vage. Doch da Bleutge ein Minimalist in Gesten und doch im gewissen Sinn ein Epiker der Worte ist, kann man ihm schwer beikommen, geschweige denn ihn empfehlen, ohne etwas lyrisch zu werden und sich ein wenig vom verständigen Lärm des Offensichtlichen zu entfernen. Wer diese Texte erfahren will, der braucht somit nicht nur Geduld, sondern vor allem den wirklichen Anreiz, einen Text als eine Botschaft aus miteinander (auf geradezu natürliche Weise) interagierenden Symptomen zu behandeln, als ein Ahnung, die der Leser aufgreifen muss.

“später dann war es
eine ungleichmäßige
durchdringung von
dächern und balken
fachwerkkanten
das dunkel darüber
nicht sichtbar, nicht sichtbar”

Nicht Schlaglicht auf Schlaglicht kommen die Zeilen, sondern als hinübergleitende Glieder einer endlosen Kette aus Schnee und Umrissen, Nebel, Grün und Grau. Darin auch menschliche Stimmen, einige Fassungen von Sicht und Ansicht, die durch die Wirklichkeit der Oberflächen, in Erscheinungen und Ansätze dringen. Aber eigentlich bleibt alles verschlossen, unerreichbar und doch als Element schon wieder in uns gespiegelt, wie die Kälteahnung im Sein des grauen, porösen Steins an den Außenwänden der Gebäude, in dem vielleicht auch eine wichtige Wirklichkeit begraben liegt, die aber nie wirklich an die Oberfläche kommt und in der Beschaffenheit der Form verstummt.

“war das ein erinnern? entfernungen,
geräusche, jenseits der stimmen

kaum zu verorten, kaum zu benennen,
im rhythmus des schnees

der die parkwege angeht
eisflächen, frostweiße blänke”

Alle Gedichte von “verdecktes gelände” haben den gleichen Atem, sie atmen nur dezent unterschiedliche Luft. Und durch sie zu streifen ist Atmen, durch die Kapitel und die Ansagen, die auf dem Weg plötzlich kurz auftauchen, um dann wieder im Rauschen und Gestöber eine bloße Ahnung zu werden, eine Fassung des Eben, keine Fassung des Jetzt. Das Jetzt ansich ist bei Bleutge präsent, wie bei fast niemandem in der deutschen Gegenwartsliteratur. Fast ewig könnte man ihm zuhören, diesem Klang von Jetzt, der sich immer ins nächste Wort, die nächste Geste, das nächste Bild schiebt, überträgt: Jetzt… Jetzt-: Jetzt. Und was enthält das Jetzt? Eindrücke, Fasern nur, in Wirklicht, und ein paar wenige sehr reale, nichtsdestotrotz flüchtige, Schemen, gebaut aus dem, was wir gerne als das Bleibende ansehen würden.

“rohlächen, gespür für ausbleibenden schnee
das licht über dem platz mehr wie ein dunstfilm
der dunst in sich aufnimmt.”

Eine wahrhaft lyrische, aber auch anstrengende Erfahrung kann man mit einem Bleutge-Band immer machen. Ich persönlich konnte, nachdem ich dieses Buch angefangen hatte, kaum mehr innehalten – was wiederum auch ein kleiner Makel ist: es gibt wenig Zeit für Besinnung, da diese Lyrik selbst schon so stark Besinnung ist – und den Leser etwas aussperrt. Aber: dieses Gestöber, diese Ahnung von Sein in Worten, geht einem auch schwerlich aus der Wahrnehmung. Wahrscheinlich kann man diesen Band in 20 Jahren wieder aufschlagen und schon ist man erneut in Bleutges winterlicher, grauer, farnbesetzter und aufdunkelnder wie abdunkelnder Landschaft gefangen. Gefangen wie ein Vogel unter der Kuppel des Himmels. Suchend. Wandernd. Und das Entstehen und Vergehen abseits (und in) der eigenen Wahrnehmung miterlebend.

Von der Schönheit so viel Ungesagtens: Gedichte von Johannes Kühn


“In Gesprächen wohn ich nicht gern.
An der Eiche lieber
meine Schulter,
allen Stämmen zugelehnt die Stirn.”

Wenig Freiheit und Wirkung liegt in dem Gedicht, das sich nicht zugesteht mit den Mitteln zu entstehen, die dem Dichter am natürlichsten und besten erscheinen. Dichtung mag ein Ereignis sein, aber ein Ereignis ist nicht unbedingt ein knallbuntes Spektakel, sondern kann auch eine sehr kleine, doch ständig präsente Stimmung sein, ein Strauch, ein Sommertag, ein Abend im Gasthaus, eine Stunde am Fenster. Ereignisse, so könnte man sagen, sind die Momente, in denen wir auftauchen – in denen wir nicht nur sind, sondern uns der Erfahrung des Seins auch ganz aussetzen können. Gedichte simulieren diese Auftauchen und sind gleichermaßen selbst ein Ereignis – so auch die Gedichte Johannes Kühns, der zusammen mit Rainer Malkowski und Peter Huchel zu den schlichten großen Dichtern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert gehört. Mit diesen beiden hat er dabei vor allem gemein, dass er alltägliche Aussichten und Vorkommnisse, karge Natur und tief liegende Gefühle, auf sehr eindrückliche Weise hervorzuholen versteht.

“Wer wirft gelesene Briefe aus dem Wolkenfenster?
Zerrißne Zettel,
von Bitten voll,
nun kehren sie zurück
als Flocken,
es war noch Sommer,
was verfasstet ihr da Klagen, als ein Feuer,
stand radgroß,
alle wärmend, oben.”

Dies Auswahl in diesem Band ist so etwas wie ein Lesebuch. Lange Zeit war Kühn nicht sehr bekannt und bis in die 90er Jahre hinein blieb ihm breite Anerkennung verwehrt und er hörte sogar eine Weile auf zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt wurde sein bis dato verfasstes Werk gesammelt und veröffentlicht.
In elf Kapiteln sind hier nun alte und neue Gedichte zusammengekommen, durch die einzelnen Kapitel vor allem umgebungsthematisch getrennt. Übergreifend sind fast alle Gedichte, außer einigen beeindruckenden Widmungen an Dichter wie Trakl oder Hölderlin, in sehr einfacher Form und Sprache gehalten, wobei die Schönheit der langsam aus Form und Worten aufsteigenden Imagination, oft über die Einfachheit der Darstellung hinauswächst und eine unnachahmliche Vorstellung ergibt. So werden Kühns Betrachtungen und Geschichten Stück für Stück zum Erscheinungsbild der Dinge.

“Die Nadelstiche der Libellen nähen
am blauen Tag ein blaues Kleid
der Wassernixe,
die am Abend kommt,
es fortnimmt,
so jeden Sommertag.”

“Dann kommt die Sonne
und malt zu Goldbuchstaben
Fenster und Fenster.
Der Himmelszug
der Habichtszeilen
drängt sich ins Herz,
gelungener Schulaufsatz
vom Glück.”

Er erschließt Stimmungen, als wären sie tatsächlich in den Worten anwesend – und in seinen Versen strahlt die Realität manchmal und urplötzlich wie etwas Verheißungsvolles, Schönes, Tieferes – zumindest wie etwas, dem nicht der Verstand, sondern nur das Gefühl ebenbürtig ist; auch etwas Trauriges, möglicherweise, weil es einem nicht gehört, was aber, wie Brodsky richtig meinte, “ein wesentlicher Zug des Schönen ist”.

Wahrscheinlich ist vieles, was man sonst über die Gedichte noch sagen kann, zu eng gegriffen, um alle Wege ihrer Sprache anzudeuten. Kühn lebt die Mythologien von Natur, Dorf, Wald und Wiesen aus, belebt sie wieder und verschmilzt sie mit dem Tagwerk, Leid und Trost der Menschen; aber er hat auch oft ein instinktives Gefühl dafür, wo ein Gedicht hin will und wie man es innerhalb seines Themas, ganz ungewohnt, aber vortrefflich, wendet oder vollendet.

“Wenn ein Geizhals am Ursprung der Wetter säße,
gäbe es nur einen Sonnenstrahl,
die anderen hielte er zurück
für sich.”

Der echte Dichter wird stets bemüht sein, eine eigene Stimme zu entwickeln. Und an den schönsten deutschen Dichtern kann man immer wieder sehen, dass man dafür keinen extravaganten Wortschatz zu kreieren braucht, sondern nur die Dinge lange genug mit den Augen der Sprache betrachten muss – eine Kunst, die Johannes Kühn so vortrefflich beherrscht.
Über eine Hochzeit schreibt er:

“Maiblüten
in die Straßen herein
werfen aus grünen Hoffnungsbäumen
sicheren Schein
in der Braut Gesicht
und die Seele leuchtet von Innen.”

Ein Bild wie für den Moment geschaffen, in dem es einst geschah, gemalt für die Vorstellung, welche immer und überall Wunder sehen kann, wenn sie nur will.

Ganz zuletzt sei nicht verhehlt, dass auch zahlreiche ernste und melancholische Töne auf diesen Seiten zu finden sind. In ihnen liegt die machtvolle Ruhe eines Dichters, der sich ganz auf die Dinge einlässt, beinahe verschwindet dahinter, ganz so als wären sie die, die schreiben und er nur das Objekt, das als lyrisches Ich passiert. Erfassungen von Wesenheiten, wie sie sonst nur das Unbewusste erreichen kann, in Form von breiten, einzigartigen, spezifischen Empfindungen, sind, allumfassend, Kühns großer lyrische Verdienst.

“Frühlingsschönes Denken an die Gärten der Kindheit!
Über mir der Schwalben Tintenflug
durch der Himmel Pergament
nahe mir die Buche,
die stand schauerlich gütig,
als hätte ihr eingeatmet
ein Greis eine Seele.”

Ganz zuletzt möchte ich noch aus dem Nachwort Ludwig Harigs zitieren, der sich sehr für die Anerkennung Kühns eingesetzt hat:
“Ihm, dem Dichter, offenbart sich – wenn man Peter Rühmkorf glauben darf – aus einem unvermuteten Augenaufschlag die Welt als eine Wundererscheinung. Doch mitten im Zauberglanz, rund umhüllt, der Wundererscheinung, bleibt er der realistische Dichter, der dem Geschauten zu einem zweiten Dasein verhilft.”

Ein Buch, randvoll mit dem zweiten Daseins vieler Dinge, die zurecht nicht in Vergessenheit geraten sollten, weil sie das Wesen unserer Welt auf einfache Weise zu präsentieren verstehen – so gut dargestellt, besser, als man selber oft hinsieht; fast durchweg eines der großen Leseereignisse in der deutschen Poesielandschaft. Eine rundum Erfahrung für alle der Welt verbundenen Leser, die auch ihre Schönheit immer wieder verheißen hören.

Zuletzt noch einige kleine Zitate:

Über einen Baum:
“O grüner Kopf, der mit den Vögeln denkt”

Über einen General:
“Orden wachsen ihm über die Brust
wie in reicher Wiese Margeriten im Frühjahr.”

Über den Fuchs:
“Sieh ihn,
gemalt als Fackel, Warnung vor sich selbst.
[…]
In Räuberein
hält er sich ritterlich schlank,
die Junker alter Zeit
in Gräbern modern. Er lebt.”

“Einen Weg geh ich, komme an, dort,
wo die Hecken wie Abenteuer leuchten.”

“Es schläft ein Igel leis
in mir: die Zuversicht.”

“Entzückt sitzt der Trinker
an seinem Glas,
und alle anderen Welten sinken.”

“Wer hat die Langweile,
den einhufigen Gaul,
meinem Lebenskarren vorgespannt.”

“Abends,
wie schnürt sich mein Atem.
Mit dem silbernen Mond
kommt mir die Erde
noch einmal entgegen”

Link zum Buch