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Zu “Junger Mann” von Wolf Haas


junger mann „Junger Mann“, das kann man direkt vorweg sagen, ist eine Wehmutsgeschichte, eine Geschichte über die Jugend, die erste Liebe. Es ist keine schlechte Geschichte, aber wer den wilden Wolf Haas kennt, den Haas von „Das Wetter vor 15 Jahren“ oder „Ausgebremst“ oder „Die Verteidigung der Missionarsstellung“, den Haas der schiefen Komik, dem wird dieses schöne Buch, trotz gewisser Schnörkel und dem ein oder anderen eigenwilligen Witz, doch allzu brav erscheinen.

Aber eins nach dem anderen, zunächst zum Inhalt: Haas junger Mann lebt Anfang der 70er Jahre in der Nähe des Deutschen Ecks in Österreich und jobbt bereits mit zwölf Jahren an einer Tankstelle. Oft frequentiert wird diese Tankstelle von Tscho, einem Lastwagenfahrer, der oft die Strecke bis hinunter nach Griechenland fährt und in seiner Freizeit an Autos herumschraubt, Totalschäden wieder auf Vordermann bringt. Tscho ignoriert den jungen Mann, den viele wegen seiner blonden Locken und seiner fülligen Figur nur „junges Fräulein“ nennen. Als der junge Mann aber zum ersten Mal Tschos neue Freundin Elsa erblickt, ist es um ihn geschehen – er will abnehmen und er will vor allem: Elsa …

Der in vielen anderen Büchern so originelle Haas gibt sich kaum Mühe, diesem schon oft gestrickten Plot einen eigenen Stempel aufzudrücken. All die üblichen Zutaten finden sich: leicht skurrile Figuren, Scham und Neugier des jungen Mannes, Anekdoten und Anekdötchen, schließlich eine Heldenreise, auf der sich das Erwachsenwerden einzustellen beginnt, ein dunkles Geheimnis, viel Hoffnung, viel Jugend.

Natürlich hat jeder Autor (und jede Autorin) das Recht auch so ein Buch zu schreiben, ein leichtes, aber nicht allzu leichtes Buch, einen harmlosen, aber berührenden Entwicklungsroman light. Weder wird die Fettleibigkeit des jungen Mannes über Gebühr thematisiert, noch gibt es sonst irgendwelche größeren Konflikte. Wäre mit diesem Wort nicht auch Verachtung verbunden, die dieses Buch nicht verdient hätte, könnte man es ganz einfach mit einem Adjektiv beschreiben: seicht.

Seicht nicht im Sinne von belanglos. Aber schon in dem Sinne: ohne Beißen und Stechen, ohne eine Spur wirklicher Tragik. Es ist eine heile Welt, die Haas da serviert, so sehr sie auch von kleinen Erschütterungen durchzogen ist. Diese Erschütterungen halten zwar den Plot in Bewegung, dringen aber nicht bis zu den Lesenden vor, die sich einfach in der schönen Spannung der Liebesgeschichte und der Abenteuergeschichte sonnen können. Warmherzig hat jemand darüber geschrieben – ja, das stimmt. Wem danach ist, wer ein solches Buch lesen will: Voila.

Zu Lisa Hallidays “Asymmetrie”


Asymmetrie, Halliday Es ist symptomatisch, veranschaulicht zusätzlich die im Rahmen dieses Buch angelegte Diskrepanz (oder Asymmetrie): der Fokus der meisten angloamerikanischen Besprechungen zu Lisa Hallidays Debüt lag beinahe ausnahmslos auf dem ersten Abschnitt des Buches, seinen Hintergründen und Umständen. Immer wieder wurden diese Hintergründe und Zusammenhänge heruntergerattert (und auf gewisse Weise schließe ich micht mit meiner Kritik daran diesem Trend leider an): Der erste Abschnitt beschreibt die romantische Affäre zwischen einem alten jüdischen Schriftsteller, der alle höchsten literarischen Ehrungen erhalten hat (außer dem Nobelpreis), und einer jungen Verlagslektorin in New York; man weiß: Halliday und der amerikanische Autor Philipp Roth hatten eine Beziehung miteinander als sie jünger war; Roth gefiel das Buch, er lobte es; Halliday betont, dass der größte Teil Fiktion sei. Ring frei für wilde Spekulationen oder ebenmäßige Erläuterungen. Schon konnte man meinen, das Buch enthalte nur diese Geschichte.
Das deutsche Cover präsentiert uns dementsprechend eine Skyline und auf dem Umschlagrücken steht:

Es beginnt mit einer Eiswaffel, auf einer Bank im Central Park.

Zwar wird weiter unten auch auf den zweiten Teil des Buches hingewiesen, der am Londoner Flughafen Heathrow und, in Rückblenden, im Irak und in Kalifornien spielt, aber ein flüchtiger Blick könnte den Eindruck vermitteln, hier handle es sich um eine New York-Geschichte, einen von der anderen Seite erzählten Philipp Roth-Plot. Da ich aber diesen ersten Teil tatsächlich für weniger gelungen halte – sowohl was die Figuren als auch was die Inszenierung angeht – wende ich mich zunächst dem zweiten Teil zu.

Amar wurde in einem Flugzeug, das gerade die USA überquerte, als Kind irakischer Eltern geboren. Wegen diese besonderen (und symbolträchtigen) Umstände, hat er beide Staatsbürgerschaften, die irakische und die amerikanische. Für ihn bleiben die Vereinigten Staaten das Land der Wahl, obgleich er wegen seiner Familie, vor allem wegen seines dort lebenden Bruders, nie den Kontakt zu dem Land seiner Abstammung verliert. Doch die Geschichte der irakisch-amerikanischen Beziehung im späten 20. Jahrhunderts ist, wie alle wissen, eine wechselhafte, letztlich desaströse. Am Anfang noch wird Saddam Hussein von den Amerikanern als Gegenpol zu der iranischen Revolution aufgerüstet, doch mit seinem Einmarsch in Kuwait und mit dem ersten Golfkrieg ändern sich die Gegebenheiten; und sie ändern sich wiederum als Saddam Hussein stürzt und mit ihm das Land, nämlich in noch größeres Chaos.

Als wir Amar begegnen, wird er gerade am Flughafen Heathrow festgehalten, ohne greifbaren Grund, vermutlich schlicht, weil er aus den USA kommt, Amerikaner ist, aber zwei Pässe hat, und gerade über die Türkei in den Irak einreisen will. Ein langes Warten beginnt, in dessen Verlauf Amar – angeregt durch die aktuellen Ereignisse, den Punkt an dem er jetzt in seinem Leben steht – an die Stationen seiner Lebensgeschichte zurückdenkt und in welcher Beziehung sie zu seiner doppelten Nationalität standen. Lisa Halliday gelingt (obgleich ich bei den vielen Zeitsprüngen nicht ganz mitgekommen bin und eine genaue Chronologie nicht nachzeichnen könnte) ein gut aufgefächertes Panorama, in dem sich unwillkürlich die vielen Facetten der US-amerikanischen Mentalität und der Unterschiede zur Mentalität im Nahen Osten auftun.

Auch sehr zugute halten muss man Halliday, dass sie aus Amar keinen Amboss macht, auf dem sie eine große Theorie über den Irakkrieg, die US-amerikanische Außen- und Einmischungspolitik und die Gefahren des 21. Jahrhunderts schmiedet. Die Figur und ihre begrenzte Perspektive, Amars ganz eigene Erfahrungen, stehen im Mittelpunkt; in dieser Perspektive, diesen Erfahrungen, spiegeln sich natürlich allerlei Ansätze von größeren Themen und Realitäten, die von einem Bild des modernen Irak bis zu den Wurzeln von Donald Trumps Repressionen gegen muslimische Bürger*innen reichen. Amars Lebensweg erscheint authentisch, mit allen Wendungen; die Geschichte seiner Familie, das darin schwingende Pendel zwischen USA und Nahost, wirkt gleichsam exemplarisch und individuell. Auch an der Art, wie Halliday Rückblenden und Gedankengänge sprachlich inszeniert, ist wenig auszusetzen – klug lässt sie die Unsicherheit und die Anspannung von Amar einfließen in die Struktur und den Verlauf seiner Überlegungen, seiner Erzählung.

Kurzum: Würde in diesem Buch nur diese Geschichte erzählt, es wäre nur 110 Seiten lang, aber es wäre eine beeindruckende menschliche Studie, ein gelungenes Porträt. Aber alles beginnt ja auf einer Parkbank im Zentralpark.

Während ich die Beschaffenheit der asymmetrischen Komponente im zweiten Teil für sehr vielschichtig und komplex halte, wirkt sie im ersten Teil geradezu plump: hier wirkt nichts wirklich asymmetrisch. Was trennt die beiden „ungleichen“ Liebenden, den Starschriftsteller Ezra Blazer und die Juniorlektorin Alice, anderes als das Alter? Nun will ich keineswegs behaupten, dass eine Geschichte über Liebende grundverschiedenen Alters nicht interessant sein kann oder ein alter Hut ist. Nichts Menschliches ist ein alter Hut und wenn jemand (oder eine ganze Gesellschaft) von etwas übersättig ist, dann hat das ebenso viel mit der Nachfrage zu tun wie mit dem Angebot.

Mir geht es also in Bezug auf diesen ersten Abschnitt nicht nur um die mangelnde Innovation. Er wirkt einfach trocken und nicht gut inszeniert, uninspiriert, scheint sich von einer Szene zur nächsten zu hangeln, als müsste die Autorin die 150 Seiten-Marke erreichen. Als Einwand könnte geltend gemacht werden: aber vielleicht geht es ja genau darum, um eine ungeschönte Darstellung, das Unaufgeregte, den Alltag eines Paares, dessen Alter weit auseinander liegt. Mag sein. Aber ich möchte dann schon verstehen, wie dieses Paar emotional ineinander verwickelt ist. Ich möchte die Figuren im Spiegel ihres Umgangs kennenlernen. Beides passiert nicht. Stattdessen laviert das Buch vor sich hin, in Sätzen und Szenen, die wohl Symptomatisches, Doppelbödiges enthalten und Zwischenräume lassen sollen, aber einfach nur wie zu dünn aufgetragen, zu baufällig gezimmert wirken. Dialoge wie dieser sollen vielleicht knapp und gleichsam hintergründig wirken, sparsam und feingliedrig:

Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug die goldene Medaille vom Weißen Haus, die er an den Griff gebunden hatte, laut klappernd gegen die Tür. Alice ging wieder zum Bett.
„Liebling“, sagte er. „Ich kann kein Kondom tragen. Niemand kann das.“
„Okay.“
„Was machen wir dann wegen Krankheiten?“
„Na ja, also ich vertraue dir, wenn du …“
„Du solltest niemandem vertrauen. Was, wenn du schwanger wirst?“
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich würde abtreiben.“
Als sie sich später im Bad wusch, reichte er ihr ein Glas Weißwein durch die Tür.

 

Aber sie wirken stattdessen unausgereift, apathisch manchmal, wie ohne Hintergrund und Inhalt, wie eine Hülle. Ich erfahre zwar alles Mögliche über die beiden Figuren und was sie miteinander machen, wie sie leben – aber ich erfahre nichts über sie; es gibt keinen Moment, wo sie heraustreten aus ihren Beschreibungen, dreidimensional werden.

Ist das die Asymmetrie? Hier die Oberfläche einer Liebesgeschichte, die Neurose der amerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts adaptierend und glättend, und auf der anderen Seite die Tiefe einer menschlichen Psyche, zerrissen zwischen der Dominanz der US-amerikanischen Lebensweise auf der einen und den Auswirkungen dieser Dominanz auf der anderen Seite? Gut, das taugt was, als großes Bild, aber es macht diese erste Geschichte nicht besser, nicht lesenswerter. Vor allem nicht als Fiktion. Als autobiographischer Bericht (wie einst die Geschichte von Joyce Maynard über ihre Zeit mit J. D. Salinger) würde diese Story vielleicht noch etwas hergeben. So wirkt sie zahm, lahm, allzu glatt, ohne wirkliche Einfühlungsmöglichkeiten, ohne Reiz.

Auch als Liebeserklärung an den Autor Philipp Roth oder sein Schreiben, kann man diesen ersten Abschnitt nicht gelten lassen – diese Absicht ließe sich am ehesten im dritten, kürzesten Teil finden. Dieser dritte Abschnitt ist ein Interview mit Ezra Blazer, bei dem er über seine Lieblingsmusik sprechen soll, wie sie seine Biographie begleitet und geprägt hat. Dieser dritte Teil ist gelungen und obgleich Blazer auch hier ein bisschen wie ein Platzhalter wirkt und ganz klar als Figur auftritt, ist doch sehr viel mehr Leben in diesem kurzen Abschnitt als auf den ganzen ersten 150 Seiten.

Fazit: Ja, Lisa Halliday ist eine gute Autorin, aber die ersten Seiten ihres Debüts wirken bemüht und etwas einfallslos; sie wagt viel zu wenig. Die Chance, die in der Darstellung einer solchen Beziehung aus weiblicher Perspektive liegt, lässt sie ungenutzt verstreichen und bringt fahrlässig wenig von den Emotionen und der Persönlichkeit ihrer Protagonistin ein. Der zweite Teil ist wie gesagt beeindruckend, bestechend. Der dritte ein schöner Schluss, elegant. Hätte man den ersten Teil um 100 Seiten gekürzt oder anders inszeniert, wäre es ein tolles Buch geworden. Wobei der Titel „Asymmetrie“ immer noch ein wenig hochgegriffen wirken würde, den dafür kommunizieren Teil 1 und 2 einfach zu wenig und selbst die oben angesprochene Idee stellt die Teile zwar einander gegenüber, aber verknüpft sie nicht wirklich miteinander. Das Ungleichgewicht ist ein ästhetisches, kein konzeptionelles.

Zu “Wir sagen uns Dunkles” über Paul Celan & Ingeborg Bachmann


Ingeborg Bachmann und Paul Celan: schon um ihre einzelnen Existenzen und Werke ranken sich Legenden, Geheimnisse und allerhand literaturwissenschaftliches Beiwerk ist zu diesem Kosmos aufgehäuft worden. Aus der Geschichte der Nachkriegslyrik sind sie, jeder für sich und aus unterschiedlichen Gründen, nicht wegzudenken. Doch die Launen des Schicksals (oder eine geheimnisvolle Zwangsläufigkeit) bescherten der deutschen Literatur darüber hinaus eine kleine Liebesgeschichte poetischen Ausmaßes, mit Wendungen, vieldeutigen Bezügen und vielzitierten Anekdoten. Diese Geschichte ist eng mit dem Briefwechsel verbunden, der 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ publiziert wurde.

Doch in welchen Kontexten die Briefe standen und was sich an Hintergründen und Verflechtungen zusammentragen lässt, ein Buch dazu stand noch aus. Helmut Böttiger, ein renommierter Autor, hat nun mit „Wir sagen und Dunkles“ einen Versuch gewagt.

Der Titel (ein Zitat aus Celans Gedicht Corona) ist in zweierlei Hinsicht trefflich: zum einen klingt darin viel von dem Nimbus an, welcher die Beziehung bist heute umgibt und auch das Wesen dieser Beziehung, ihre Grundlagen und ihre Art der Kommunikation, deutet sich in der Zartheit und Untiefe dieses Satzes an. Zum anderen ist darin aber auch ein Faktum festgestellt, dass einen leichten Schatten auf das Buch wirft: einiges wird für immer im Dunkeln bleiben. Denn trotz des Briefwechsels und verschiedener Aussagen von Freund*innen, Weggefährt*innen und anderen Zeitzeug*innen, gibt es Lücken und weiße Flecken, die auch Böttiger nur mit Spekulationen füllen kann – gut abgewogenen Spekulationen, die genug Licht werfen, nichtsdestotrotz bleibt es eine nicht ganz zu Ende erzählte Geschichte. Das Buch weist allerdings auch über diese Geschichte hinaus.

Die Geschichte zweier dichterischer Existenzen ist nahezu zwangsläufig die Geschichte einiger Sehnsüchte, einiger Lebensthemen, die in der Begegnung aufeinanderprallen, aufgefangen werden, sich aneinander reiben, sich spiegeln, sich irritieren. Aus diesem guten Grund hat Böttiger nicht einfach nur die wenigen Zeiträume in Licht gerückt, in denen sich konkret etwas zwischen Bachmann und Celan entwickelte, sondern beleuchtet im Stile einer Doppelbiographie mal den einen, mal den anderen Lebensweg, und lediglich das besondere Augenmerkt liegt auf den Überschneidungen und gemeinsamen biographischen Höhepunkten.

Es ist bemerkenswert wie Böttiger sich auf die Einzelpersonen einlässt – bei beiden gelingt ihm eine sehr organische Darstellung der Persönlichkeiten, mit allen Widersprüchen und Mythen. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass der wahre Verdienst dieses Buches die Darstellung der Einzelexistenzen ist: in ihrer ganzen Vielschichtigkeit werden die beiden Dichter*innen entschleiert, ohne dadurch entzaubert zu werden. Und auch wie sie sich in ihrer Zeit bewegen, ist vielfach ein Thema. Geschickt kreist das Buch um alle profanen und gesellschaftlichen Probleme, aber auch um alle seelischen und existenziellen Nöte, Entscheidungen und Ereignisse.

Um letztere zu umreißen unternimmt Böttiger einige, geradezu leidenschaftliche, Tauchgänge in die Privatmythologien der beiden Dichter*innen und analysiert die subtile, unterschwellige Korrespondenz, die über Jahre hinweg in ihren Schriften stattfindet; ihr unterschiedlich gewichtetes, aber hier und da mit einem Widerschein des anderen versehenes Ausformen. Passagen, die die Lebensentwürfe und -stationen der beiden im Fokus haben, wechseln sich ab mit anderen, in denen feine Analysen der jeweiligen Gedichte. Briefe oder Aussagen erbracht werden.

Kurzum: der Versuch ist geglückt. Nach diesem Buch sieht man die Geschichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann noch einmal ganz anders und an vielen Stellen klarer. Das verdankt sich nicht zuletzt der guten Strukturierung und der anschaulichen, nicht nur an der Oberfläche bleibenden Darstellung, die auch Hintergründe, die das Gesamtbild der beiden Charaktere komplettieren, aber nicht direkt etwas mit ihrer gemeinsamen Karriere zu tun haben, einbringt. Ein faszinierendes und über weite Strecken sehr gelungenes Doppelporträt, das an vielen Stellen über sich hinauswächst.

Amsél: Wiedersehen in Tanger


Heute von mir erschienen auf der Plattform “We read indie”:

We read Indie

Amsél, Wiedersehen in Tanger„Es heißt, Tanger sei wie ein Spiegel: Wer sich darin erblickt und nicht aushält, was er sieht, muss unverzüglich abreisen. Wer es aber schafft zu ertragen, was der Spiegel ihm zeigt, der muss immer wieder zurückkehren, den lässt die Stadt nicht mehr los.“

Ein Gastbeitrag von Timo Brandt

Ganz in der Nähe der Straße von Gibraltar, den Säulen des Herkules, liegt die Stadt Tanger – ein mystischer Ort (an dem es, wie an so vielen mystischen Orten, vor profanen Dingen nur so wimmelt – vielleicht fallen sie einem aber auch nur besonders ins Auge). Beiden Seiten wird in diesem Buch Rechnung getragen: dem Profanen in den Beschreibungen der Landschaft und den meisten Geschehnissen, das Mystische liegt tief in den Figuren und findet zwischen ihnen statt, bevölkert ihre Geschichten, ihre Ansichten. Egal wie gewöhnlich (und darin schön wie schrecklich) die Welt draußen ist – die Figuren schöpfen die Mysterien aus sich…

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Mario Vargas Llosa und “Tante Julia und der Kunstschreiber”


Mario Vargas Llosa ist ein Chamäleon. Fast in jedem seiner mittlerweile 16 Romane hat er sich neue thematische und stiltechnische Ursprünge gesucht und neue Belange und Ideen an seine Prosa angelegt – eine Qualität, die nur ein ausgewählter Kreis aus Romanciers für sich beanspruchen kann. Was viele seiner Romane trotzdem verbindet ist der Witz, der in unterschiedlichen Formen, manchmal offensichtlich, manchmal zärtlich, manchmal grotesk, sich in seinen Werken eine Bahn bricht und die Virtuosität, mit der sich in einem Buch auf mehreren sprachlichen Ebenen bewegt.

Tante Julia und der Kunstschreiber entstand als erster Roman einer Periode, nachdem sich Llosa von den Prinzipen des “totalen” Romans (bestes Beispiel für diese Formulierung ist der sich selbst verschlingende Romankoloss Gespräch in der »Kathedrale«) teilweise losgesagt hatte. Deswegen ist er zwar formal wie seine Vorgänger sehr ausgeklügelt, sprachlich jedoch zugänglicher und begnügt sich damit, nicht kosmisch, sondern lediglich vielfältig zu sein.

In dem Rahmenteil der Geschichte erzählt Llosa aus einer biographischen Episode seines Lebens. Damals, mit 18, arbeitet er beim Rundfunk und ist für die stündlichen Kurz-Nachrichten zuständig. In diese Zeit fällt auch sein beginnender Wunsch, Schriftsteller zu werden und die Begegnung mit seiner ersten großen Liebe, die allerdings ein wenig problematisch ist. Keine dieser Schilderungen kommt mit einer Prägung des Erinnerten daher, sonder wird mit der Unverstelltheit einer realistischen Fiktion erzählt.
Der andere Teil des Buches besteht aus Hörspielserien (quasi Radioseifenopern – ein Produkt, welches tatsächlich in den Mittel- und Südamerikanischen Ländern viel verbreiteter war als z. B. in den USA und erst dorthin importiert wurde), die der neue Hausautor des Senders, ein pedantischer Schreibwütiger, verfasst, wobei er meist mehrere gleichzeitig für verschiedene Wochentage produziert. Allerdings verliert er bald schon den Überblick über Personen und Handlungsstränge, was zu höchst verwirrenden und amüsanten Verwicklungen und Paradoxien für die Hörer-(und Leserschaft) führt…

“Tante Julia und der Kunstschreiber” lebt davon, dass sich beide Haupt-Handlungsstränge immer wieder ablösen, man also abwechselnd wieder einen Teil aus der Episode der Liebesgeschichte, dann eine Hörspielserie liest. Man will bei beiden unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Wer gerne Romane liest, weil ihn die Möglichkeiten dieser Form genauso fasziniert wie eine gute, interessante Geschichte, bei dem dürfte dieses Buch besonderen Anklang finden. Wer dagegen beim Roman nach dem Motto: “Keine Experimente!” lebt und eher eine geradlinige Erzählstruktur bevorzugt, wird diesen Roman möglicherweise als mühsam empfinden. Mir hat er sehr gefallen – er ist wirklich eines dieser Bücher, die man in sehr dankbarer Erinnerung behält.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.