Tag Archives: Links

Das sozialistische Licht in finsteren Zeiten


suhrkamp_jacobin.jpg itok=HQsq9Jl8

Während der Großteil der winzigen amerikanischen Linken im Jargon und Klischees gefangen blieb und sich darauf beschränkte, ein ums andere Mal vergangene Schlachten neu zu inszenieren, die für den Durchschnittsamerikaner keinerlei Relevanz mehr haben, machte sich Jacobin daran, das sozialistische Projekt durch eine unverbrauchte Sprache und Ästhetik zu bereichern, und schreckte nicht davor zurück, sich gelegentlich auch einmal über sich selbst lustig zu machen. (Aus dem Vorwort)

Obwohl (oder gerade weil) Donald Trump derzeit im Weißen Haus regiert und seine Gegenkandidatin bei der letzten Wahl eher die konservative Seite der Demokratischen Partei repräsentierte, ist in den USA in den letzten Jahren wieder eine stärkere linke Bewegung entstanden, die sich nicht scheut Worte wie „Umverteilung“, „Sozialismus“ oder den Namen Karl Marx in den Mund zu nehmen.

Als Flaggschiff dieser Bewegung wird (neben Persönlichkeiten wie Bernie Sanders und gewerkschaftlichen Gruppen) immer wieder das Magazin Jacobin genannt, dass 2010 von dem damals 21jährigen Bhaskar Sunkara gegründet wurde. Mittlerweile hat die Print-Ausgabe eine Auflage von 30.000 Stück und die Website monatlich mehr als eine Millionen Klicks. Noam Chomsky nannte die Zeitschrift „a bright light in dark times“ und mit dem Ada Magazin ist sogar schon eine Schwesterzeitschrift in Deutschland entstanden.

Im Suhrkamp Verlag ist nun eine von Loren Balhorn (Redakteur bei Ada und Jacobin) und Bhaskar Sunkara herausgegebene Anthologie mit Beiträgen aus acht Jahren Jacobin erschienen – Interviews, Essays, Streitschriften, aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer.

In diesem Modell der sozialen Gerechtigkeit lautet das Ziel also nicht, dass die Reichen nicht so viel und die Armen mehr verdienen sollten, sondern dass die Reichen verdienen können, so viel sie wollen, solange ein angemessener Prozentsatz von ihnen Frauen sind oder Minderheiten angehören.“ (Walter Benn Michaels)

Den Anfang macht ein Interview mit Walter Benn Michaels aus dem Januar 2011. In einem sehr ausgewogenen Gespräch, bei dem der Interviewer (Sunkara) oft kritisch nachfragt, vertritt der Literaturtheoretiker und Autor Michaels die Ansicht, dass die Gleichberechtigungsdebatten und -gesetzte in den USA neoliberale Positionen stützen, zumindest aber von ihnen instrumentalisiert werden. Seine These ist, dass die soziale – oder anders gesagt die Klassen- – Frage die vorrangige ist und der Umsturz der neoliberalen und kapitalistischen Hierarchien das wichtigste Ziel, das letztlich allen Emanzipationsbewegungen zugutekommt.

Mike Beggs zeigt in seinem Text „Ein Zombie namens Marx“ wie sich die Philosophien und Ideen des Vordenkers auf den Gebieten “Kapital” und “Arbeit” in die heutigen Zeiten integrieren lassen, wo sie anpassbar sind und wo sie ganz neu gedacht werden müssen.

Sehr gelungen ist auch der nächste Essay, in welchem der Autor Peter Frase vier mögliche Zukunftsversionen für unsere heutigen Gesellschaften entwirft, vor allem anhand von zwei grundsätzlichen Parametern: 1. sind es Gesellschaften die noch egalitärer oder noch hierarchischer geworden sind? Und 2. sind es Gesellschaften, deren technologische Errungenschaften die Ressourcenfrage gelöst haben oder sind es Gesellschaften, die sich in dieser Frage mit einer Knappheit konfrontiert sehen? Die vier möglichen Kombinationen sind nicht nur interessante Gedankenspiele, Dystopien und Utopien, sondern zeigen vor allem, welche Anlagen in unseren Gesellschaften bereits vorhanden sind – und sich ohne ein Umschwenken und Überdenken verselbständigen könnten.

Der Kabarettist Volker Pispers sagte in einem seiner letzten Programme (in etwa): Wer wissen will, auf was für Zustände wir uns in Europa zubewegen, wenn wir Dynamiken wie die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich und die immer größere Abwertung der Arbeit nicht in den Griff kriegen, muss nur über den Ozean blicken: die USA sind uns ein Stück voraus was den radikalisierten Kapitalismus angeht; aber kein riesiges Stück. Frase Text zeigt, was man sich, auf der Grundlage der US-amerikanischen Realität, für Szenarien vorstellen kann, ja: vorstellen muss.

Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur ungleich verteilt. (William Gibson)

In „Rot und Schwarz“ setzt sich Seth Ackermann mit den zeitgenössischen Möglichkeiten und Perspektiven, sowie den historischen Versäumnissen der Planwirtschaft auseinander.

Nach einem kurzen Rundumschlag vom Herausgeber Bhaskar Sunkara, der die Selbstverliebtheiten der zersplitterten, linken Bewegung anprangert und einen knappen Abriss der gemeinsamen Themen, auf die man sich konzentrieren sollte, gibt, folgt ein Text von Alyssa Battistoni mit dem Titel „Zurück in keine Zukunft“.

Dieser Text hat es in sich, denn im Prinzip ist seine Kernaussage: Es ist eigentlich schon zu spät. Die Mühlen mahlen so schnell … selbst wenn man sofort mit aller Kraft versuchen würde sie zu stoppen, könnte das Getriebe immer noch genug Schwung haben, um unsere Zukunft zermalmen. Und wir sind weit davon entfernt, das Getriebe anzuhalten – wir streiten meist darüber, wo das Wasser herkommen soll, das die Mühlen antreibt.

Battistoni weist im Zuge ihrer schonungslosen Klarstellung auf ein Grundproblem des Lebens in kapitalistischen Systemen hin: den Leuten wird gesagt, sie können es schaffen (besser wäre vielleicht, man würde ihnen sagen, dass der Planet, dass die Menschheit es noch schaffen kann, wenn…), wenn sie sich anstrengen, gut genug sind.

Dieser auf die persönliche Zukunft gerichtete (und auf sie verengte, fixierte) Blick, in der man zu reicheren Höhen emporsteigt – die so tun als wären sie durch keine Umstände bedingt, als ständen sie einfach jedem zur Verfügung – verstellt den Menschen den Blick auf die allgemeine Gegenwart und die allgemeine Zukunft. Darüber hinaus: die Zugänge zu dieser ominösen, reicheren Zukunft sind (sofern es sie überhaupt gibt) limitiert und oft längst schon reserviert. (Man fühlt sich an Kafkas Torhüter-Parabel erinnert …)

Fazit: Wir haben immer noch nicht begriffen, was auf dem Spiel steht.

Wenn man die Leute ausbeuten will, gibt es keinen besseren Trick, als sie davon zu überzeugen, dass sie lieben, was sie tun.

Miya Tokumitsus Text widmet sich der innewohnenden Heuchelei von Aphorismen wie „Tu, was du liebst“ oder „Wenn du magst, was du tust, musst du nie arbeiten.“ Sie sieht darin einen Trick, der eine Flut von freiwilliger Selbstausbeutung und letztlich auch eine Abwertung verschiedenster Arbeitsbereiche zur Folge hat. Ist man ein schlechterer Mensch, wenn man seine Arbeit nicht liebt? Drückt sich Liebe in bedingungsloser Hingabe, in Qualität, in Pflichtbewusstsein aus? Wer legt das fest? Fragen wie diese, und andere, verhandelt der Text.

Sam Gindin legt in seinem Text „Den globalen Kapitalismus beseitigen“ eine Liste mit neun Dingen vor, die einem helfen, sich im Bauch der Bestie zu organisieren, von der Mikro- bis zur Makroebene; der Text punktet vor allem durch seine Klarstellungsrhetorik.

Der folgende Beitrag von Adam Stoneman ist eine ebenso klare Stellungnahme, die sich gegen den Geltungskonsum von Rich Kids auf Instagram richtet, dessen Wurzeln er bis in 18. Jahrhundert (zu Ölgemälden, auf denen die bessere Klasse abgebildet ist) zurückverfolgt.

Keeanga-Yamahtta Taylors Beitrag schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Walter Benn Michaels im ersten Interview. Auch er sieht die Emanzipation von Minderheiten, besonders der afroamerikanischen Bevölkerung, als etwas, dass sich nicht von der Suche nach einer allgemeinen Lösung für soziale Fragen trennen lässt. Er zitiert Martin Luther King, der in seinem letzten Gespräch mit Harry Belafonte sagte:

Wir haben lange und hart für die Integration gekämpft, was in meinen Augen richtig ist, und ich weiß, dass wir gewinnen werden. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir uns in ein brennendes Haus integriert haben.

Zwei letzte Highlights: als erstes der Text von Charlie Post, der in „Wie Donald an die Macht kam“ seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass es vor allem eine enthemmte, unter den Folgen der neoliberalen Ordnung leidende Gruppe von Mittelschichtlern war, die Trump an die Macht gebracht hat – aus Furcht vor dem sozialen Abstieg ergriffen sie die Gelegenheit, einen Mann zu wählen, der versprach, für weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und für eine bessere Lage der amerikanischen Wirtschaft allgemein zu kämpfen.

Auch wenn das Argument als alleinige Begründung wohl nicht greift, offenbart es einen wichtigen, immer wieder problematischen Effekt in neokapitalistischen Gesellschaften: Die Menschen, die in ihnen leben, stellen meist nicht die generelle Verteilung des Wohlstands infrage, sondern fürchten nur, dass ihr eigener Anteil an diesem Wohlstand sinken könnte. Sie glauben, sie müssten gegen die sein, die ihren Platz in der Hierarchie einnehmen könnten – statt zu begreifen, dass die Hierarchie das größte, vielleicht sogar einzige Problem ist.

Das zweite Highlight ist ein Interview mit Bernie Sanders, das ebenso wie das erste ausgewogen und kritisch daherkommt und Sanders als einen klugen Denker, eine große Persönlichkeit zeigt, aber eben auch als einen schon auf seine Themen und Positionen eingeschworenen Menschen.

Allen muss die Wirtschaft nutzen, nicht nur den Reichen. (Bernie Sanders)

Diese Anthologie liefert sehr wichtige Beiträge zu aktuellen Debatten, vor allem was Kapitalismus und Neoliberalismus angeht. Jacobin ist zwar ein US-amerikanisches Magazin, aber viele Themen sind in unserer globalisierten Welt auch auf europäische Kontexte anwendbar. Einige Beiträge erschließen sich wohl nicht jeder/m Leser*in – ich zumindest hatte bei einigen Ausführungen zur Wirtschaftstheorie meine Probleme. Dennoch ist es im Kern eine Anthologie, die jede Person lesen kann und man nimmt mit Sicherheit immer etwas mit.

Zu Julia Ebners “Wut”


Wut Wir leben einer Zeit der kumulativen Extreme (und des kumulativen Extremismus), einer Zeit also, in der verschiedene (radikalisierte) Ansichten und Krisenfälle sich gegenseitig aufschaukeln und die Fronten verhärten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, die in den meisten Fällen ihre Wurzeln in der verschleppten Auseinandersetzung mit (oder der Nichtbeachtung von) den Folgen technologischer und historischer wie geopolitischer Veränderungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche haben.

Die Einmischung der USA und ihrer Bündnispartner in das (dadurch fast gänzlich zerstörte) Mächtegleichgewicht im Nahen Osten (bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den Rohstoffen dieser Region) und generell das postkoloniale (aber nicht postkapitalistische und damit nicht wirklich postkoloniale) Chaos, hat in den letzten Jahrzehnten und Jahren zu Dynamiken geführt, die Bürgerkriege, Fluchtbewegungen und zusätzliche Verheerungen zur Folge hatten. Gleichzeitig bröckelte das scheinbar im kalten Krieg errungene „westliche“ Machtmonopol und der Kapitalismus (und mit ihm die Globalisierung) befindet sich wegen seiner neoliberalen Zuspitzungen endgültig in einer schweren Krise, die Mitteleuropäer*innen nur deswegen so wenig zu spüren bekommen und verleugnen können, weil sie im Auge des Sturms sitzen und immer noch glauben, sie könnten agieren, obgleich sie nur noch reagieren.

Aber eigentlich spüren auch wir diese Krise, die eine ökonomische und ökologische Krise ist und eine Herausforderung, der sich die Menschheit längst geschlossen gestellt haben müsste. Was hält sie davon ab? Hauptsächlich der Glaube, man müsste immer noch den Kuchen verteilen, obwohl es längst darum geht, dass vielleicht bald keine Zutaten mehr da sind. Albert Camus unheilvolle Diagnose, dass menschliche Geschichte ein Kampf um Privilegien und nie wirklich die Suche nach einer einheitlichen Vision war und ist, lebt fort.

Als Analystin bei der Londoner Extremismusbekämpfungsorganisation Quiliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde, war es mein oberstes Ziel, die Pläne von Terroristen frühzeitig zu durchschauen und zu durchkreuzen. […] In meinen Gesprächen mit Extremisten in rechtsradikalen Foren erkannte ich, dass das Drehbuch der Rechtsextremen dem der Islamisten erstaunlich ähnlich ist. […][…] Die Rhetorik und der modus operandi weisen in mancherlei Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide stacheln zum Hass gegen den anderen auf, der angeblich die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert. Beide Seiten fühlen sich in ihrer kollektiven Identität und Würde angegriffen. […] Beiden ging und geht es darum, durch kontrollierte Provokation und strategische Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der Gesellschaft freizusetzen, sodass sie letztendlich freie Bahn haben, um ihr eigenes radikales Modell zu etablieren. […] Dies macht die beiden Extreme faktisch zu „rhetorischen Verbündeten“.

Einer der Konflikte, der unsere Gesellschaften davon abhält (ja: abhält) sich den drängenden Fragen der Zukunft zu stellen (bspw.: Wie können wir das Ökosystem unseres Planeten retten? Wie unsere Wertvorstellungen ineinander integrieren? Wie die Erzeugnisse unserer Industrien und die Rohstoffe unseres Planeten gleichmäßig und fair verteilen?) ist der Konflikt, der sich vermeintlich an der Zugehörigkeit zu Völkern und Glaubensgemeinschaften entzündet. Längst haben sich diese Zugehörigkeiten durchdrungen (wie es in der Geschichte schon oft vorgekommen ist, ja, zur Normalität gehört), aber es gibt immer noch Menschen, die glauben, sie sauber voneinander trennen zu müssen (und zu können). Menschen, die ein binäres Weltbild pflegen und weiterhin glauben, dass die beiden Position zwangsläufig gegeneinander antreten müssen.

Julia Ebner hat ein Buch über diese Menschen mit extremen Vorstellungen geschrieben. Die darin verfolgte Hauptthese ist, dass zwei der wichtigsten extremistischen Bewegungen unserer Zeit, die islamistische und die rechtsextreme, letztlich zwei Seiten einer Medaille sind, deren Narrative sich in vielen Punkten gleichen und die sich darüber hinaus auch gegenseitig stärken. Sie nehmen die Positionen und Taten des jeweils anderen Extrems als Beispiele, um größere Gruppen oder ganze Gesellschaften zu verdammen und zu stigmatisieren und Anhänger*innen für ihre Weltsicht zu gewinnen. In diesen verzerrten und vereinfachten Ansichten ist bspw. Trump die Personifikation des Westens und die Selbstmordattentäter und fanatischen Gläubigen stellen den durchschnittlichen Muslim dar.

Obwohl es sich vielleicht von selbst versteht, ist es wichtig zu betonen, dass die meisten Muslime keine Islamisten sind und die meisten Islamisten keine Dschihadisten.

Ebner, aus Österreich stammend und in London arbeitend, versucht in „The Rage“ (sie schrieb das Buch auf Englisch) anhand vieler symptomatischer und repräsentativer Schicksale, Begegnungen und Geschichten, die Vorstellungen und Dynamiken innerhalb der rechtsextremistischen und radikalisierten islamistischen Kreise und Netzwerke zu beschreiben; zu zeigen, wie sie ihre Weltbilder in die Ängste der Bevölkerungen integrieren und wie sie diese Aktionen mit Multimedia, popkulturellen Einflüssen und sozialen Netzwerken unterstützen.

Ein wichtiger Punkt, um den sich das Buch dabei durchaus verdient macht, ist das Augenmerk, welches auf die wichtige Stellung des Narrativ gelegt wird, der glaubwürdigen und einfachen Geschichte, die der Kit sind, ohne den extreme Haltungen schnell in sich zusammenfallen würden. Die Welt ist jedem geöffnet und verstellt durch seine/ihre Interpretation der eigenen Erfahrungen und wir sind oft darauf angewiesen, dass uns die Zusammenhänge, die diese Erfahrungen (innerhalb von größeren Strukturen) bedingen, erklärt bzw. erzählt werden.

Der erste Schritt zur Bekämpfung des Extremismus besteht darin, den Geschichten von Extremisten zuzuhören. Natürlich geschieht das am besten innerhalb der jeweiligen Communities – dort, wo die unzensierten Gespräche stattfinden.

So beginnt das Buch auch mit der Schilderung einer Teilnahme an einer Demonstration der EDL (English Defence League) und an einer Diskussionsveranstaltung der Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) – an ein und demselben Tag. Das erweist sich zum Auftakt als keine schlechte Idee, untermauern die Schilderungen der Veranstaltungen doch zum einen gleich die Grundthese, dass Extremist*innen sich letztlich – abseits dessen, worauf sie sich stützen – in ihren Forderungen und Methoden oft gleichen, während sie auf der anderen Seite, durch die Darstellung des Kontaktes mit Teilnehmer*innen der jeweiligen Veranstaltungen, die menschlichen Profile hinter den Organisationen ins Licht rücken.

Weil Extremismus stets mit der Entmenschlichung anfängt, werde ich mein Möglichstes tun, um nicht in dieselbe Falle zu tappen, und stattdessen bestrebt sein, jede einzelne Person als menschliches Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften darzustellen.

Man muss Ebner zu Gute halten, dass sie in diese Falle tatsächlich nicht getappt ist. Ihre Beschreibungen der (vielen, vielen) Personen, die im Buch auftauchen, sind sicherlich manchmal von Erschütterungen durchzogen, aber nie über ein obligatorisches Maß hinaus wertend oder verurteilend.

Überhaupt ist sie bestrebt, die Vorstellungen, die man sich auf beiden Seiten (und in der von den Extremen zunehmend eingenommenen Mitte der Gesellschaft) von den Akteur*innen der rechtsextremen und islamistischen Organisationen macht, etwas aufzubrechen. Nicht, indem sie diese Akteur*innen als missverstanden darstellt oder sie allzu stark als Opfer gesellschaftlicher und sozioökonomischer Missstände inszeniert (obwohl sie dies mitbedenkt und bei passenden Gelegenheiten auch anspricht), sondern schlicht ihre Motive und Aussagen durchleuchtet und so der Irrationalität ihrer Taten und Weltbilder ein Umfeld gibt, was ihre Ansichten zwar nicht unbedingt verständlicher oder zugänglicher macht, aber sie der Vereinfachung entzieht. Viele Täter*innen und Akteur*innen stellt sie als Menschen dar, die aufgrund ihrer Lebensgeschichten Identitätskrisen aufwiesen und sich auch deshalb für radikale Konzepte, die ihnen bei der Festlegung ihrer Identität und Zugehörigkeit halfen und Ziele festlegten, empfänglich zeigten.

Es sollte nicht vernachlässigt werden in den heutigen Diskussionen, dass die Freiheiten, die unsere westlichen Gesellschaften propagieren (auf manchen Ebenen und in manchen Ausprägungen mit einer Vehemenz, die auch schon wieder an Zwang erinnert), offenbar auch eine Belastung für manche Menschen sind, die sich nach einem klaren Selbstbild sehnen und nicht ersehen können, wie sie außerhalb von konkreten, geschlossenen Weltbildern zu einem solchen finden. Das hat natürlich einiges mit dem schnellen Tempo der Veränderungen und auch etwas mit der Wahrung von stürzenden Privilegien zu tun – ich bin kein Freund der Freund*innen von geschlosseneren Weltbildern, ich teile ihre Ängste nicht, aber ich verstehe, woher sie rühren. Sie auszuklammern, das zeigt das Buch, befördert Radikalisierung, weil sie sich als die einzige Alternative präsentieren kann.

Die Tatsache, dass wir unsere Identität nach Belieben formen können, bedeutet auch eine große Belastung: Selbstdefinition kann ein schwieriger Prozess sein, auf den nicht jeder vorbereitet ist.

Auch mit vielen anderen bequemen Vorstellungen räumt Ebner auf und es gibt einige Punkte in ihrem Buch, die sie mit wunderbarer Klarheit und Prägnanz anspricht. Dazu gehört bspw. die Rolle der Medien (und das Verhalten ihrer Konsument*innen) bei der Popularisierung von extremistischen Positionen. Sie nennt das Kind beim Namen: es gibt „unverantwortliche Medien“, die ihren Auftrag der Berichterstattung als Anlass nehmen, um reißerische und stark konnotierte Berichte über Ereignisse und Phänomene zu schreiben/zu senden, bei denen eine differenzierte und längerfristige Berichterstattung wichtig wäre, auch um die Vorurteile und eindimensionalen Vorstellungen von vielen Dingen zu korrigieren. Sie tragen mit, was sie eigentlich aufbrechen und auf verschiedene Gesichtspunkte verteilen sollten.

Aber anscheinend haben manche Medien kein Interesse daran, sich als Gegenbild zum Gerede am Stammtisch, zu Gerüchten und Vereinfachungen zu verstehen, sondern biedern sich immer mehr bei diesen Formen an (was, so meine persönliche Meinung, eine himmelschreiende Dummheit war und ist).

Man kann sich unverantwortliche Medien als Theater vorstellen, das die von Terroristen verfassten Stücke inszeniert und die Eintrittskarten für die Vorstellungen verkauft. Derweil drängt die Öffentlichkeit, die sich das Schauspiel ansieht, Politiker, auf die Bühne zu gehen, um in dem Stück mitzumachen, und zwar nach dem Drehbuch der Terroristen.

Und die Politiker*innen widersetzen sich diesem Trend nur bedingt (und stehen natürlich auch dann und wann vor einem Dilemma). Ebner schreibt:

Sichtbar zu handeln wird wichtiger als effektiv zu handeln.

Und bringt damit auf den Punkt, was derzeit allerorten geschieht, nämlich das Populismus immer mehr dabei ist, zum normalen Politikstil zu werden.

An der Geflüchtetenkrise erhitzen sich derzeit viele Gemüter und obgleich ich schon viele vernünftige Stimmen zu dem Thema gehört habe, überwiegen nach wie vor die irrationalen und stark vereinfachten Perspektiven auf dieses Phänomen. Ebner zeigt wie leicht sich dieses Thema instrumentalisieren ließ, wie einfach es zugelassen wurde. Denn genau das ist geschehen – diese „Krise“ wurde instrumentalisiert, ebenso wie es der islamistische Terror wurde.

Natürlich sind die Verbrechen, die Terroristen in Europa begangen haben, schrecklich, verwerflich, erschütternd. Aber es sind Verbrechen, wie sie jeden Tag auf dem ganzen Globus im Namen vieler Religionen, Ideen und sonstigen Motivationen begangen werden. Jeden Tag missbraucht jemand die Idee der Liebe, der Gerechtigkeit, der Vernunft, etc. um jemand anderem weh und/oder Unrecht zu tun – deswegen werden diese Ideen nicht verdammt. Eine Idee – und auch eine Religion – kann nichts dafür, wenn sie missbraucht wird. Und genau das tun islamistische Selbstmordattentäter – sie rechtfertigen etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt, mit einer Religion, deren Schriften Raum für Ausdeutungen lassen und die von vielen anderen, die nach ihnen leben, auf eine ganz andere Weise gedeutet werden. Es gibt nicht den einen Islam. Es sollte außerdem nicht vergessen werden:

Die meisten Terroropfer sind Muslime, und die große Mehrzahl der dschihadistischen Anschläge findet im Nahen Osten und in Afrika statt. Im Jahr 2015 ereigneten sich 75 Prozent der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus in Irak, Afghanistan, Nigeria, Syrien und Pakistan.

In Europa werden die geringen Prozente derweil genutzt, um Ressentiments und Vorurteile zu schüren. Es werden gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt, um Terrorismus zu verhindern. Natürlich müssen wir uns um Sicherheitsmaßnahmen kümmern – aber nicht zu jedem Preis. Denn wir müssen gleichzeitig akzeptieren, dass es keinen letztendlichen Schutz vor Verbrechen gibt. Sie entstehen in den Köpfen von Menschen jeglichen Alters, jeglicher Glaubensrichtung, jeglicher Herkunft – und auf die Köpfe der Menschen hat, zum Glück, niemand Zugriff. Man kann versuchen früh anzusetzen, Gräben und Isolation gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Europa hat schon vorher Migrationsbewegungen erlebt und unsere Gesellschaften können, wenn zusammengearbeitet wird, diese neue Bewegung ebenfalls verkraften und Menschen helfen, die vor Krieg und Mord und Folter geflohen sind. Natürlich werden wir teilen müssen, etwas abgeben müssen von unserem Wohlstand. Aber ganz abgesehen davon, dass wir diesen Wohlstand auch einer jahrhundertelangen Ausbeutung anderer Erdteile verdanken – was ist so schlimm daran, etwas abzugeben, wenn es hilft, wenn es eine konfliktärmere Zukunft hervorbringt? Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir wirklich leben wollen und was das für andere Menschen an anderen Orten bedeutet.

Deswegen sollte beherzigt werden, was Ebner über die Geflüchtetenbewegung kurz und prägnant schreibt, nämlich dass

eigentlich nicht Europa mit einer Flüchtlings- und Migrantenkrise konfrontiert ist. Es sind die Flüchtlinge und Migranten, die mit einer Krise Europas konfrontiert sind.

Diese Krise Europas, die sich auch im Aufkommen von isolationistischen und nationalstaatlichen Ideen zeigt und in extremen Positionen – gerichtet gegen einen Feind, der viel größer gemacht wird als er ist, um dem eigenen Extrem mehr Bedeutung zu verleihen –, wurde nicht herbeigetragen von Menschen aus Syrien und anderen Ländern. Sie fand schon früher statt und tritt nun klar zutage. Und hat ihren Ursprung einfach darin, dass wir (West-)Europäer*innen in den letzten Jahrzehnten so gelebt haben wie wir gelebt haben. Und diese unsere Einstellung muss auf allen Ebenen überdacht werden.

Ebners Buch – obgleich es sein Hauptaugenmerk auf die Ränder der Gesellschaft legt und von dort allerlei Informatives heranträgt – handelt letztlich auch von dieser Krise. Einer Krise, die so groß tobt, obwohl eigentlich nur so wenig toben und viele andere unsicher stillhalten oder mal mittoben oder sich abwenden.

Und in dieser Hinsicht ist es, trotz einiger Mängel, ein wichtiges Buch. Es will viel, es reißt viel an und es tauchen jede Menge Personen auf, die allzu schnell wieder verschwinden. Es will zu viel. Aber es scheitert dennoch nicht, denn in diesem “zu viel” geschehen immerhin allerlei Durchbrüche, die allerhand Proben liefern, von Verhältnissen, die uns umgeben und, obgleich sie extrem sind, längst die gemäßigte Sicht in einigen Punkten mehr und mehr beeinflussen, für sich gewinnen.

Es ist dieses Buch letztendlich ein Aufruf, ein Aufruf zum Dialog, der allein das Abdriften in die Extreme – die es immer geben wird, denen man aber nicht den Diskurs überlassen darf – verhindern kann. Am Ende schreibt Ebner:

Verschließen wir niemandem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was die Humanisten und die Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.

Über zweite Chancen, über Utopisches und das Wagen muss nachgedacht, geredet werden. Und es müssen Narrative entwickelt werden, die sich um das Gemeinsame und Verbindende bemühen – den Geschichten erschaffen Vorstellungen, bedingen Handlungen. Das zeigt Ebners Buch überdeutlich und dies ist, wie bereits gesagt, wohl der wichtigste Verdienst dieser Schrift. Sie wendet sich gegen Ungenauigkeit und Unverhältnismäßigkeit und damit gegen zwei Phänomene, die in der Zeit von Fake-News, Kommentarspaltenhetze und Millionen von Pseudoexpert*innen, unsere schlimmsten Alpträume geworden sind. Wie sagte schon George Orwell:

Ungenaue Sprache hindert uns daran, klar zu denken, und veranlasst uns, törichte Gedanken zu reproduzieren.

 

Zu Ulrich Schneiders aufrüttelndem Buch “Kein Wohlstand für alle!?”


  “Solange sich Regierungspolitiker wie unsere Bundeskanzlerin in die Fernsehstudios setzen und vor einem Millionenpublikum erklären, sie würden das Problem verstehen, dass sich immer mehr Menschen „abgehängt fühlen“, offenbaren sie lediglich, dass sie nur sehr wenig verstanden haben. Die Menschen „fühlen“ sich nicht abgehängt, sie sind abgehängt.”

Deutschland geht es nicht gut. Wer das behauptet, dem mag es selbst gutgehen und er mag scheinheilig auf das große BIP, die großen Exportgewinne oder unsere Reputation und Größe auf den Parkettböden der Weltpolitik hinweisen und daraus den Schluss ziehen, dass es in einem Land mit solcher Wirtschaftsleistung niemandem schlechtgehen kann. Und eigentlich könnte er sogar recht damit haben – aber sein Fehlschluss ist der geradezu pathologische Fehlschluss unserer Zeit und die, geradezu ignorante, Ausgeburt des neoliberalen Klimas in unseren Vorstellungen.

Fakt ist: die Faktoren für den „Gesundheitsstatus“ eines Landes sind vielfältiger und komplexer. Wie gut funktionieren die Sozialsysteme, wie viel wird in Bildung und Inklusions- und Integrationsprogramme investiert, wie stark ist die Demokratie, wie sensibel wird mit Minderheiten umgegangen und wie wird Toleranz propagiert/kommuniziert, wie gerecht geht es bei Löhnen und Steuern zu – das sind (u.a.) die Fragen, die den Befund über die Gesundheit eines Landes entscheiden. Und wenn man ganz ehrlich ist: Deutschland geht es nicht gut, Deutschland geht es zunehmend schlechter.

Es drohen nicht nur tiefgehende, gesellschaftliche Verwerfungen, die längerfristigen Schaden an unserem Verständnis von Demokratie anrichten könnten, sondern, in Folge dessen, auch eine Entladung dieser Ungerechtigkeit auf den Ebenen neuer rechter Politik und Fremdenfeindlichkeit, mündend in Forderungen nach autoritären Gesellschaftsmodellen. Aber um zum Befund zurückzukommen: woran zeigt sich denn, dass es Deutschland schlecht geht?

“12,9 Millionen Menschen [in Deutschland] müssen heute, gemessen an ihrem Einkommen, zu den Armen gerechnet werden. Das heißt zum Glück nicht, dass 12,9 Millionen Menschen nach Pfandflaschen suchen, unter Brücken schlafen, betteln müssen oder nicht zu essen oder zum Anziehen haben. Solch extreme Armut, solches Elend, geht in die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes nicht einmal ein, da nur Personen mit eigenem Haushalt erfasst werden. Obdachlose werden in diesen Statistiken genauso wenig mitgezählt wie Geflüchtete in Sammelunterkünften, Strafgefangene oder Pflegebedürftige in Einrichtungen, von denen mittlerweile auch etwa die Hälfte von Sozialhilfe leben muss. Bei den hier genannten 12,9 Millionen armen geht es um Menschen, die zu wenig Geld haben, um am gewöhnlichen Leben und Alltag dieser Gesellschaft noch teilhaben zu können.”

Solche Zahlen können nur zu einer Schlussfolgerung führen:

“Von gleichwertigen Lebensverhältnissen, wie sie unser Grundgesetz vorsieht, kann längst keine Rede mehr sein.”

Diese Verhältnisse sind Zustände, nicht nur Umstände von Einzelfällen. Diese Verhältnisse sind das Resultat einer jahrelangen Wirtschaftspolitik und Umverteilung, die fast immer auf die Stärkung der Arbeitgeber und der reicheren Teile der Bevölkerung abzielte. Und von diesen Verhältnissen, sowie den Entwicklungen, die dort hinführen und denen, die wieder hinausführen könnten, handelt dieses Buch von Ulrich Schneider, das das 50 Jahre alter Versprechen Ludwig Erhardts in seinem Titel abwandelt zu einer Frage – einer Frage, die man der Gegenwart wirklich mal mit aller Kraft um die Ohren schlagen und entgegenschleudern sollte: kein Wohlstand für alle!?

Ein Weg, der die Versäumnisse und Fehler der letzten Jahre abschreiten will, kommt am Neoliberalismus und seinen Zuarbeitern aus Lobby, Wirtschaftsweisen und Presse (und Politiker*innen) nicht vorbei.

“Eigentlich ist es schon ein ziemlich starkes Stück, was uns da an Irrationalität, an blindem und aller Vernunft widersprechendem Aberglauben in die heilenden Kräfte des Marktes abverlangt wird. Denn lassen wir die letzten Jahrzehnte noch einmal mit unverstelltem Blick Revue passieren und betrachten ganz nüchtern die Fakten, müssen wir feststellen, dass es trotz des einen oder anderen Regierungswechsels in den letzten dreißig Jahren stets die gleiche Leier war, die gespielt wurde, und zwar mit immer gleichem Ergebnis. Seit Anfang der 1980er Jahre ging es im Grunde immer nur weiter in eine Richtung – und die hieß Neoliberalismus.”

Es ist auch dieser Neoliberalismus, mit dem Schneider gehörig abrechnet. Nicht nur zeigt er auf, dass es keine Möglichkeit gibt, ihn gerecht oder auch nur fair zu nennen – seine ideologischen Strukturen, die quasi eine Oligarchie innerhalb unserer Demokratie etabliert haben, werden mit all ihren absurden Rechtfertigungen und ihrer Scheinheiligkeit für abrissreif oder zumindest für baufällig erklärt.

Auch sein Abriss der Bundespolitik der letzten Jahre kommt zu dem Ergebnis, dass die Politik längst nicht mehr abwägt, inwieweit sie dies oder jenes neoliberal sehen kann oder sollte – es wird von allen großen Parteien (ausgenommen „Die Linke“) stets neoliberale Wirtschaftspolitik gemacht, so konsequent, dass man teilweise, wenn man es ein wenig überspitzen würde, von Marionettenregierungen reden könnte (als Beispiel sei hier die causa „Schröder und Maschmeyer“ genannt).
Beispiele für Kürzungen und sonstige Umverteilungen von unten nach oben sind in diesem Buch en masse vorhanden und werden gewissenhaft erläutert. Ein Beispiel:

“Das Elterngeld [eingeführt 2007] beträgt im Prinzip 65% des letzten Monatsnettoeinkommens. Maximal werden 1.800 € ausgezahlt. Gutverdiener profitieren von dieser Umstellung ganz beträchtlich. Für den jedoch, der vor der Geburt seines Kindes nur wenig Geld nach Hause brachte oder sogar arbeitslos war, ist es eine schmerzhafte Verschlechterung. […] Doch damit nicht genug: Seit 2011 wird das Elterngeld voll auf Hartz IV angerechnet. Sprich: die Ärmsten gehen nun völlig leer aus. Das ist familienpolitische Umverteilung von unten nach oben.”

Man kann vor Herrn Schneider wirklich nur den Hut ziehen. In einer Gesellschaft, die so eingeschworen ist auf ihre wirtschaftlichen Überzeugungen, muss er sich mit seinen Ansichten oftmals sehr allein fühlen. Seine sorgsam unterfütterte, auf den politischen Gegner durchaus eingehende Studie, muss einen hohen Aufwand an Recherche und Datenverarbeitung bedeutet haben. Was alles den Lesenden zugutekommt: Das Buch liest sich klar und an fast keiner Stelle kann man größere, faktisch begründete Zweifel an seinen Argumenten oder seinen Schlussfolgerungen anmelden.

Sehr gut gefallen hat mir die Deutlichkeit, mit der in diesem Buch gesprochen wird und die nie (wie ich in diesem Text es doch dann und wann bin) polemisch wird, sondern mit Vernunft, Verstand und allerhöchstens mit leichten Anwandlungen von Fassungslosigkeit arbeitet. Auch vorbildlich: die Gründlichkeit. Schneider antizipiert und demontiert die liturgischen und phrasierten Argumente, die man seinen Thesen, Befürchtungen und Analysen entgegenhalten könnte und stellt fast immer die Frage: ist das wirklich so? Die Zahlen und die Erfahrungen sprechen dann meist von selbst eine andere Sprache und widerlegen oft problemlos die gehegten und gepflegten Dogmen der letzten Jahrzehnte, lassen sie in jedem Fall zweifelhaft erscheinen. Sie sprechen vor allem eine eigene, deutliche Sprache. Eine Sprache, die Dimensionen aufmacht, der wir uns als Solidar- und Sozialgemeinschaft nicht verschließen können.

“Die unteren 40% hatten 2012 sogar weniger Kaufkraft in der Tasche als 2002. […] Es geht beileibe nicht mehr nur um 15% Arme. Es geht um 40% unserer Bevölkerung, die von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind. Es geht um weite Teile unserer (ehemaligen) Mittelschicht. […] so stark, dass sich selbst OECD und Weltbank schon mahnend zu Wort melden: Die Einkommensungleichheit nehme bei uns stärker zu als in den USA.
Tatsächlich verhält es sich so, dass die reichsten 10% im Schnitt rund 1,2 Millionen € haben. Sie teilen fast 2/3 des gesamten Privatvermögens in Deutschland (63%) unter sich auf – mindestens.”

Genau das ist am Ende dieser zweihundert Seiten die Frage: wollen wir eine soziale Gesellschaft, in der alle vom Wohlstand profitieren? Und warum nicht, was spricht denn dagegen – außer der Angst vor dem Verlust von nicht gerechtfertigten Privilegien?

Es wird natürlich immer jemanden geben, der mehr hat und dieses Mehr muss ihm auch gestattet werden, Neid hilft niemandem. Aber Gier auch nicht und deswegen muss, wer mehr innerhalb einer Gesellschaft erwirtschaftet, auch mehr an sie geben, den er verdankt sein Mehr nicht nur seiner Arbeit, sondern auch den gesellschaftlichen Grundlagen, die ihm seine Geschäfte ermöglichen.
Wichtig ist, die Verfahrensweisen zu hinterfragen. Schneider schreibt über die neoliberalen Wirtschaftsmodelle:

“Es sind Wirklichkeitskonstrukte, mit deren Hilfe wir denken, über die wir aber niemals nachdenken.”

Genau dieses Nachdenken muss endlich beginnen. Wenn man ehrlich und gerecht folgert, dann steht am Ende (behaupte ich) die Überzeugung, dass unsere derzeitigen Systeme mit großen Teilen der arbeitenden und nichtarbeitenden Bevölkerung nicht gerecht umgehen. Kein Wunder, denn diese Systeme orientieren sich allein an Zahlen. Wenn jemand ernsthaft fragt, was denn eine Altenpflegerin erwirtschaftet und warum sie denn eine vernünftige Bezahlung bekommen sollte, wenn kein Mehrwert aus ihrem Tun entsteht, dem steht seine neoliberale Einstellung auf die Stirn tätowiert. Ob so jemand seinen gesunden Menschenverstand abgegeben hat, um sich diese Tätowierung leisten zu können oder es vorzieht, ihn zum Wohl seines mit Lobbygeld gefüllten Geldbeutels ein wenig auf Eis zu legen, sei dahingestellt. Fest steht:

“Wir können diese Gesellschaft nicht berechnen. Wir können sie nur gestalten.”

Und „Wir“ meint Sie, liebe Leser*innen. Nur Sie. Ich habe in meinem Leben keine Spur von Armut erfahren und Ihnen wird es zumeist ähnlich gehen. Woher ich das weiß? Diesen Text werden schon deshalb wenige Betroffene zu lesen bekommen, weil sie vom gesellschaftlichen Austausch größtenteils ausgeschlossen sind. Sie können sich keine Zeitungen leisten und lesen sich sicherlich auch keine Besprechungen zu Büchern durch, die sie sich nicht leisten können.

Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht wegsehen. Klar, man kann sich immer irgendwie durchmogeln und viele werden sich denken: bei 40% Armen und 10% Superreichen, da bleibt doch noch die Hälfte an Platz für meine eigene Existenz, wieso sollte ich mich also beschweren?

Ich gebe zu, dass dieses Wieso für mich außerfrage steht. Und ich kann nur – schlicht und ergreifend – auf Artikel 1 + 2 des Grundgesetztes verweisen:

“(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.”

Ich lehne mich damit aus dem Fenster, aber ich behaupte: Menschenrechte werden in Deutschland zwar nicht offensichtlich mit Füßen getreten, aber ihnen wird das Wasser abgegraben. Wenn Menschen, die Vollzeit arbeiten, von ihrem Job kaum leben und nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dann sehe ich Würde und Menschenrecht nicht mehr gewahrt. Damit will ich keinesfalls die Begriffe Menschrecht und Menschenwürde überstrapazieren – mir ist bekannt, dass ihnen an vielen anderen Orten der Welt noch Schlimmeres widerfährt. Aber das kann und darf kein Argument sein, um unsere gesellschaftlichen Klüfte und Verwerfungen herunterzuspielen und nicht anzupacken.

Schwieriger sieht es natürlich bei der Frage aus: was kann man tun. Wenn man nicht zufällig Politiker*in oder Firmenchef*in ist, hat man nicht gerade großen Einfluss auf die politischen Entscheidungen in diesem Land. Dennoch gibt es Möglichkeiten. Man kann aufhören, die Lügen und Vereinfachungen neoliberaler Propaganda zu reproduzieren und anfangen, ihre Botschaften nicht mehr als Gegebenheiten wahrzunehmen; man kann sich informieren und aufgrund der Informationen neue Überlegungen anstellen, was die eigene politische Einstellung und das eigene sozial-solidarische Gewissen betrifft.

Vielleicht wählt man dann sogar anders. Ich höre immer wieder, dass manche Leute aus Protest die AfD wählen. Warum nicht mal aus Protest Die Linke wählen? Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass diese Partei es besser machen wird als alle anderen und ob sie ihre Versprechen bei aktiver Regierungsbeteiligung einlöst, steht natürlich auch in den Sternen. Dennoch waren sie in den letzten Jahren im Parlament die einzige Opposition gegen die bestehende Wirtschaftspolitik und haben auch ansonsten Vorschläge angebracht, die einem Großteil der Bevölkerung zugutekommen würden.

Ob man nun moderat oder engagiert sein will: die Lage ist ernst. Ernster als viele Leute es sich derzeit eingestehen müssen und wollen. Die Räder drehen sich weiter, Donald Trump ist in den USA Präsident geworden, die AfD knabberte eine Zeit lang an der 20%-Marke. Das sind Anzeichen sich entladener Unzufriedenheit, die kanalisiert wird, in dem man Arme gegen Minderheiten hetzt, Angst und Frustration ausnutzt. Am Ende geht es immer um Privilegien. Wer wirklich glaubt, dass er seine Privilegien gegen die Privilegien von Geflüchteten verteidigen muss, der hat nicht verstanden, was in den letzten dreißig Jahren an Wirtschaftspolitik in Deutschland gelaufen ist und von welcher Seite seine Privilegien wirklich angegriffen wurden und werden.