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Zu “Aleppo literarisch”, herausgegeben von Mamoun Fansa


Aleppo literarisch “Aleppo blickt auf 5000 Jahre Kulturgeschichte zurück. Die Stadt zählt zu den ältesten durchgehend besiedelten Städten der Welt. […] Was davon in den vergangenen Jahren des Krieges zerstört wurde, wird uns immer wieder vor Augen geführt.
Die nicht minder tiefgreifende Zerstörung immaterieller Kultur bleibt dabei häufig ‘unsichtbar’. Diese möchte das kleine, aber umso liebevoller gemachte Buch in den Blickwinkel des Lesers rücken.”

Und dabei ist der Titelzusatz “literarisch” noch zu kurz gegriffen. Es geht nicht nur um Geschichten und Gedichte aus und über Aleppo, sondern auch um Musik, Sprichworte, Kinderspiele – um nur einige Beispiel zu nennen.

Von James Joyce ‚Ulysses‘ sagt man, dass die ganze Stadt Dublin, würde sie zerstört, mit seiner Hilfe wieder aufgebaut werden könnte. Nun schwebte Dublin die letzten Jahrhunderte nie in die Gefahr, zerstört zu werden (ironischer Weise tragen allerdings die EU-Übereinkommen für Migration den Namen dieser Stadt).

Ganz anders ist es klarerweise bei Aleppo. Und obgleich dieses Büchlein sicher nicht einen Großteil der immateriellen Seele von Aleppos Kultur fasst, ist doch allein schon der Versuch ein beeindruckendes Zeichen und das Buch eine gelungene Umsetzung dieses Zeichens.

Es kommen hauptsächlich Exilanten und Außenstehende zu Wort, allerdings sind sie alle vertraut mit der Geschichte und oft auch mit dem Angesicht Aleppos; die Texte sind in jeder Hinsicht Liebeserklärungen, Spezialitäten, keine wissenschaftlich-neutralen Beiträge, die nach Auftragsarbeit klingen. Der Band ist wunderbar bebildert, ein echter Schatz. Neben Gedichten, Streifzügen, gibt es auch Beiträge zur Geschichte Aleppos, die spannend sind.

Fazit: ein wunderbares Buch, um Aleppo ein klein wenig kennenzulernen.

Zu Roberto Bolaños frühem Roman(fragment) “Der Geist der Science-Fiction”


Der Geist der Science-Fiction Robert Bolaños Ruhm, der ja posthum kam und mit „2666“ und „Die wilden Detektive“ seinen Höhepunkt erreichte, drohte, in meinen Augen, etwas unter der Veröffentlichungswut zu leiden, die in den darauffolgenden Jahren einsetzte und auch noch die frühsten Erzählungen, Romanfragmente, etc. hervorkramte. Anfangs war Großartiges darunter, aber speziell die letzten beiden Veröffentlichungen – die Erzählungen in „Mörderische Huren“ und das Romanfragment „Die Nöte des wahren Polizisten“ – waren, obgleich interessant, qualitativ eher ein Abstieg.

Natürlich ist es auf der anderen Seite toll, dass die Verlage Hanser und S. Fischer sich bemühen, eine lückenlose Ausgabe von Bolaños Werken auf Deutsch anzubieten – im Zuge dessen sind, wie gesagt, auch viele meisterliche Arbeiten wiederaufgelegt worden oder dies wird noch geschehen (so werden beispielsweise auch die großartigen Erzählungen in dem Band „Telefongespräche“ im nächsten Jahr bei S. Fischer neu aufgelegt).
Ich verstehe es ja: Bolaño-Fans wollen natürlich auch noch die letzte Zeile ihres Idols lesen und die Verlage liefern selbstverständlich. Aber es darf wohl die Frage gestellt werden: inwieweit sollte beim Veröffentlichen die Veränderung mitbedacht werden, die jede zusätzliche Publikation am Bild des Werkes und seines Autors vornimmt?

„Der Geist der Science-Fiction“ ist ein früher Roman (und wirkt sehr wie ein Fragment), der aber, laut Angabe im Buch, erst 2016 im Original veröffentlicht wurde. Bolaño arbeitete 1984 daran und verwendete einige Teile wohl für das 1993 erschienene „Fragmentos de la universidad desconocida“.
Der Roman spielt in den 70er Jahren in Mexiko-Stadt und besteht im Wesentlichen aus drei Strängen, die sich abwechseln. Zwei dieser Stränge sind verknüpft mit den beiden jungen Männern Remo und Jan, die sich ein Zimmer in der Metropole teilen. Während Remo versucht, Anschluss an die literarischen Institutionen zu bekommen und für verschiedene Magazine Artikel schreibt, liest Jan hauptsächlich nordamerikanische und europäische Science-Fiction-Romane und schreibt Briefe an die Autor*innen, in denen er sie, mit etwas wirren Erläuterungen und Abschweifungen, dazu anleiten will, sich für die Länder der Dritten Welt einzusetzen, ein Komitee für diese Angelegenheit zu bilden.

Die Briefe sind ein Strang, die Geschichte von Remos Erkundungen, die über ein paar Umwege in eine Liebesgeschichte münden, der andere. Der dritte Strang ist das Interview/Gespräch eines unbekannten jungen Science-Fiction-Autors, der anscheinend gerade einen bedeutenden Preis gewonnen hat, und einer ebenfalls unbekannten fragenden Instanz/Person.
Dieser dritte Teil fällt ziemlich heraus, bleibt bis zum Ende für sich und wirkt ein wenig deplatziert. Auch die Briefe sind, obgleich sie für sich genommen ein interessantes Narrativ darstellen, nur sehr lose mit der Haupthandlung verbunden und Jan tritt in ihnen ganz anders auf als in den Abschnitten mit Remo. Bis zum Ende greifen die Stränge nicht wirklich ineinander, das Konzept dahinter (wenn es denn eines gibt) geht für mich nicht auf.

Bewährte Motive Bolaños tauchen natürlich auch in „Der Geist der Science-Fiction“ auf: Nazis, leise Phantastik, Boheme, Vagabuntentum und Außenseiterphantasien, literarische Anspielungen und Referenzen in Hülle und Fülle. Immer wieder gibt es Passagen mit großartigen Einzelbeschreibungen, die eindringlich sind, Spaß machen.
Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch kein fertiger Roman, sondern ein liegengelassenes Projekt ist. Es sollte nicht als abgeschlossener Roman verkauft oder gelesen werden.

Spannend ist sicherlich, wie man in diesem Buch Bolaño bei Fingerübungen zusehen kann und wie stark hier teilweise, vor allem in den Briefen, nicht nur seine gewohnt satirische, sondern auch seine kritische Ader zum Vorschein kommt. Die Science-Fiction wird zum Sinnbild für die Utopie, zur Metapher für das Neu- und Besserdenken der Welt, der Verhältnisse. In der Hoffnung, welche Jan in seine Briefe an die Autor*innen legt, setzt Bolaño ein altes Dilemma, die Diskrepanz zwischen literarischer Vision und tatsächlichem Engagement, innovativ in Szene. Die Briefe sind somit Kabinettstücke mit einem gut gezimmerten doppelten Boden.

Lässt man die Einschränkungen (von denen aber jeder Kenntnis haben sollte, bevor er zu dem Buch greift) beiseite, ist diese frühe Prosa durchaus lesenswert. Ich mag, wie sich die Liebesgeschichte entfaltet. Die Beschreibung der Annäherung zwischen Remo und einer Frau namens Laura, erinnert an ein paar Glanzstücke von Bolaño Erzähltalent, seine Sprache wirkt auch in diesem frühen Werk nicht ungeschliffen, sondern schon sehr präzise; vielleicht sogar ein bisschen weniger verkopft und verstiegen als in den späteren, furioseren Werken.
Mit dem Interview konnte ich nicht viel anfangen und ich glaube, hier wären ein paar Backgroundinformationen wichtig oder interessant gewesen.

Überhaupt: es gibt zwar einen Abschnitt mit einigen schönen Originalnotizen aus der Entstehungszeit des Buches, aber keinen Anhang, kein Nachwort (allerdings ein kurzes Vorwort). Gerade wenn man ein Werk wie das von Bolaño zur Gänze herausgibt, sollte man editorisch ein bisschen mehr tun, ein bisschen mehr Beiwerk liefern. Und sei es nur ein Essay oder eine kleine Zusammenfassung, die vielleicht schon an anderer Stelle zu diesem Projekt oder dieser Zeit in Bolaños Leben veröffentlicht wurde. Fakt ist: Meine anfangs geäußerten Bedenken zur Veröffentlichungspolitik kann dieses Buch nicht zur Gänze eliminieren, aber es zerstreut sie erfolgreich. Mehr Bolaño bitte! Mehr Original und ein bisschen mehr Sekundäres.

 

Zu den Essays von Fritz J. Raddatz in “Schreiben heißt, sein Herz waschen”


Schreiben heißt sein Herz waschen Er schied die Geister und an ihm schieden sie sich. Fritz J. Raddatz war einer der beharrlichsten Kritiker und Rezensenten, Feuilletonisten und Essayisten der Bundesrepublik, ein Lauttöner und Feinsinniger, ein Dauerläufer des Kulturellen & rasanter Stilist – und gleichsam einer, der ehrfürchtig vor den Werken verharrt, in denen eine Authentizität und Wahrhaftigkeit aufleuchtet, die (nach seiner Ansicht) gerade aus dem Grundzwist des künstlerischen Arbeitens – der Differenz zwischen Werk und Leben, Meinung und Ästhetik, Handlung und Darstellung – entsteht und nicht aus irgendeiner Auflösung dieses Zwistes, einem Ausweichen oder Verhüllen des Dilemmas.

In diesem Band wurden (anlässlich von Raddatz 75. Geburtstag) einige seiner besten essayistischen Texte gesammelt. Am Anfang stehen zwei große Panoramen, von denen das erste sich mit der Frage nach der Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Ideologien des 20. Jahrhunderts und den Akteur*innen der Literatur dieser Zeiten auseinandersetzt. Es ist keine große Abrechnung, sondern wirklich eine „Schau“, in die zahllose Klarstellungen und Einsprüche, Bloßstellungen und Zweifel eingeflochten sind und die wie eine Havarie von einem Schauplatz zum nächsten rollt, entziffernd, anklagend, aufdröselnd, unterscheidend.

Der zweite Text (der Band erschien 2006) setzt sich mit der Frage auseinander, warum es noch immer die Literat*innen älteren Kalibers sind, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und deren Bücher als stilprägend gelten. Raddatz führt aus (und sein Essay ist beides: eine Geschmacksdarlegung und dennoch in Teilen eine gute Analyse zeitgenössischer Literatur), dass dies mit dem existenziellen Gehalt der Bücher zu tun hat, der bei den älteren Schriftsteller*innen gegeben ist, bei der jüngeren Pop- und Verkaufsschlager- und Ich-Literatur nicht.
Eine steile These, die einige Werke jüngerer Autor*innen sofort widerlegen könnten, allerdings nur im Einzelnen – insgesamt verfehlt Raddatz Kritik die Gegenwart nicht so weit, wie es einem das Augenrollen und die desinteressierten, abschlägigen Handbewegungen vieler Leute glauben machen wollen. Es gibt eine Krise des Existenziellen in der Literatur, wie auch in der Gesellschaft, die sich auf ungute Weise zu entladen beginnt. Auch die Bücher mit den besten Stilen und den schönsten Geschichten sind aufgrund dieser Krise zur Bedeutungslosigkeit verdammt (selbst wenn sie massenhaft gelesen werden).

Dann folgen noch einige, teilweise grandiose, Porträts zu Literat*innen wie Thomas Mann, Christa Wolf, Robert Musil, Walter Kempowski, u.a.
Vor allem die Texte zu Musil und Mann (bei beiden geht es vorrangig um ihre Tagebücher und die daraus destillierte Selbstwahrnehmung und Positionierung gegenüber der Welt) sind sehr empfehlenswert. Der Christa Wolf-Text ist eine Lehrstunde in politsicher Dialektik und die Kempowski-Arbeit eine wunderbare Lobeshymne, die die ganze Kraft und das Darstellungsgenie von Kempowskis Echolot und seinen anderen Werken darlegt.

Die Texte haben schon einige Jahre auf dem Buckel; viele Ausschläge darin sind eher Anekdotenhappen und nicht unbedingt relevant für den literarischen Diskurs. Aber der Kern von Raddatz Kritik, Elan und Verve ist es umso mehr. Denn sein Beharren auf der existenziellen, differenziert zu betrachtenden Komponente der Kunst und ihrer Verschlingung mit dem Leben, der Politik, der Zeit, findet sich heute viel zu selten. In dem Maß, in dem sich die Politik gleichsam radikalisiert und banalisiert, beginnt auch die Kunst sich zu radikalisieren und gleichsam zu banalisieren. Nicht als Ganzes, nicht in jedem einzelnen Werk, das widerständig sein mag – aber doch stetig, fast scheint es: unaufhaltsam.

Raddatz ist nicht das Gegengift zu dieser Entwicklung – die vielleicht produktiver und wichtiger ist oder ausgehen wird, als ich befürchte. Aber seine Ideen und Hinweise reißen klare Wunden dort, wo sonst klammheimlich Entzündungen schwelen oder die Zellen schweigend verfallen würden. Er prescht in manches Thema zu ungestüm hinein, aber er hat immer wieder einen feinen Blick für das Wesentliche – und der ist niemals verkehrt!