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Kanada, aus Sicht der Literatur


index Aus einem Land kommend, in dem das Wort „Nationalliteratur“ wohl noch lange, zurecht, einen sehr zweifelhaften Ruf haben wird, war ich gleichermaßen gespannt und skeptisch, als ich auf den ersten Seiten von Atwoods „Survival“ las, es war ihre Absicht in diesem Buch die spezifischen Felder und Kategorien der kanadischen Literatur herauszuarbeiten.

Man muss vorwegnehmen, dass sich Atwood in ihrem Vorwort zunächst darauf verlegt, zu sagen, was „Survival“ nicht ist: keine Chronologie der kanadischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, keine Geschichte der kanadischen Literatur anhand der Biographien der Autor*innen, keine umfassende Studie, kein Nachschlagewerk und auch Werten, also eine Art Kanon aufbauen, möchte die Autorin nicht. Ja, was ist denn dieses Buch dann, warum soll man es lesen, fragt man sich als Leser*in da und auch Atwood stellt (sich) diese Frage, nachdem sie all diese möglichen Erwartungen zurückgewiesen hat.

Und beantwortet sie gleich im Anschluss, wie oben bereits angedeutet: Das Buch soll eine Reihe von Grundstrukturen herausarbeiten, die die kanadische Literatur von allen anderen unterscheidbar macht. Kurzum, nachdem man dieses Buch gelesen hat, soll man ein Buch zur Hand nehmen und die ersten paar Seiten lesen und dann schon sagen können: das ist CanLit. Oder: das Buch konnte nur in Kanada geschrieben werden.

Um das zu erreichen hat Atwood ihr Buch in einige Kapitel unterteilt, die solche Grundstrukturen umreißen und die da heißen: „Überleben“, „Die Natur als Ungeheur“, „Tiere als Opfer“, „Ureinwohner“ und noch einige weitere. Jedem dieser Kapitel ist eine Doppelseite an Zitaten vorangestellt, dann folgt die jeweilige Auseinandersetzung.

Gleich warnen muss man wohl alle Leser*innen, dass Atwood eine Vorliebe für Lyrik hegt. Ich persönlich begrüße das, aber es wird sicher einige Leser*innen abschrecken. Mit Vorliebe meine ich nicht, dass sie nur oder mehrheitlich Lyrik zitiert, aber doch im größeren Maße als man es gewohnt ist und vor allem nicht in einem eigenen Kapitel, sondern kapitelübergreifend.

Auch ansonsten legt Atwood einige Eigenheiten an den Tag, manche sympathisch, manche etwas enervierend. So ist bspw. der Untertitel „Streifzug“ ernst zu nehmen, denn in der Tat bewegt sich Atwood schnell von einem Beispiel zum anderen und es geht ihr tatsächlich mehr um die Kategorien als um die Autor*innen und die einzelnen Werke. Wer sich daher sehr gezielte Lesetipps erhofft, wird vermutlich eher enttäuscht sein.

Schön ist dagegen, mit welch unprätentiöser Art Atwood durch die Literatur ihres Landes führt. Sie betont schon zu Anfang, dass es sein sehr persönlicher und auch nicht gerade neuer Einblick ist, den sie gewährt, aber dennoch hat man das Gefühl, sehr gut auseinandergesetzt zu bekommen, warum die Bücher und Texte, die Atwood ins Zentrum rückt, gut das nachbilden, was in der kanadischen Lebenswirklichkeit und Literatur dominant ist.

So muss man am Ende auch sagen, dass dieses Buch fast schon mehr über Kanada und seine Welten aussagt, als über seine Literatur (natürlich tut es das durch das Fernrohr der Literatur, aber der Ausblick ist eben das Thema, nicht die Beschaffenheit des Fernrohrs). Das ist natürlich nicht schlimm, solange man sich nichts anderes erwartet. Ich habe den Streifzug genossen, gerade weil er sich wenig mit literaturwissenschaftlichen oder stilistischen Punkten aufhält. Anderen wird es anderes gehen. Aber die sind hiermit gewarnt.

P.S.: Wichtig ist natürlich auch anzumerken: Das Buch erschien im Original 1972, also vor fast 50 Jahren.

Zu “Die Ungetrösteten” von Kazuo Ishiguro


98c5a1e0f44a487aef5f31e97ed15ac0e042f388-00-00 Man sollte das Leben leben und nicht versuchen, es zu verstehen. Wer geneigt ist diesem Satz zuzustimmen, dem*der ist von der Lektüre der Romane von Kazuo Ishiguro eher abzuraten, insbesondere von einer Lektüre der „Ungeströsteten“.

„Die Unerhörten“, das wäre auch ein guter Titel für dieses Buch gewesen, auch wenn es den Originaltitel „The Unconsoled“ nicht ganz korrekt wiedergeben würde. Aber es geht in diesem Buch um die Unvereinbarkeit von Leben und Anspruch, Leben und Vorstellung, Leben und Sehnsucht, Leben und Traum. Und wie ließe sich diese Diskrepanz besser ausdrücken als mit dem Wort unerhört, in dem sowohl der Furor, das Klaffende dieser Diskrepanz steckt, als auch die schlichte Feststellung, dass es niemanden gibt, an den wir uns mit diesem Furor, diesen Sehnsüchten, dieser Ungerechtigkeit wenden können. Das menschliche Leben bleibt unerhört, in zweierlei Hinsicht.

Das Unerhörte, das war auch die Domäne eines anderen Autors, den man nicht jedem*r zur Lektüre empfehlen kann und der bei Ishiguros Buch eindeutig Pate stand: Franz Kafka. Ishiguro hat aber gar nicht erst versucht diesen Meister des Satzes und Stils zu kopieren oder gar zu potenzieren (außerhalb der deutschen Sprache ist dies wohl auch nur schwer möglich), vielmehr hat die Motive seiner Werke geschickt aufgefächert.
So ist vieles in „Die Ungetrösteten“ nicht mit jener genuinen Bedrohlichkeit aufgeladen, die in den meisten von Kafkas Werken, vor allem in den Romanen, so unabwendbar präsent ist (wie etwa bei Julio Cortázar. Obgleich es auch in den Ungeströteten immer wieder kurze Momente gibt, in denen sich eine Situation kafkalike zu verdichten droht). Ishiguro konzentriert sich weniger auf die Vergeblichkeit der Umstände und vielmehr auf die Vergeblichkeit des Individuums – und überführt damit auf gewisse Weise die Thematiken von Kafkas Werk in die Nachkriegsmoderne.

Denn wo es bei Kafka die Bürokratie, die unkörperhaften Autoritäten waren, von denen das Chaos ausgeht, liegt bei Ishiguro die Wurzel des Chaos eben im Individuum selbst und seinen Beziehungen zu anderen Individuen, nicht in den Fragen nach dem Platz im System, sondern den Fragen nach dem guten Leben, den richtigen Prioritäten, den Wegen, für die wir uns, völlig unabhängig von irgendeiner Autorität, entscheiden.
„Die Ungetrösteten“ spielen viele Aspekte dieser Problematik des Individuums und seiner Haltlosigkeit im Angesicht seiner Möglichkeiten und Verpflichtungen durch – mitunter langatmig, ermüdend, dies sei eingestanden. Aber letztlich lässt sich manches Thema nur mit dieser ausufernden Tendenz erschließen. Oder anders gesagt: Man kann nicht immer einfach nur eine Geschichte erzählen, manchmal muss ein Schicksal zugespitzt werden, muss ein Text über die Grenzen der anschaulichen Darstellung hinaus ins Erschöpfende sich strecken, um den Kern einer Erkenntnis wirklich offenlegen, berühren zu können.

Ishiguro gelingt es eine ganze Palette unterschiedlicher Dilemmata und Lebensbrüche in seine Erzählung zu weben, während sein Protagonist wie in einem endlosen (Alp-)Traum, kopflos und doch immer voller Absichten, Ideen und Hoffnungen, durch die Kulissen dieser Dilemmata stolpert, zum Teil Protagonist, zum Teil nur Anlass für die anderen Figuren, ihre Zweifel, Traumata und Ängste offenzulegen. Wie bei Kafka ist die Lektüre dieser Havarie nicht durchgehend unterhaltsam (obgleich es herrliche und erschütternde Momente gibt), zumindest nicht, wenn man nicht mitbedenkt, worauf die einzelnen Darstellungen abzielen: Life in a nutshell. Alle sind auf der Suche nach der Perle und verstehen nicht, dass sie sie nie finden können, weil sie überall ist und nirgendwo, zu groß um aufgelesen, besessen zu werden und ständig sieht man sich in ihr gespiegelt.

Ich hoffe nun kann jede*r selbst entscheiden, ob er das Abenteuer dieses Buches wagen will. Belohnt wird man vielleicht nur mit der Erkenntnis, dass man selbst auf die eine oder andere Art und Weise ein*e Ungeströtete*r ist. Wie viel das Wert ist, wer kann das sagen. Eine intensive Erkenntnis ist es aber nichtsdestotrotz.

Die zwei großen Narrative Literatur und Wissenschaft


Erkenntnis und SChönheit

Naturwissenschaft und Literatur, zwei große Narrative der Menschheitsgeschichte. Beiden sind Vorstellungen von Fortschritt und Tradition eingeschrieben, beide wollen die Welt darstellen, wollen das Innenleben jener materiellen und ideellen Form von Dasein ergründen, die in diesem Universum und all seinen Erzeugnissen vorherrscht.

Diese beiden Narrative, versponnen und gegeneinandergehalten, sind es, die McEwan in den Mittelpunkt nahezu aller Texte in diesem Band gestellt hat, von denen vier Vorträge sind und einer ein Artikel, gehalten bzw. publiziert zwischen 2003-2019. Der letzte Text legt dann noch einen besonderen Fokus auf die Religion (das dritte große Narrativ), genauer auf Endzeitvorstellungen.

Eine Persönlichkeit, die in den anderen vier Texten immer wieder eine Rolle spielt, ist Charles Darwin. Für McEwan ist er nicht nur als Begründer der Evolutionstheorie interessant, sondern auch (und teilweise vielmehr) als Literat. „Die Entstehung der Arten“ und auch Darwins andere Bücher, allen voran „Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren“, sind für McEwan nicht einfach nur wissenschaftliche Texte, Beweise für Theorien, sondern Literatur im besten Sinne.

Mehr als einmal bricht McEwan, nicht nur im Fall von Darwin, im vorliegenden Buch eine Lanze für die Wissenschaftsliteratur, ja, für die Wissenschaft(geschichte) als große Erzählung von den Dingen, die der Literatur näher steht, als uns die Trennung in arts und science glauben lässt. Denn obgleich es der einen um die Schönheit, der anderen um die Erkenntnis zu gehen scheint, findet sich auch in der Literatur Erkenntnis und in der Wissenschaft Schönheit. Ihre Ziele und vor allem ihre Errungenschaften haben einiges gemeinsam.

McEwan ist ein sehr non-stringenter Essayist. Er arbeitet keine klare Conclusio heraus, vielmehr sind seine Texte ein konstantes Vermitteln von Ideen, Referenzen, Verhältnissen, Möglichkeiten. Das ist angenehm, inspirierend, mitunter aber ist die Bewegung des Textes, trotz ihrer Eleganz, schwer nachzuvollziehen. Wer sich an dieser leichten Inkonsequenz nicht stört, dem wird McEwan in seinen Texten einen ganzen Kosmos an Überlegungen, Lektüren und Geschichten eröffnen.

It ain’t work, ain’t no good literature


Omama

„Es bleibt dem Leser überlassen, ob er diese Biographie als Hommage oder als Rufmord betrachtet.“

Über Humor lässt sich nicht streiten, sagt man bekanntlich. Das dergleichen schlicht (und weniger ergreifend) nicht wahr ist, beweist (u.a.) der Fall Lisa Eckhart. Denn um ihren Humor hat sich ein ganzer Streitfall zugetragen. Und selbst wenn man ihre Stand-Up-Auftritte und die damit verbundenen Kontroversen mal kurz hintenanstellt: ihr Debütroman „Omama“ liefert genug Stoff für weitere Kontroversen und, vor allem, weitere Fallbeispiele streitbaren Humors. Darüber haben viele Leute viel Kluges (und weniger Kluges) geschrieben. Das steht auf einem anderen Blatt (Blättern, Websiten, etc.)

Verlassen wir (für die Dauer dieser Rezension) das Politische, betreten wir das Literarische. Ich bin der Überzeugung, dass jedes Werk ganz unabhängig von der Person, die es geschrieben hat, betrachtet werden kann; diese Überzeugung stellt im Fall dieses Buches zunächst kein Problem dar, wenn es um die Person Lisa Eckhart (und ihre Ansichten) geht. Wenn man allerdings die Kunstfigur Lisa Eckhart hinzuzieht, puh, dann wird es schwierig.

Denn wer diese Kunstfigur einmal erlebt hat, auf der Bühne, per Youtube, wie auch immer, der wird deren Stimme, deren Gehabe kaum ausblenden können, während er dieses Buch liest. Fans dieser Figur werden damit möglicherweise nicht einmal Probleme haben – wer aber (ganz abgesehen vom Humor der Bühnenauftritte, den ich, wie gesagt, hier nicht thematisieren will, ohne zu sagen, dass er nicht thematisiert gehört) Schwierigkeiten mit dem Stil, dem Habitus dieser Figur hat, dem wird es womöglich nicht möglich sein, es ohne Zähneknirschen zu lesen.

Denn was bei einer Bühnenfigur vielleicht noch charmant ist – dass sie sich selbst gern reden hört, dass sie sich in ihre Extravaganzen verstrickt, dass sie kalauert und Gefallen daran findet über die Stränge zu schlagen, unzuverlässig zu sein, selbstverliebt ironisch, etc. – wirkt bei einer Erzählerin in einem Roman mitunter einfach nur konfus, ja, geht sogar so weit, dass man als Leser das Gefühl hat, die Autorin habe ihn aus den Augen verloren, während sie Worte hinklatscht und Sätze Loopings schlagen lässt. Es geht mir nicht darum, Lisa Eckhart eins auszuwischen, aber es muss gesagt werden: die Umsattlung von Kabarett auf Literatur ist in meinen Augen nicht geglückt, eher halbgar geraten.

Das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie das Buch aufgebaut ist. Da wird die Geschichte einer Oma erzählt, auf eine Art, die wohl biographische Ernsthaftigkeit persiflieren soll. Tatsächlich erscheinen aber eher die essayistischen Passagen, die Eckhart immer wieder großzügig einwebt, wie Persiflagen, wie Satiren auf die geistreiche Abschweifung im Roman. Durchaus ein würdiges Objekt für eine Satire, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass Eckhart sich darin mitunter schon ganz geistreich vorkommt, gern als Küchenphilosophin auftritt, wenn auch eingehüllt in ein gutgeschnittenes Ironie-Kostüm.

Die Passagen der Erzählung von der Großmutter und diese Abschweifungen (die in Teilen manchmal sogar etwas Erhellendes haben, diesen Glanz aber fast immer durch Übersteigerung und Veralberung auf halben Weg verlieren) wechseln sich ständig ab, eine Verfahrensweise, die die Konsistenz des Buches auf Dauer zersetzt und einen roten Faden gar nicht aufkommen lässt. Ein irritierendes Chaos ist die Folge, dass das Lesen mitunter ziemlich anstrengend macht.

Jetzt könnte man zweierlei einwenden: Zum einen, dass dieses Chaos nun mal das Konzept des Buches ist und zum anderen, dass Eckhart halt sowohl eine Geschichte erzählen, als auch ihre Fangemeinde bedienen wollte. Das mag beides sein und gelten. In meinen Augen ist aber zum einen Chaos nur dann ein gutes literarisches Konzept, wenn es nicht nur irritiert, sondern innerhalb dieser Irritation auch ein Mehrwert entsteht, sich etwas offenbart. Zum anderen finde ich, dass das was auf einer Bühne in einem Comedy-Programm gemacht wird, nicht als Literatur funktionieren kann (wie viele Bühnenautor*innen hätten sonst schon längst ihre Programme in Sammelbänden rausgebracht). Es gibt vielleicht Ausnahmen, wie etwa Volker Pispers Radio-Kolumnen (aber die haben in gewissem Sinne schon ein literarisches Format), aber Acting/Performing und Telling sind nun mal zwei unterschiedliche Vermittlungsformen. Gerade Eckharts exentrischer Stil, der auf der Bühne erlesen wirkt, verliert auf Papier an Wucht und ist teilweise enervierend.

Statt dasselbe Publikum zu bedienen, nur diesmal mit einem Buch, hätte Lisa Eckhart in der Literatur etwas leicht (oder auch ganz) anderes machen können, viele Möglichkeiten standen ihr offen. Sie hätte die Idee der persiflierten Abschweifung ausbauen und ernster nehmen, einen neuen Tristram Shandy schreiben können. Sie hätte ein flottes Buch über ihre Oma schreiben können, in dem sie Ernst und Witz aneinanderlegt und nicht permanent auseinandertreibt.

Geworden ist es ein Hybrid aus biographischer Persiflage und Kabarettreden, der der Komik auch dann den Vorzug vor der Signifikanz gibt, wenn es komplett unnötig ist. Auf der Bühne ist das komisch, im Buch kann es auch funktionieren, aber es braucht dazu zumindest ein bisschen echtes Fleisch um all die klappernd-komischen Knochen. Das liefert Lisa Eckhart nicht und so bleibt „Omama“ eines unter vielen Unterhaltungsbüchern, das durch nichts besonders hervorsticht, außer durch den Namen auf dem Titelblatt.

(Ja, ich weiß, Kritiker*innen, die sich andere Bücher wünschen, als sie bekamen, sollten sich an die eigene Nase fassen: vielleicht sind sie viel eher vor dem Buch gescheitert als das Buch vor ihnen? Ich habe meine Argumente und sie reichen mir; wem sie nicht einleuchten, den kann ich nicht daran hindern, sie zu übersehen.)

Zu Lukas Bärfuss “Stil und Moral”


Stil und Moral„Die Freiheit des Dichters, sein Spielraum, beginnt erst in der Fügung der Sätze. Im Gegensatz zu den Buchstaben und den Worten ist ihre Abfolge durch nichts festgelegt […] Die Freiheit des Dichters liegt also nicht in der Konstruktion, sondern in der Abfolge. So, wie niemand über die Motorik gebietet, die für einen Schritt notwendig ist, aber entscheiden kann, wohin er seine Füße setzen will, bestimmt auch der Dichter nicht über die Elemente, sondern über ihre Reihenfolge.“

Der Band mit Essays des diesjährigen Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss gehört zu dem Bemerkenswertesten, das in dieser Gattung in den letzten Jahren gelesen habe. Das liegt auch an der Bandbreite der thematisierten Bereiche, aber vor allem an der zu gleichen Teilen eigensinnigen und zugänglich-nahbaren Atmosphäre von Bärfuss-Stil. Die Texte schlagen meist schon zu Anfang einen ziemlich klaren Weg ein und öffnen sich doch immer wieder zu erstaunlichen Ansichten und Aussichten hin, beginnen mit ihrer Argumentation erst manchmal auf den letzten Metern, in denen sich das zuvor Geschilderte aber auf äußerst gelungene Weise verdichtet.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die, so wird nach und nach klar, nicht nur Rubriken darstellen, sondern auch eine Dramaturgie, die zwar nicht im Vordergrund steht, aber dennoch ein zusätzliches Narrativ erschafft. Im ersten Abschnitt sind Texte mit autobiographischem Hintergrund versammelt – darunter eine irritierend-einnehmende Erzählung über Masken, die sich gegen Ende in eine mögliche zivilisatorische Diagnose verwandelt.

Im zweiten Abschnitt befinden sich ausschließlich Texte, die sich mit einem literarischen Werk oder einem Schriftsteller auseinandersetzen, in unterschiedlicher Länge und Intensität. Die autobiographische Note des ersten Abschnitts ist auch hier noch in einigen Texten sehr präsent, auch in einem großartigen Text über Kleist. Klug sind auch Bärfuss kurze Überlegung zu Brecht

„Daher rührt unser Unbehagen, wenn wir heute Brechts Stücke lesen. Er glaubte, die Veränderung sei für den Menschen ein Vergnügen. Für uns hat sie jeden Zauber verloren. Der Kapitalismus hat längst begriffen, dass sich alles ändern muss, damit alles bleibt, wie es ist. Wir transformieren uns von einer Stunde auf die andere, ohne Folgen. Alles wird anders, nichts ändert sich.“

und zu Max Frischs frühem Roman „Die Schwierigen“ und Frisch genereller Behandlung von Identitätsfragen in seinem Werk.

„Wer die Frage nach der eignen Identität stellt, stellt das Konzept der Identität selbst in Frage. Das Wort Identität bedeutet unteilbar, aber jede Frage öffnet einen Spalt. Denn wer ist es, der sie stellt? Wer oder was kann diese Frage stellen, wenn nicht jener Teil meines Bewusstseins, der offenbar nicht zu diesem ungeteilten Teil gehört, der sich Identität nennt. Die Frage selbst teilt das Subjekt in etwas, das ist, und etwas, das sein könnte.“

Bärfuss tritt in diesen Texten weder als Prediger, noch als Zweifler auf, vielmehr wirken seine Essays wie eine noch nicht ganz abgeschlossene Suche nach einem Startpunkt, nach einem Übergang zwischen Gedanken und Aussage. Er arbeitet dennoch vortrefflich die Kernstücke der jeweiligen Werke heraus, ihre Epizentren, legt die Kante dieser Bücher und Autoren frei, die noch scharf ist (es handelt sich allerdings leider nur um Autoren).

Im dritten Abschnitt drehen sich die Texte um gesellschaftspolitische Fragen und Themen, über Wahlverdruss, Freiheit bis zu einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Realitäten (nebst zweier Oden über Lehrer*innen und Schüler*innen). Dieser dritte Abschnitt mit seinen zunehmend engagierten Tönen, die auch in den Texten der ersten beiden Abschnitte im Nachhinein das Engagement hervorblitzen lassen, bereitet den letzten vierten Abschnitt vor, in dem es noch einmal in drei Texten um die Fragen nach der Verbindung von Moral und Kunst geht.

„Ich sage nur, dass sich die Erfahrung, von der die Dichtung spricht, in kein System bringen lässt. Ein System versucht im Gegenteil jede Erfahrung auszuschließen. Die Erfahrung wiederholt sich nicht, sie ist nicht in die Zukunft transponierbar, sie ist definiert durch das einmalige Auftreten. Was sich wiederholt, schafft keine Erfahrung. Sie lässt sich nicht systematisieren, sie besteht aus dem Unerwarteten, aus dem Unvorhergesehenen.“

Die Bahn der Texte, beginnend beim Eigenen, Persönlichen, über das Abgebildete, Theoretische, hin zur Praxis in größeren Zusammenhängen, die über einen selbst hinausgehen, wird hier im letzten Abschnitt zur Kreisform, hier wird der Schriftsteller (der/die Schriftsteller*in) zu einem gemeinsamen Nenner der drei Abschnitte, der sich aber ständig neu zu allen Aspekten positionieren muss. Jeder Text ist eine ganz eigenständige Positionierung in diesem Sinn.

Kaum einer von Bärfuss Texten ist komplett zu Ende gedacht, es sind Einlassungen, Anstöße, aber sehr gut formulierte und bestechende Einlassungen, die keinen übergroßen Geltungswillen, dafür aber Stoff für jede Menge Gedankenspinnen bereithalten und eine klare Position in einem Thema einrichten, ohne es komplett zu erschließen. Diese offene Dichte macht diese Texte für mich so bemerkenswert und sehr, sehr lesenswert.

Zu “Die Macht der Schrift” von Martin Puchner


Die Macht der Schrift Schon immer war die Schrift ein Machtinstrument – man könnte allerdings darüber streiten, wann sie mächtiger war: heute, wo sie in aller Munde (pardon: auf allen Bildschirmen) ist und jede/r sich ihr bedienen kann, um Informationen festzuhalten und Geschehnisse darzustellen, aufzurufen, zu schmähen, zu schmücken, oder einst, ganz am Anfang, als sie noch vom Nimbus des Magischen umgeben war, geradezu einem Zaubertrick glich (ein Zustand, den jede gute Literatur möglicherweise wieder zu erlangen sucht …)

Denn so beginnt die Geschichte der Schrift: der Sage nach soll sich der erste Herrscher, der von einem anderen Herrscher eine in Keilschrift abgefasste Drohung erhielt, sofort diesem unterworfen haben, als er hörte, diese seltsamen Zeichen seien das in Ton gepresste Sprechen seines Widersachers.

Geschichten (und auch Drohungen) begleiten die Menschheit, seit sie komplexere Formen der Kommunikation besitzt, aber der Übergang von der mündlichen Tradition zu schriftlichen Werken markiert einen Wendepunkt und führt eine Entwicklung an, die immer noch andauert und mit dem Internet und der digitalen Verschriftlichung einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Martin Puchner erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser Entwicklung und wie die Literatur, also das verschriftliche Erzählen, die Geschicke der Menschheit bedingt und geprägt hat. Er beginnt mit den Grundlagentexten (Ilias, Gilgamesch-Epos und Bibel) und arbeitet sich von dort bis in die Moderne vor, selbst Geschichten erzählend und dabei die realen Kontexte und Folgen offenbarend.

Herausgekommen ist ein prächtiges, gewissenhaftes Werk, das gelehrig und mitunter auch spannend ist, in jedem Fall aber genau das einlöst, was es verspricht: es erzählt von der Macht der Schrift, für uns ein Alltagsphänomen, in Wirklichkeit bis heute aber eine unerhörte Erscheinung, in der sich große Kräfte bündeln, wenn auch diese Kräfte oft verschlungene Wege gehen. Wer bspw. ein Fan der Bücher von Alberto Manguel ist, wird auch hier eine ähnlich anregende, verständlich geschriebene, wenn auch vielleicht nicht ganz so geschickte Darstellung vorfinden.

Zu Tim Parks Essayband “Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen”


Worüber wir sprechen, wenn wir von Büchern sprechen Tim Parks erklärtes Ziel, wie es sich in den verschiedenen Themen dieser Essaysammlung manifestiert, ist es, alle zu selbstverständlichen und dar ob wunden Punkte in unserem heutigen Verständnis von Literatur und Büchern zu finden und an ihnen zu rühren, sie auszustellen und umzukrempeln.

In „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ geht es nicht primär, wie sonst oft, um die heilsamen Wirkungen, faszinierenden Erlebnisse und relevanten Funktionen der Literatur, sondern um ihre (starren) Glaubenskonzepte, ihre Schwächen und Abhängigkeiten. Und auch wenn Parks als Romanautor, Essayist, Creative-Wrtiting-Lehrer und Übersetzer (auch hier lehrend) sich natürlich nie ganz von den Ideen der Literatur distanziert, hier stellt er sie doch einmal gnadenlos auf den Prüfstand.

Schon die Eingangssequenz fragt „Brauchen wir Geschichten?“ und führt uns alle so hochgerühmten Ideen der Literatur als Schemen und Hörensagen vor, konfrontiert uns mit den Hohlräumen und Leerstellen in ihrem so klar und richtig erscheinenden Selbstverständnis.

Im weiteren Verlauf wird aus dieser grundsätzlichen Hinterfragung ein Netz aus vielfältigen Ansätzen, die meist das Fragwürdige in verschiedenen literarischen Disziplinen und Institutionen, aber auch und vor allem in Entwicklungen, herauskehren. So setzt sich Parks etwa mit der Globalisierung des Buchgeschäfts auseinander (das für ihn als englischsprachigen Autor viel Raum bereithält) und er beschreibt wie viele Romanautor*innen heute zwischen regionalen und weltliterarischen Themen/Ansätzen hin und her geworfen sind, wie die moderne Literatur gefahrläuft omnipräsent, aber dafür gleichförmig und unspezifisch zu werden.

Spannender hingegen als dieses schon etwas geläufigere, durchaus breit rezipierte Problem sind seine unnachgiebige Kritik an Literaturpreisen und seine vielen kleineren Überlegungen zum literarischen Verfahren und der Stellung von Sprache im Verhältnis zur modernen Gesellschaft. So schreibt er an einer Stelle:

„Wir haben es also heutzutage mit dem Hang zu tun, das Handeln durch das Katalogisieren und Dokumentieren zu ersetzen, eine Illusion (oder Simulation) verantwortlichen Handelns zu erzeugen, indem wir die sogenannte Arbeit, die dem verantwortlichen Handeln vorausgeht und – in den seltenen Fällen, in denen ein solches Handeln noch stattfindet – auf es folgt, endlos vermehren.“

Er führt im Anschluss aus, dass Literatur sich lange Zeit als Widerpart der Bürokratie inszeniert/gesehen hat, sprachlich wie auch inhaltlich. Aber ist sie dies noch oder war sie es je? Ist sie nicht stets vom Kampf gegen diese Verkürzung und Festschreibung selbst in die Eitelkeit der Verkürzung und Festschreibung verrutscht (und nur durch die Brechung der Ironie gesehen, steht sie heute noch abseits davon)?

Und führt die Dokumentation des Leids, wie sie ein Großteil der Romanliteratur betreibt, oder die Ironie, die längst von einem Mittel zum Zweck zu einem reinen Zweck verkommen zu sein scheint, irgendwohin? Gäbe es andere Ansätze, denen zu folgen sich lohnen würde?

Parks umkreist diese Fragen, bringt sowohl eigene Überlegungen als auch eine ganze Reihe von Beispielen aus dem angelsächsischen Literaturkosmos mit ein (einige wiederkehrende Autor*innen sind Samuel Beckett, Henry Green, Thomas Hardy und William Faulkner). Seine Haltung ist immer skeptisch, trotzdem merkt man durchaus, dass er selbst sich auch dann nicht von der Literatur lösen könnte, wenn seine polemischen Hiebe tatsächlich Erfolg hätten. Wie Thomas Hettche in „Unsere leeren Herzen“ sucht Parks nicht einfach nur eine originelle Position, nicht nur Schwachstellen, mit deren Entdeckung er sich profilieren kann, sondern auch nach Erkenntnissen hinter diesen Schwachstellen.

„Ist jede »locution« (Beschreibung) zwangsläufig auch »circumlocution« (Umschreibung, Umschweif), wie Beckett glaubte, und wird der Westen sich womöglich langsam und genüsslich selbst die Luft abdrücken und unter einem Haufen von Akten ersticken, während er sich zu Tode unterhalten lässt von einem Berg an Literatur, die diesen skandalösen Vorgang beschreibt und auf bestechende Art und Weise vermittelt?“

Manches Thema wird von Parks etwas zu einseitig betrachtet und seine Ausführungen lassen sich hier und dort leicht abschütteln. Seine Grundsorgen und -überlegungen sind aber oft erstaunlich bestechend. Statt groß zu polemisieren und zu behaupten, zu prophezeien oder glanzvoll zu akzentuieren, nimmt er die derzeitige Buchkultur Stück für Stück auseinander und betrachtet ihr Innenleben. Ihm geht es dabei nicht um die Demontage, sondern um die Frage: wie funktioniert das alles? Funktioniert es wirklich? Könnte es auch anders funktionieren?

Zu “Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen”


Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen besprochen bei Fixpoetry