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Zu Tim Parks Essayband “Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen”


Worüber wir sprechen, wenn wir von Büchern sprechen Tim Parks erklärtes Ziel, wie es sich in den verschiedenen Themen dieser Essaysammlung manifestiert, ist es, alle zu selbstverständlichen und dar ob wunden Punkte in unserem heutigen Verständnis von Literatur und Büchern zu finden und an ihnen zu rühren, sie auszustellen und umzukrempeln.

In „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ geht es nicht primär, wie sonst oft, um die heilsamen Wirkungen, faszinierenden Erlebnisse und relevanten Funktionen der Literatur, sondern um ihre (starren) Glaubenskonzepte, ihre Schwächen und Abhängigkeiten. Und auch wenn Parks als Romanautor, Essayist, Creative-Wrtiting-Lehrer und Übersetzer (auch hier lehrend) sich natürlich nie ganz von den Ideen der Literatur distanziert, hier stellt er sie doch einmal gnadenlos auf den Prüfstand.

Schon die Eingangssequenz fragt „Brauchen wir Geschichten?“ und führt uns alle so hochgerühmten Ideen der Literatur als Schemen und Hörensagen vor, konfrontiert uns mit den Hohlräumen und Leerstellen in ihrem so klar und richtig erscheinenden Selbstverständnis.

Im weiteren Verlauf wird aus dieser grundsätzlichen Hinterfragung ein Netz aus vielfältigen Ansätzen, die meist das Fragwürdige in verschiedenen literarischen Disziplinen und Institutionen, aber auch und vor allem in Entwicklungen, herauskehren. So setzt sich Parks etwa mit der Globalisierung des Buchgeschäfts auseinander (das für ihn als englischsprachigen Autor viel Raum bereithält) und er beschreibt wie viele Romanautor*innen heute zwischen regionalen und weltliterarischen Themen/Ansätzen hin und her geworfen sind, wie die moderne Literatur gefahrläuft omnipräsent, aber dafür gleichförmig und unspezifisch zu werden.

Spannender hingegen als dieses schon etwas geläufigere, durchaus breit rezipierte Problem sind seine unnachgiebige Kritik an Literaturpreisen und seine vielen kleineren Überlegungen zum literarischen Verfahren und der Stellung von Sprache im Verhältnis zur modernen Gesellschaft. So schreibt er an einer Stelle:

„Wir haben es also heutzutage mit dem Hang zu tun, das Handeln durch das Katalogisieren und Dokumentieren zu ersetzen, eine Illusion (oder Simulation) verantwortlichen Handelns zu erzeugen, indem wir die sogenannte Arbeit, die dem verantwortlichen Handeln vorausgeht und – in den seltenen Fällen, in denen ein solches Handeln noch stattfindet – auf es folgt, endlos vermehren.“

Er führt im Anschluss aus, dass Literatur sich lange Zeit als Widerpart der Bürokratie inszeniert/gesehen hat, sprachlich wie auch inhaltlich. Aber ist sie dies noch oder war sie es je? Ist sie nicht stets vom Kampf gegen diese Verkürzung und Festschreibung selbst in die Eitelkeit der Verkürzung und Festschreibung verrutscht (und nur durch die Brechung der Ironie gesehen, steht sie heute noch abseits davon)?

Und führt die Dokumentation des Leids, wie sie ein Großteil der Romanliteratur betreibt, oder die Ironie, die längst von einem Mittel zum Zweck zu einem reinen Zweck verkommen zu sein scheint, irgendwohin? Gäbe es andere Ansätze, denen zu folgen sich lohnen würde?

Parks umkreist diese Fragen, bringt sowohl eigene Überlegungen als auch eine ganze Reihe von Beispielen aus dem angelsächsischen Literaturkosmos mit ein (einige wiederkehrende Autor*innen sind Samuel Beckett, Henry Green, Thomas Hardy und William Faulkner). Seine Haltung ist immer skeptisch, trotzdem merkt man durchaus, dass er selbst sich auch dann nicht von der Literatur lösen könnte, wenn seine polemischen Hiebe tatsächlich Erfolg hätten. Wie Thomas Hettche in „Unsere leeren Herzen“ sucht Parks nicht einfach nur eine originelle Position, nicht nur Schwachstellen, mit deren Entdeckung er sich profilieren kann, sondern auch nach Erkenntnissen hinter diesen Schwachstellen.

„Ist jede »locution« (Beschreibung) zwangsläufig auch »circumlocution« (Umschreibung, Umschweif), wie Beckett glaubte, und wird der Westen sich womöglich langsam und genüsslich selbst die Luft abdrücken und unter einem Haufen von Akten ersticken, während er sich zu Tode unterhalten lässt von einem Berg an Literatur, die diesen skandalösen Vorgang beschreibt und auf bestechende Art und Weise vermittelt?“

Manches Thema wird von Parks etwas zu einseitig betrachtet und seine Ausführungen lassen sich hier und dort leicht abschütteln. Seine Grundsorgen und -überlegungen sind aber oft erstaunlich bestechend. Statt groß zu polemisieren und zu behaupten, zu prophezeien oder glanzvoll zu akzentuieren, nimmt er die derzeitige Buchkultur Stück für Stück auseinander und betrachtet ihr Innenleben. Ihm geht es dabei nicht um die Demontage, sondern um die Frage: wie funktioniert das alles? Funktioniert es wirklich? Könnte es auch anders funktionieren?

Zu “Wir sagen uns Dunkles” über Paul Celan & Ingeborg Bachmann


Ingeborg Bachmann und Paul Celan: schon um ihre einzelnen Existenzen und Werke ranken sich Legenden, Geheimnisse und allerhand literaturwissenschaftliches Beiwerk ist zu diesem Kosmos aufgehäuft worden. Aus der Geschichte der Nachkriegslyrik sind sie, jeder für sich und aus unterschiedlichen Gründen, nicht wegzudenken. Doch die Launen des Schicksals (oder eine geheimnisvolle Zwangsläufigkeit) bescherten der deutschen Literatur darüber hinaus eine kleine Liebesgeschichte poetischen Ausmaßes, mit Wendungen, vieldeutigen Bezügen und vielzitierten Anekdoten. Diese Geschichte ist eng mit dem Briefwechsel verbunden, der 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ publiziert wurde.

Doch in welchen Kontexten die Briefe standen und was sich an Hintergründen und Verflechtungen zusammentragen lässt, ein Buch dazu stand noch aus. Helmut Böttiger, ein renommierter Autor, hat nun mit „Wir sagen und Dunkles“ einen Versuch gewagt.

Der Titel (ein Zitat aus Celans Gedicht Corona) ist in zweierlei Hinsicht trefflich: zum einen klingt darin viel von dem Nimbus an, welcher die Beziehung bist heute umgibt und auch das Wesen dieser Beziehung, ihre Grundlagen und ihre Art der Kommunikation, deutet sich in der Zartheit und Untiefe dieses Satzes an. Zum anderen ist darin aber auch ein Faktum festgestellt, dass einen leichten Schatten auf das Buch wirft: einiges wird für immer im Dunkeln bleiben. Denn trotz des Briefwechsels und verschiedener Aussagen von Freund*innen, Weggefährt*innen und anderen Zeitzeug*innen, gibt es Lücken und weiße Flecken, die auch Böttiger nur mit Spekulationen füllen kann – gut abgewogenen Spekulationen, die genug Licht werfen, nichtsdestotrotz bleibt es eine nicht ganz zu Ende erzählte Geschichte. Das Buch weist allerdings auch über diese Geschichte hinaus.

Die Geschichte zweier dichterischer Existenzen ist nahezu zwangsläufig die Geschichte einiger Sehnsüchte, einiger Lebensthemen, die in der Begegnung aufeinanderprallen, aufgefangen werden, sich aneinander reiben, sich spiegeln, sich irritieren. Aus diesem guten Grund hat Böttiger nicht einfach nur die wenigen Zeiträume in Licht gerückt, in denen sich konkret etwas zwischen Bachmann und Celan entwickelte, sondern beleuchtet im Stile einer Doppelbiographie mal den einen, mal den anderen Lebensweg, und lediglich das besondere Augenmerkt liegt auf den Überschneidungen und gemeinsamen biographischen Höhepunkten.

Es ist bemerkenswert wie Böttiger sich auf die Einzelpersonen einlässt – bei beiden gelingt ihm eine sehr organische Darstellung der Persönlichkeiten, mit allen Widersprüchen und Mythen. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass der wahre Verdienst dieses Buches die Darstellung der Einzelexistenzen ist: in ihrer ganzen Vielschichtigkeit werden die beiden Dichter*innen entschleiert, ohne dadurch entzaubert zu werden. Und auch wie sie sich in ihrer Zeit bewegen, ist vielfach ein Thema. Geschickt kreist das Buch um alle profanen und gesellschaftlichen Probleme, aber auch um alle seelischen und existenziellen Nöte, Entscheidungen und Ereignisse.

Um letztere zu umreißen unternimmt Böttiger einige, geradezu leidenschaftliche, Tauchgänge in die Privatmythologien der beiden Dichter*innen und analysiert die subtile, unterschwellige Korrespondenz, die über Jahre hinweg in ihren Schriften stattfindet; ihr unterschiedlich gewichtetes, aber hier und da mit einem Widerschein des anderen versehenes Ausformen. Passagen, die die Lebensentwürfe und -stationen der beiden im Fokus haben, wechseln sich ab mit anderen, in denen feine Analysen der jeweiligen Gedichte. Briefe oder Aussagen erbracht werden.

Kurzum: der Versuch ist geglückt. Nach diesem Buch sieht man die Geschichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann noch einmal ganz anders und an vielen Stellen klarer. Das verdankt sich nicht zuletzt der guten Strukturierung und der anschaulichen, nicht nur an der Oberfläche bleibenden Darstellung, die auch Hintergründe, die das Gesamtbild der beiden Charaktere komplettieren, aber nicht direkt etwas mit ihrer gemeinsamen Karriere zu tun haben, einbringt. Ein faszinierendes und über weite Strecken sehr gelungenes Doppelporträt, das an vielen Stellen über sich hinauswächst.

Erschütterungen, die die zeitgenössische Literatur abbildet, nachverfolgt in Norbert Niemanns Studie


“Und ich fragte mich immer öfter: Gibt es so etwas wie eine neue internationale Ästhetik? […] Ich habe die Aufgabe von Kunst immer begriffen als einen Akt der Annäherung an eine Gegenwart, der laufend die Sprache abhandenkommt. […] Der Hauptteil meines Essays beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf das konkrete Leben der Menschen, wie sie in der erzählenden Prosa gezeigt und umgesetzt werden.“

Überschaut man die Literatur der Jahre zwischen 1500 und 1950 (in Teilen noch bis 1990) lässt sich zwar bei vielen Titeln von „Weltliteratur“ sprechen, aber die Verwurzelung der Werke in ihre nationalen Zusammenhänge (und die regionale oder übergreifend nationale Geschichte) ist in den meisten Fällen nicht von der Hand zu weisen. Kunst kommuniziert selbstverständlich seit jeher über Grenzen hinweg, negiert diese Grenzen aber nicht, sondern überwindet sie lediglich hier und dort.

Heute leben wir in globalisierten Zeiten, wo die Grenzen dabei sind, sich aufzulösen – bis auf eine wenige, die klar hervortreten: die Grenzen zwischen arm und reich zum Beispiel. Viele andere aber verschwimmen, sodass es mittlerweile schwer geworden ist, beispielsweise zwischen Mainstream und Alternative, Kunst und Kommerz, Eigenschaft oder Stigmata, Mythos und Tradition zu unterscheiden. Natürlich ist es nur „schwer“ und nicht „unmöglich“. Aber da alles irgendwie mit allem verwoben ist, droht noch die einfachste Darstellung zeitgenössischer Themen und Phänomene auszuufern oder zu scheitern.

Die Globalisierung und die damit einhergehende Vormachtstellung eines Weltmarktes, der überall auf den gleichen Prinzipien fußt, ist eben nicht nur ein Problem ökonomischer, gesellschaftlicher und sozialer Art, sondern auch eines der Literatur (vom literarischen Betrieb ganz zu schweigen). Wie gehen Schriftsteller*innen um mit einer Welt, deren Strukturen gleich geschaltet werden und die dennoch unübersichtlich und geradezu beliebig wirken. Worauf kann man noch den Schwerpunkt setzen, welches Narrativ wird diesen Zeiten gerecht? Das Narrativ der Generation? In einem der von Niemann behandelten Romane (Open City von Teju Cole) sagt ein Korea-Kriegsveteran:

„Jeder neue Krieg ist der mentale Krieg einer neuen Generation, bereits für die nächste werden die irakischen Städtenamen bedeutungslos sein. Man vergisst schnell. Fallujah wird denen ebenso wenig sagen wie Ihnen Daejon.“

Wenn die Beliebigkeit dieser Fixpunkte zu Tage tritt, taugen sie dann noch für ein Narrativ? Oder muss das Narrativ auf dem überforderten Individuum fußen? Aber lässt nicht eine solche, aufs Ich fokussierte Erzählung, die wichtigsten Themen, das große Ganze außer Acht?

Norbert Niemann begibt sich im ersten Teil des Buches auf die Suche nach den neuen Narrativen der Gegenwartsliteratur überall auf der Welt, in den Mega-Citys und der ukrainischen Pampa, in den Randgebieten und den Ballungszentren. Was er beschreibt und analytisch offenlegt, sind die Möglichkeiten der Literatur, nach wie vor die Beschaffenheit der Welt darzustellen, mit Sprache erfahrbar zu machen. Er zeigt aber auch, wie klar sie sich dafür zurückziehen muss auf die individuelle Ausprägung. Und wie sehr sie davon abgelassen hat, das große Ganze umfassend abbilden zu wollen.

“Die Stadt bringt nicht länger repräsentative Identitäten und soziale Muster hervor. Sie ist zu einer Verdichtungszone unverbunden nebeneinander existierender Realitäten geworden, die eher dadurch charakterisiert sind, dass sie die Verschmelzung zu gemeinsamen identifikatorischen und strukturellen Merkmalen beharrlich verhindern. […] Entsprechend verschoben hat sich der Akzent literarischer Darstellung: Ihr Gegenstand ist nicht mehr das Dickicht, sondern die Arten und Weisen, wie sich der Einzelne durchs Dickicht schlägt. Die Riesenstädte des 21. Jahrhunderts werden sichtbar allein aus dem Blickwinkel individualistischer Enklaven. […] Die Enklave wird zur Kernzelle serieller Subjektivität, zum Ausgangspunkt zeitgenössischer Realitätserfahrung in einer Stadtlandschaft, die den Einzelnen als Beton- und Asphaltwüste umgibt.”

Mitunter ist die Studie eine großartige Lehrstunde in literarischer Interpretation, anschaulich, inspirierend geradezu. Manchmal habe ich mich trotzdem etwas übervorteilt gefühlt. Doch es bleibt am Ende vor allem eine Flut von bestechenden Eindrücken zurück – und jede Menge Literaturtipps gibt es noch oben drauf.

Man bekommt das Gefühl, Norbert Niemann ist jemand, der sich leidenschaftlich mit Literatur auseinandersetzt und man kann vor dieser eher ehrgeizigen Studie nur den Hut ziehen, auch wenn ihr der Balanceakt zwischen freierer Essayistik und Informationsvermittlung nicht immer gelingt; vielleicht wäre hier und da eine schlichtere Darstellung auch okay gewesen.

Aber das Buch bietet nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem, was sich in der Literatur niederschlägt, sondern, im zweiten Teil, auch eine umfassende und mitunter gnadenlose Darstellung des neuökonomischen Literaturbetriebs. Literatur ist zum Gut geworden, zur Ware und hat sich von ihrer eigentlichen Funktion Stück für Stück entfremdet. Die einzelnen Entwicklungen, die dieses Phänomen betreffen, arbeitet Niemann konsequent heraus. Und endet mit einem Appell, dass sich diese Dynamik wieder ändern muss.

Fazit: ein dichtes, ein faszinierendes, mitunter etwas zu sehr in seine Durchdringungen verbissenes Buch, das ich mit viel Gewinn gelesen habe und das sich jeder, der sich mit der zeitgenössischen Literatur und ihren Möglichkeiten und Problemen auseinandersetzen will, einmal anschauen sollte.