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Zu “Untrue” von Wednesday Martin


untrue „Aber wenn man aus dem Mund einer fest liierten Frau nach der anderen hört, sie sei in sexueller Hinsicht ungewöhnlich – weil sie mehr Sex möchte, als sie sollte, weil sie den Drang, die Versuchung zum Fremdgehen verspürt –, dann wird man das Gefühl nicht los, in Sachen weiblicher Lust, Sexualität und insbesondere Monogamie sei das »Ungewöhnliche« das »Normale« und das »Normale« bedürfe dringend einer Neudefinition.“

Untreue, Fremdgehen – das sind nach wie vor, auch in unseren liberalen, aufgeklärten und in Teilen sexpositiven Gesellschaften, zwei mächtige Begriffe. Worte sind schließlich nicht nur Namen für etwas, sondern oft auch Chiffren, die im kulturellen/sozialen Kontext etwas darstellen/abbilden, im Fall dieser beiden Worte eine Erschütterung, zumindest eine Verunsicherung, eine Krise (und natürlich, medial angewandt, blinkt das Wort Skandal bei ihnen mit).

Das ist ein Narrativ, Geschichten, die das Wort scheinbar erzählt/erzählen muss, sobald es auftaucht. Dieses Narrativ hat natürlich eine ideologische Komponente, mit vielen Ausläufern. Diesem ideologischen Faktor geht Wednesday Martin in „Untrue“ nach, beschreibt ihr Selbstverständnis des Buches wie folgt:

„Wir haben es hier also mit einem Werk der interdisziplinären Kulturkritik zu tun. Es filtert und verdichtet eine ganze Bandbreite gelehrter Forschungsergebnisse zur weiblichen Untreue und verwebt sie mit meinen ganz persönlichen Ansichten, meinen Interpretationen von Artikeln in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sozialwissenschaftlichen Studien, aber auch von Songs und Filmen der Popkultur.“

Das Buch ist allerdings, bei aller Gelehrtheit und Struktur, eine ziemlich wilde Mischung aus Erfahrungsberichten, wissenschaftlich-theoretischen Ausführungen und anekdotischen Abschweifungen. Es kommt immer wieder zum Punkt, verzettelt sich aber auch hier und da in faszinierenden bis abenteuerlichen Ideen, die in manchen Fällen ein ganzes eigenes Buch zur Ausarbeitung bräuchten.

So entsteht allerdings ein spannender Überblick mit vielen Anregungen, nicht nur was weibliche Sexualität, sondern vor allem was das Selbstverständnis unserer westlichen Kulturen betrifft. Martin weißt immer wieder darauf hin, dass auch sie sich möglicherweise noch auf zu eingefahrenen Bahnen bewegt, wenn es darum geht, dieses Selbstverständnis zu hinterfragen.

„Und was soll »weibliche Untreue« überhaupt bedeuten in einem Kontext, in dem sich immer mehr Millennials als Postgender bezeichnen – also die säuberliche Trennung in zwei gegensätzliche Kategorien ablehnen, die bisher unser Leben definiert und Bedeutungen wie Heterosexualität und Homosexualität, männlich und weiblich, treu und untreu gestiftet haben?“

Über Fragen der Beziehungsgestaltung und historische und ethnologische Betrachtungen bis zur Psychologie von Sexualität spannt Martin einen teilweise schlingernden Bogen, der letztlich zwar kein konsistentes Gedankengebäude mit zwingenden Schlussfolgerungen tragen kann, aber dennoch in Staunen versetzt und (again) allerhand Anregungen bereithält (ebenso ihre umfangreichen Quellenangaben).

Die Mammutaufgabe, die weibliche Sexualität aus den bequemen Vorstellungen und lange zementierten Grundsätzen patriarchaler Bestimmungen herauszusprengen, geht sie mit viel Verve und Fakten an, viel Enthusiasmus und kämpferischen Ansagen, viel Feuer, aber auch mit unterschiedlichsten Ansätzen. Manche Darstellungen und Annahmen sind etwas zu einseitig und sollten im Hinblick auf Ideen einer individuell und nicht nur kulturell bedingten Sexualität überdacht werden. Aber es stimmt schon, unsere Sexualkultur bedarf einer rigorosen Überarbeitung und dieses Buch leistet hier einen wichtigen Anstoß.

„Es ist frustrierende, wenn man in Endlosschleife zu hören bekommt, Männer hätten eine stärkere Libido als Frauen, als wäre das eine schlichte Tatsache.“

Zu Julie Estèves “Lola”


„So wie andere Leute sich mit der Rasierklinge ritzen, spreizt Lola die Beine. Denn sie findet beim Sex, das verstehe, wer will, ein Stück weit ihre Unschuld wieder.“

Im Einbandtext dieser Ausgabe steht, dass Julie Estève sich mit ihrem Debütroman in eine „feministische Tradition“ einreiht, die auf Virginie Despentes und Elfriede Jelinek zurückgeht. Das ist für ein Debüt zunächst einmal sehr hoch gegriffen und lässt bei Lesenden wie mir eine Erwartung entstehen, die zersetzend wirken kann, weil selbst das an sich Gelungene im Lichte einer zu großen Erwartung auf einmal unpassend wirkt, enttäuschend.

Im selben Absatz des Einbandtextes wird davon gesprochen, dass es in Lola um weibliche Lust geht. Auch hier wird dem Buch Unrecht getan – es wird auf einen Aspekt, ein Motiv verengt Denn ebenso wenig wie es in Gustave Flauberts Buch Madame Bovary allein um Ehebruch geht oder in Melvilles Moby Dick allein um Rache an einem weißen Wal, ist Lola die Geschichte einer Frau, die sich mit ihrer Lust auseinandersetzt; wäre es ein Buch, das von einer nymphomanischen Betätigung handelt und nichts weiter, eine Geschichte über sexuelle Eskapaden, müsste man nur wenige Worte darüber verlieren.

Aber es geht in diesem Buch vielmehr um Einsamkeit, um die Einsamkeit inmitten des Rausches, der das Leben ist; um die Unmöglichkeit sich beieinander zu finden, sich durch den anderen zu ergänzen. Die Protagonistin Lola, aus deren Sicht ein Großteil der Handlung geschildert wird, ist eine unsichere, diese Unsicherheit mit offensiven Zügen kaschierende, vom Verlust ihrer Mutter und dem Scheitern einer jungen Liebe gezeichnete, verzweifelte Frau, die den Lesenden allerdings als ein wandelndes Klischeepaket, eine Kreuzung aus Femme-Fatale und todessehnsüchtiger Nymphomanin, vor den Latz geknallt wird. (Im Einbandtext wird behauptet, die Autorin arbeite mit Ironie und schwarzem Humor – zu einer Humoreske taugt dieses Buch allerdings ganz und gar nicht.)

Überhaupt hätte ich mir, obgleich es ein Debüt ist, eine bessere, gründlichere Ausarbeitung gewünscht. An manchen Stellen fehlen Feinschliff und Balance. Man kommt sich, vor allem zu Anfang, ständig bevormundet vor; Estève schildert nicht bloß, sie haut ihren Leser*innen die Eigenschaften ihrer Figuren geradezu um die Ohren, nimmt ständig unnötig malerische Charakterisierungen vor (z.B.: „Sie bekommt Hunger. Hunger wie ein streunender Hund.“) und setzt alles daran, die Dimensionen der Figuren auf ein kontrolliertes Maß herunter zu brechen.

Nun könnte man meinen: das ist nun mal ihr Schreibstil. Aber ich sehe einfach keinen Mehrwert in dieser Art, die die meisten möglichen Untiefen abtötet, den Roman zu einer Einbahnstraße macht. Die mangelnde Bereitschaft, den Figuren nicht nur eine Gestalt angedeihen zu lassen, sondern auch Räume um diese Gestalt herum, wird durch zahlreiche Erklärungen kompensiert und das Umsichwerfen mit Sinnlichkeiten.

Dabei könnte Lola eigentlich eine Figur sein, mit der einer großen Verzweiflung ein Angesicht verliehen wird. Sie ist eine legitime Nachfahrin von Emma Bovary, ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben, ihrer Furcht vor der Gewöhnlichkeit, der sie doch nicht entkommen kann, denn sie herrscht auch dort, wo vermeintlich etwas Schöneres, Bedeutsameres lauert. „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ – die Brutalität, die in diesem abgegriffenen Zitat liegt, sie wird hier angesprochen, umkreist.

Aber die Aufmachung, das leicht Unausgegorene des Buches, lassen seinen Fokus etwas zu reißerisch wirken, verstellen den Blick auf Lolas wirklichen Schmerz. Dieses Buch würde in Teilen eine sehr gelungene Novelle abgeben; es gibt Aspekte wie die Vater-Tochter-Beziehung, der Muttertod, der Frust des Begehrens und des Nicht-Begehrens, die gelungene Ansätze offenbaren, aber auch zahlreiche unnötige Abschnitte und immer wieder ärgerliche Verflachungen.

Lola ist die Geschichte einer Suche nach Ertragen – im Dreck, im Wunder, im Schund, im Scheitern des Lebens. Mit einer Protagonistin, die mal leuchtet, mal einfach nur wie ein Mittel zum Zweck wirkt. Beim Buch ist es ähnlich: manchmal leuchtet es, manchmal wirkt es einfach nur grell, unordentlich. Es wäre mehr drin gewesen, wie manche Passagen anzukündigen scheinen.

„Sie stellt sich die jungen Leute vor, die schüchtern zum ersten Mal ‚Ich liebe dich‘ sagen, mit schamgerötetem Gesicht. Die jugendliche Liebe ist die reinste, die gewaltigste. Lola ballt die Fäuste, bis die Fingernägel sich in ihre Handflächen bohren. Von draußen dringt der gewohnte Lärm herein, und drinnen, in der Wohnung mit den vielen Teppichen, ist ihr gleichmäßiger Atem das einzige Geräusch.
Lola macht sich einen starken Kaffee, ihr Blick ist leer. Sie versucht, mit den Fingern die Knoten in ihrem Haar zu entwirren. Früher hat das ihre Mutter getan, beim Frühstück, während Lola ihre Schale heiße Schokolade trank. […] Doch eines Tages war die Hand, die die schwarze Bürste umfasste, verschwunden. Zurück blieben nur der Nesquick-Dampf und die Tränen eines Kindes, das nie so recht verstanden hat, was mit Trauern eigentlich gemeint war.“

Übermütig und schlitzohrig: Charles Simmons “Das Venus-Spiel”


“Ich habe eine Frage”, sagte ich. “Was ist der Unterschied zwischen Sex und Liebe?”
Sie versuchte, meine Zehen mit ihren Zehen zu packen.
“Wenn es Sex ist, schert es dich nicht, was der andere denkt. Bei der Liebe ist das anders. Du möchtest im Inneren des anderen sein. Was denkst du gerade, beispielsweise?”
(Zitat, Seite 46)

Das Venus-Spiel war das letzte Buch des Autors Charles Simmons, das mir noch fehlte. Geständnisse eines ungeübten Sünders las ich als erstes – ein kleiner Bruder vom Fänger im Roggen, der mich sehr begeisterte. Es folgte Salzwasser, sein Triumph, ein Meisterwerk. Sein Buch Belles Lettres über die Redaktion einer Literaturzeitschrift war für einen Literaturgeek wie mich natürlich ein gefundenes Fressen und ich bin bis heute ein bisschen verknallt in diesen kleinen, aber feinen Streich. Lebensfalten musste im Vergleich mit den Dreien fast zwangsläufig etwas zurückfallen, war aber formal eine spannendes Erlebnis.

Und nun also ein federleichter Roman über eine Sex-Droge. Aufgeführt von einem Figurenkabinett, heiter bis albern bis idiotisch. Wie war das mit der Liebe? Ah, stimmt: sie stößt an ihre Grenzen. Und wenn die Lust grenzenlos wäre, wär dann auch die Liebe ohne Ende? Doch so banal ist die zentrale Frage natürlich nicht, auch wenn es einem manchmal so vorkommt, als sollte tatsächlich über diese Frage sinniert werden. Venus-Spiel ist vor allem, und daran sollte man sich besser früh bei der Lektüre gewöhnen, eine Farce, ein Drama mit viel Setting, aber ohne Hintergrund, ähnlich den Komödien von Oscar Wilde, nicht ganz so scharfzüngig, dafür mit etwas mehr Aberwitz.

Eine Wunderdroge namens Venus soll getestet werden – allerdings ohne Genehmigung, unter der Hand, mithilfe eines Arztes und einiger unabhängiger “Spieler”. Ben, 28 Jahre alt, ist einer von ihnen – und, oh Wunder, sein erotisches Leben wird sofort noch ein bisschen interessanter, nachdem er die Pille geschluckt hat. Aber das Spiel und die Erwartungen der Firma sind undurchsichtig und seine frisch mithilfe der Droge begonnene Liebschaft droht ins Blickfeld der Pharma-Interessen zu geraten, derweil ihr gemeinsames, fröhliches, fast schon aristokratische Leben erblüht und skurrile Früchte trägt. Ben versucht mehr über die anderen Spieler herauszufinden und gleichzeitig seine Geliebte aus dem Umfeld von Venus herauszuhalten, doch langsam aber sicher wachsen im die Dinge und die Fähigkeiten seines neuen Körpers über den Kopf…

Die Formen der Liebe, die Formen der Unschuld, der Schemen der Lust – sie sind die Triebfedern hinter Simmons stets augenzwinkerndem, illustren Reigen. Manchmal kommt einem die ganze Geschichte doch ein bisschen zu sehr wie auf einem einzelnen Finger balanciert vor, dann greifen die Motive aber wieder ineinander oder scheinen ineinander zu greifen. Ton und Esprit des Textes sind dermaßen beschwingt, dass die Story durchaus auf einem Finger herumgewirbelt werden kann. Viele treffsichere Spitzen, wie nebenbei untergebracht, verstärken den Eindruck, es mit einem sehr findigen Werk zu tun zu haben, bei dem man stets auf die Zwischentöne hören sollte. Und doch wirkt alles auch wie Show. Man könnte meinen, das ganze Buch hänge irgendwie in der Luft.

Zur Top 3 wird auch “Das Venus-Spiel” nicht aufschließen können. Aber es fällt auch nicht besonders ab, weiß meist eher zu unterhalten, als zu erstaunen oder zu fesseln. Ein famoses, manchmal zu leichtes Werk.

Spurwechsel Nr. 3, besprochen


Das Thema der dritten Ausgabe der Zeitschrift „Spurwechsel“, die sich der jungen (wobei sich „jung“ nicht auf das Alter der Autor*innen bezieht, so heißt es auf der Website) Literatur verschrieben hat, lautet: „Das Tier in mir“.

Als erster Text ist ein Prosastück von Hartwig Abshagen abgedruckt, der auf ficition-writing.de schreibt und dort bei einer Ausschreibung zum Thema der Ausgabe den 1. Platz erlangte. In seiner Geschichte geht es um Krafttiere und innere Schweinehunde. Der Protagonist begibt sich seiner Freundin zuliebe, mit ihr und zehn anderen Teilnehmenden zu einer schamanischen Zusammenkunft im Wald. Nicht nur tierisch geht es dort zu, sondern auch satirisch, nicht unbedingt goutierlich.

An einer von Kalkuttas Eichen
hängt heut noch meiner Mutter Leichen.
Meinen lieben alten Vater
stieß ich in den Ätnakrater.
Im schönen Lande Liechtenstein,
da hackte ich drei Nichten klein.

Und satirisch geht es weiter, wenn Horst Reindl in seinem Gedicht eine Reise um die Welt durch mehrfachen Sippenmord würzt. Was man von dieser Verwandtschaftsreduzierung in Form einer1 Ballade halten soll, ist die eine Sache, Spaß macht das Gedicht durchaus.

Ein klassischer Topos: die vergängliche Schönheit, die nicht vergehen soll, darf. Aufbereitet in der Geschichte eines Physiotherapeuten, der sich eine junge Braut auf den Philippinen gesucht hat und nun in ihrer körperlichen Vollkommenheit schwelgt. Bis dann … nun ja, das sei nicht verraten, aber man kann dem Text von Ortrud Battenberg durchaus ein paar Geschmacklosigkeiten ankreiden. Andererseits: es geht ja nicht darum, die Welt so darzustellen, wie sie sein sollte, sondern so wie sie ist, mit den seltsamen Tieren bevölkert, die wir sind und mit dem Tierischen, das wir in uns haben. Oder so ähnlich, in jedem Fall: der Text wirkt etwas zu selbstverständlich.

Ulli B. Laimers Werwolfblues ist eigentlich kein Blues, vielmehr eine tragische Notenfolge, die versucht spitz zu sein, aber eher flach ist; ein Heulen Richtung Mondsüchtigkeit. Danach kann man sich auch nicht besser in einen Werwolf hineinversetzen. Ich muss wohl wieder zu Christian Morgenstern greifen.

Am oberen Rand der Seite sind immer die jeweiligen Textkategorien angegeben, meistens steht dort „Prosa“ oder „Lyrik“ aber es gibt auch andere Rubriken, zum Beispiel den „Warentest“, wo ein Buch rezensiert wird. Die erste Rezension des Bandes gilt dem Autoren-Handbuch von Sylvia Englert, über das die Rezensentin Beate Loddenkötter u.a. schreibt:

Selten habe ich ein Sachbuch mit so viel Freude und Interesse gelesen. Und selten so schnell.

Ein Biedermeiersofa als Verkuppler – das glauben sie nicht? Probieren sie es vielleicht mal mit etwas mehr Gemütlichkeit. Oder mit Olga Baumfels Erzählung. Da tobt der Mensch und steppt das Sofa, bevor es dann zum glühend-glucksenden Happy End kommt. Die beiden kriegen sich! (also: nicht das Sofa und der Wüterich). Etwas abgewetzt, das Ganze.

Ich warte auf dich, denn du bist für mich all mein Glück, so heißt es in einem alten Schlager. Auch die Protagonistin von Dörte Müllers Text wartet; heute regnet es auch noch und bei so einem Sauwetter muss man herumstehen und warten. Auf was eigentlich? Auf eine etwas dürfte Pointe, wie der Lesende findet.

Ein Vergewaltiger, der tagsüber als Maler arbeitet und sich bei seinen Arbeitsplätzen seine Opfer sucht. Ein Tier, voller Gelüste, aber berechnend, vorsichtig, sorgfältig planend, von Kerstin Brichzin ohne Pardon gezeichnet. Und dann tritt diese rothaarige Schönheit auf. Erst wird ihr grapschender Kollege überfahren, dann die Tat selbst geplant. Aber, Moment, was sagt sie da, als sie dann bei ihm im Auto sitzt!! Sie ist eigentlich ein … oh, da ist der Vergewaltiger durchaus verblüfft und bestürzt – und ich als Lesender auch, allerdings aus anderen Gründen. Ich will mich ja nicht als Moralapostel hervortun, aber all das nur für diese eine Pointe?! Das find ich schon irgendwie daneben.

Es folgt ein Gespräch mit der Comiczeichnerin Dagmar Gosejacob. Die hat einen spannenden Lebenslauf mit verschiedenen Karrierewendungen hinter sich, Chapeau! Ich bin kein Riesenfan von Kurzcomics (außer Garfield!), aber wer mag, der schaue mal auf pinkmuetzchen.de vorbei.

In dem sympathischen Text von Olaf Lahayne braucht man eine Weile, bis man begreift, dass sich dort nicht die Tiere, sondern die Käfige des Tierparks unterhalten. Eine schöne Gaudi, nicht ohne manchen cleveren Witz, ein bisschen zu verulkt hier und da, aber im Großen und Ganzen fabelhaft und mal was anderes in diesem Wust an Mörder- und Monstergeschichten.

Klaus Gottheiner greift das Thema des Heftes allegorisch auf und schreibt über das letzte Zimmer, das im eigenen Innern noch ungeöffnet ist und in dem vielleicht eine tierähnliche Gestalt umhergeht. Ein bisschen Gänsehaut kommt auf.

Deshalb liebe ich dieses postmaterialistische Zeitalter. Es geht nicht mehr um so profane Dinge wie Macht, Geld, Maschinen. Dienstleistungen sind jetzt das Wichtigste.

Was kann ein Vollmondmonster fürs Big Business tun? Eine ganze Menge, Mörder werden doch immer gesucht! Und wenn Grauen eine Rolle spielen soll … Peter Schwendeles Schilderung ist dramaturgisch optimiert und hat durchaus Biss.

Eine weitere Kategorie in den Spurwechsel-Heften ist die Blitzaktion, ein kurzfristig angefragter Kurztext zu bestimmten Themen, in diesem Heft „Gier“, „Schlaf ohne a“ und „Wildwuchs“.
Der Text zu Gier, ein knapper Dialog von Helga Strehl, ist nicht so berauschend, vor allem weil er sich früh auf eine Pointe einschießt. Der Text zum Schlaf von Ruth Gaidas kommt nicht ohne einen Alkoholismus-Witz aus. Der letzte Text von Albrecht Bothner warnt mit erhobenem, realem Finger vor den Gefahren des übermäßigen Internetkonsums, wirkt darin etwas steif.

Die Tiere in uns und den anderen, welches kommt welchem zuvor? Bis dass der Tod uns scheidet, heißt es. Bei Astra-Birgitta Heesen ist die Ehe allerdings zur Unerträglichkeit geworden. Also: ein Bootsausflug, der all die Pein verfliegen lassen soll und wird, sobald die Partnerin im Wasser dümpelt. Doch manche Demütigung reicht bis in den Tod hinein …

Monika Kühns wunderbarer Streifzug durch die Märchenwelt anhand eines magischen Museums hat mir sehr gefallen, vielleicht weil ich selber märchenaffin bin. Es ist auch deswegen ein guter Text, weil man seiner Belustigung freien Lauf lassen kann.

Dr. Silke Vogts Text über die innere Schweinehundeschule basiert auf einer netten Idee, die knappe Ausführung ist dann irgendwie vorhersehbar. Die Pointe am Ende ist allerdings ganz cool!

Amokphantasien, ausgelebt im Kopf, um die innere Bestie zu befriedigen. Der Text von Lena Obscuritas hat etwas Kompromissloses, dass schon wieder bewundernswert wäre, wenn nicht hier und da ein paar zu glatte Formulierungen und ein paar allzu inszenierte Szenen vorkommen würden. Dennoch: der Text filtert aus dem nebulösen Thema eine heftige Geschichte und begibt sich in die Welten von pubertärer Depression und Verzweiflung und auch die Problematik der Ego-Shooter-und-Action-Heldenfilm-Gesellschaft lauert darin. Aber letztlich ist das schon ziemlich Splatter und wenig anderes.

Hoffnungen, die sich einstellen, wenn eine Frau bei einem Mann Hilfe mit ihrem Exfreund erfragt. Alte Geschichte, bei Dirk Alt spielt sie an Weihnachten. Eine Story, die vor allem eines klar macht: sieh immer hinter die Fassade.

Im zweiten Warenstest geht es um Karin Peschkas „FanniPold“, die Geschichte einer Frau, die behauptet, sie habe Krebs, und in der Folge ihrem eintönigen Leben entfliehen kann. Margit Heumann beginnt die Besprechung mit dem Satz:

Eigentlich lese ich nicht gern Romane über frustrierte Frauen. Ehrlich gesagt, nervt es mich, wenn sie ihren Alltag als banal oder unbefriedigend oder langweilig bezeichnen und trotzdem jeden Tag aufs Neue ihre sogenannte Pflicht erfüllen. Von einer solchen Frau handelt dieses Buch.

Und bei Dagmar Möhring haben wir einen weiteren heimlichen Mörder, diesmal einen, der sich von der Frauenwelt verlacht und gedemütigt fühlt. Dass auch dieser Text auf eine nette Pointe hinausläuft, hätte ich wohl ahnen müssen …

Stefan Müsers ekstatische, feucht-fröhliche Odyssee, die seine Charaktere Felizian und Melody in die großen Städte der Welt und die Freuden verschiedenster sexueller Akte führt, hat einen gewissen rauschenden Reiz und eine ebensolch rauschende Albernheit. Von allen Texten in diesem Heft ist es sicher der phantasievollste, der sprachlich erquicklichste.

Den Schlusspunkt setzt ein sehr unappetitliches Gedicht von Gerhard Dick, worin einer seine Körperteile zum Verzehr feilbietet. Nicht wirklich ein Spaß.

Fazit: Viele Geschichten in dieser Spurwechsel Ausgabe laufen auf mehr oder weniger vorauszuahnende Pointen hinaus, was ich irgendwann ein bisschen leid war. Anscheinend wird das Thema „Tier in mir“ vor allem mit den düsteren Seiten der menschlichen Seele zusammengebracht, es gibt aber auch einige phantasievolle Ausnahmen. Auffällig ist, dass die Redaktion wohl eher den reißerischen Erzählungen und Szenen gewogen ist.

Ich bin nicht wirklich warm geworden mit der Zeitschrift, allerdings bot sie mir eine Abwechslung in Sachen literarischer Erfahrung und literarischer Auseinandersetzung. Wer sich für heftigere, solide geplottete Geschichte interessiert, könnte an diesem Heft seine Freude haben. Wobei ich behaupte, dass man solche Geschichten auch in einschlägigen Kurzgeschichtenforen und auf Websites von Hobby-Autoren lesen kann. Diese Einschätzung will ich nicht als eine generelle qualitative Bewertung verstanden wissen.

“the ivory perfoming rose of you”. Mit erotischen Gedichten von E.E. Cummings auf allen Sinnen ins Spiel der Sinne


“press easily (drück leicht)
at first, it will be leaves (am anfang ist da laub)
and a little harder (und etwas fester dann)
for roses (für Rosen)
only a little harder (nur etwas fester)

last we (am ende wir)
on the groaning flame of neat huge (auf der stöhnenden flamme niedlichen gewaltigen)
truding kiss (trägen kusses)”

Den meisten dürfte der amerikanische Dichter E. E. Cummings (wenn überhaupt) aufgrund einer einzigen Zeile bekannt sein: “nobody, not even the rain, has such small hands”. Das 8zeilige Gedicht mit dieser Schlusszeile kommt nämlich in Woody Allens Film “Hannah und ihre Schwestern” vor, was für mich den Film zeitlebens mit diesem Dichter verbinden wird und mir des Weiteren die Entdeckung eines der schönsten Poeten englischer Sprache bescherrt hat.

Denn ebenso wie den Übersetzer dieses Buches, hatte auch mich diese Zeile damals so verzaubert und ich tat viel dafür, einige Gedichte von Cummings in Anthologien aufzutreiben oder direkt auf Englisch zu lesen – das scheiterte schnell an meinem damals begrenzten Wortschatz, aber ich nahm mir vor mich irgendwann einmal genau mit ihm auseinanderzusetzen.

Bis heute ist die Lyrik des Amerikaners, vielleicht wegen ihrer experimentell anmutenden Ansätze, für Übersetzer und unbedarfte Leser eine Herausforderung. Viele seiner Gedichte leben von Stimmungen und Bildern, die das Englische wie von Zauberhand, häufig allein aus Betonungen, Leerstellen & Pausen und sehr speziellen Adjektivketten und – verbindungen, beschwört – der Dichter Louis MacNeice schrieb einmal, Cummings habe “die englische Sprache an ihren Fingerspitzen magisch gemacht”. So könnte man es ausdrücken. Dies gilt speziell für seine erotischen Gedichte, die hier, in diesem Band der C.H. Beck Textura, aus den verschiedenen Epochen seines Gesamtwerks zusammengetragen wurden.

“your smiles accuse (deine lächeleien klagen)
the dusk with an untimid svelte subdued (die dämmerung an mit unzaghaftem anmutigem gedämpftem)
magic (zauber)
while in your eyes there lives (während in deinen augen ein)
a green egyptian noise. (grüner ägyptischer lärm lebt.)”

Cummings war immer ein leicht erotischer, oder vielleicht besser: sinnlicher Dichter, da seine Gedichte oft alle Sinnesorgan ansprechen. Als drücke man die Worte hinein in die Welt und sie nehmen sofort alles auf: Eindrücke, Gedanken, Berührungen, Gerüche, Bilder, Namen, Farben.
Es ist ein Balanceakt, sich dem völlig hinzugeben, darin einzutauchen und einen eigenen roten Faden zu finden. Man sollte nicht denken, dass diese Poesie in irgendeiner Form “kompliziert” ist, überhaupt nicht – Cummings gehört wahrscheinlich sogar zu den unprätentiösesten Dichtern aller Zeiten. Aber er ist vielschichtig, facettenreich und manchmal verschlüsselt er seine Ideen bis sie so dicht werden, dass man nicht mehr weiß, was Metapher ist, was Anspielung, was Bild, was Ahnung, was Ausdruck, was Eindruck.

Facettenreich ist auch die Palette an Themen, um die sich seine erotischen Gedichte drehen. Da sind die ganz persönlichen Erlebnisse, da sind die poetisch-sinnlichen Verschleierungen, die Liebkosungen, die Resignation des erotischen Alltags, Nutten, Stripperinnen, feine Damen und alberne Mädchen, Erlebnisse und Fantasien. So können Ton und Ausdruck dieser Lyrik eine efeuartige Glückseligkeit und frühlingshafte Lebendigkeit einfangen, voller erster Liebe und Verlangen:

“du batest mich zu kommen: es regnete ein wenig,
und der frühling; eine tolpatschige helligkeit der luft
stolperte wunderbar über den platz,
kleine verliebt-kaulquappige leute zappelten […]
blätter rüttelten
zum schüttelnden duft des neuen
– und dann. // Meine verückten Finger mochten dein Kleid
…. dein kuss, dein kuss war eine klare zerbrechliche
blume”

oder auch die lieblose Vereinigung und die burleske Seite des Eros:

“die schmutzigen farben ihres kusses haben eben
abgedrosselt
mein sehnendes blut, ihr herzgeplapper

hat einen weinenden wolkenkratzer vernietet
in mir.”

Bei all dem kann es mit wortloser Zärtlichkeit zugehen oder mit überschäumender Lust an Sprache und sprachlichen Zuspitzungen; Präzision kommt unter der Hand ins Spiel, denn es gefällt cummings meist, nicht von Lust oder Begierde zu reden, sondern der Faszination nachzugehen, die in diesen Gefühlen liegt – eine Art, das Erotische eher in seiner Beispiellosigkeit als in seiner Blöße zu beschreiben; trotzdem können die Gedichte auf Umwegen auch einigermaßen deutlich werden, ohne einen Funken Rohheit, eher mit einem Funken Gänsehaut:

“there is between my big legs a crisp city. (es liegt zwischen meinen großen beinen eine feste stadt)
when you touch me (wenn du mich berührst)
it is spring in the city; the streets beautifully writhe, (ist frühling in der stadt; die straßen winden sich wunderschön;)
it is for you; do not frighten them (es ist für dich; ängstige sie nicht)
all the house terribly tighten (all die häuser straffen schrecklich sich)
upon your coming: (bei deinem kommen)
and they are glad (und sie sind froh)
as you fill the streets of my city with children. (wenn du die straßen meiner stadt mit kindern füllst.)”

Zur Übersetzung:
Ich habe bei den Beispielen meist die deutsche Übersetzung dazugeschrieben, da ich finde, dass Ich hier keine Meinung über die Übersetzung vorfertigen sollte – jeder sollte zuerst die Chance haben sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, um sie dann mit meinen Ansichten zu vergleichen …
Ich persönlich finde, dass die Übersetzung sehr ambivalent und zwiespältig zu betrachten ist, im höchsten Maße geradezu. Man spürt oft die Intention des Übersetzers, ganz nah, also wörtlich, bei Cummings zu bleiben und hier und da merkt man dann wiederum, dass die Übersetzung gerade dann glückt (und der Übersetzter das wohl auch wusste), wenn er sich eine kleine Freiheit erlaubt, die letztendlich gar keine echte Freiheit ist, sondern eine perfekte Übersetzung, die die Stärken der deutschen Sprache ausspielt, wo Cummings es im Englischen tat. Um das einmal zu illustrieren:

“how beautifully swims (wie wunderschön schwimmt)
the fooling world in my huge blood, (die flausenwelt in meinem riesigen blut,)
cracking brains (und knackt hirne) ”

Flausenwelt ist hier eine etwas freie, aber geniale Übersetzung, die den Charakter der Zeile einfängt – dagegen ist riesig für das Blut hier etwas kar, zu nah, zu einfach aus der Wörterbuchdefiniton von “huge” hergeleitet. Es ist auch gewiss keine “schlechte” Übersetzung, keinewegs. Aber schließlich muss man einmal ganz klar sagen: Wenn man will, dass die Magie eines Gedichts erhalten bleibt, muss man nicht nach dem Motto “was soll das Wort bedeuten” übersetzen, sondern nach der Frage “was will der Autor sagen und wie kann ich es in meiner Sprache sagen ohne vom Text abzufallen”. Vielleicht ist riesig sogar die beste Kompromisslösung – Es gibt einfach im Deutschen wenig Worte die von Größe sprechen und doch zärtlich sein können wie “huge”, unsere klingen mit “gigantisch” oder “gewaltig” oder “riesig” immer nach “zu hoch hinaus”. Trotzdem fällt es deutlich ab.

Die Zärtlichkeit und Ungebremstheit der Worte, in denen Taten, Haltung und Sinne verschwimmen, ist das, was einen in diesem Band erwartet. Manche Momente darin gehen eher in Richtung “sensation”, manche in Richtung “love”. Und die Bezeichnung “erotisch” kann man bei dem ein- oder anderen Gedicht ruhig wörtlich nehmen; bei anderen ist es nur der Kern und nicht der Rezeptor, nicht der Inhalt. Da geht es dann meist eher um die Liebe und die Anziehung und was sie mit Erotik zu tun hat – etwas, das man bei Cummings gut lernen kann.

“Do you believe in always, the wind
said to the rain
I am too busy with
my flowers to believe, the rain answered”

Zu Baudelaires “fleurs du mal”


“Mir ist, als hätte ein Jahrtausend ich geschaut.
Nie barg ein Schrank, darin der Akten Flut gestaut,
Wo Liebesbriefe sich, Urkunden, Blätter schichten,
Mit Haaren, die verpackt in Scheine, mit Gedichten,
Mehr Heimlichkeiten als mein Hirn, mein müdes, kennt.
Es ist ein Königsgrab, ein Riesenmonument;
Nicht eine Massengruft bedeckt so viele Leichen.”

Die Blumen des Bösen, die “les fleurs du mal”, werden, übergreifend, von nahezu allen westlich-europäischen Ländern als einer der wichtigsten Eckpfeiler (wenn nicht sogar der Beginn) der modernen Dichtung angesehen; von Arthur Rimbaud bis Paul Celan reicht die Spanne der von diesem Werk inspirierten und beeinflussten Autoren; Gedichte wie “Der Albatros” und “Die Katze”, “Das schöne Schiff” oder “An eine rothaarige Bettlerin” gehören zum Kanon des Allgemeinwissens in puncto Lyrik und die kunstvoll finstren, ornamentenen Wendungen und Reime des Werkes haben inhärent Worte wie “Kunstvoll” und “Lyrisch” auf ewig für sich eingenommen und geprägt.  Und bei aller Kritik, die sich mit der Zeit gegen jedes Werk aufbaut – die Blumen des Bösen werden bleiben. Denn sie waren mehr als nur der erste Schritt in eine neue Richtung. Sie waren auch ein bedeutender Versuch mit intellektueller Durchdringung weltlichen Fragen in Reimen nahe zu kommen – eine Tradition unter der die moderne Dichtung sich zu großen Teilen heute eingefunden hat.

“Zwei Krieger stürzen aufeinander; ihre Klingen
Durchstieben rings die Luft mit Funken und mit Blut.
Dies Spiel, dies Klirren ist das lärmerfüllte Ringen
Der Jugend, die verzehrt von wilder Liebesglut.”

Wenn man heute davon spricht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, bedeutet das meistens, dass man nicht bei Gelegenheit kein Blatt vor dem Mund nimmt, sondern immer und prinzipiell.
Charles Baudelaire, Dandy und Dichter, opiumsüchtig und in Frankreich neben eigenen Werken auch berühmt für die Entdeckung und Übertragung der Werke Edgar Allen Poes, lehrt einem in diesem Werk hier, was es wirklich heißt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen – es heißt nämlich die Akzente richtig zu setzten, das Gefühl der Offenheit zu vertiefen und zu verschleiern, es nicht bloß auszunutzen, sondern zu zelebrieren und trotzdem subtil, allumfassend aufzutun, in seiner Nacktheit, seiner Dunkelheit, seiner Boshaftigkeit und seiner Schönheit. Denn der Reiz aller Dinge, das weiß Baudelaire, ist oft zwischen den Krallen des Seins und den Händen des Scheins in einer Art von Vermeintlichkeit gefangen, aus der man es entreißen muss – am besten mit Versen.

“Denn klarer kann sich, Herr, kein Zeugnis offenbaren,
Das unserm innern Wert je eine Stimme leiht,
Als dieser glühnde Schrei, der rollt von Jahr zu Jahren
Und sterbend untergeht am Rand der Ewigkeit.”

Das Leben, für beinahe jeden Dichter heute der Dreh- und Angelpunkt seines Werkes, das Ding für das es Metaphern, Bilder und Sinn zu finden gilt, für das Gebilde selbst und für all seine Stellvertreter, durch die hindurch man das Leben aus dem Augenwinkel oder exemplarisch wahrnehmen und spüren kann – Baudelaire besingt es hier in vier Zeilen, er wirft es hin und her zwischen Eindrücken und Feststellungen.

“Unendlichkeit seh fahl ich durch die Fenster strahlen,
Und meine Seele, die es schwindelt, füllt mit Neid
Das wesenlose Nichts in seiner Einsamkeit.
O! niemals mehr sein als Geschöpfe und als Zahlen.”

Die Blumen des Bösen mögen oft als Gesänge des Unmuts, der Lüsternheit und der Verkommenheit angesehen werden. Doch das erklärt nur den einen Teil ihres Welt. Auf der anderen Seite steht die tiefe Versponnenheit, die nachdrückliche Sehnsucht und Malerei, die bis zur Zärtlichkeit reicht – wer sich in die erst wirr und trunken anmutenden Verse einliest, wird schnell herausfinden, dass sich im Zentrum des Sturmes eigentlich jene kleinen Geschehnisse von Schicksal und Schönheit befinden, nicht Wollust und Prunk.

Klagen, Sehnsucht und Angst: oft treten sie in einem Fell von Wut und Begierde, Hass und Flucht den Sturm nach vorne an. Baudelaire versteht es, diesen schwierigen, psychologischen Erbe eine Bühne zu bieten – natürlich mit Vorliebe auch für das Erotische, so in diesen Zeilen, in denen er auf die Zweischneidigkeit der Weiblichkeit hinweist:

“Ihr magres Schlüsselbein umschmiegen leichte Spitzen,
Gleich einem üppigen Bach, der sich am Felsen reibt,
Und sittsam bergen sie vor possenhaften Witzen
Den unheilvollen Reiz, der tief verborgen bleibt.”

Die Blumen des Bösen sind ein Gedichtband, der wegweisend war und auch heute noch wunderschöne Wendungen an Reimen und Eindrücken zu bieten hat, und auch lehrreich ist für die Begegnung mit der psychologischen Tiefe vom Leben und vom Bösen. Zweifelsohne ist es schwierig in diesem dunklen Meer zu baden, ohne sich zu fragen, warum es immer wieder ins Abgründige umschlägt. Aber dass ist die Eigenschaft des Meeres: Es ist weit, groß, schön und immer abgründig, je mehr, desto weiter man sich hinauswagt; und darin schwimmen heißt stets bis zum Hals über dem Abgrund zu schweben.

“Und es erschrak mein Herz, manch Armen zu beneiden,
der glühnden Eifers stürzt zum Abgrund des Gerichts,
Und der, von seinem Blut berauscht, die grimmsten Leiden
dem Tode vorzieht und die Hölle selbst dem Nichts.”

Nachtrag, zur Problematik der Übersetzungen:

Für meine Lektüre griff ich auf die Anaconda-Version des Werks zurück (die übrigens nur 100 der Gedichte enthält), die die allerersten Übersetzungen von Wolf Graf von Kalckreuth enthält. Diese sind, zugegeben, etwas schwerer zugänglich als alle anderen (und, und darüber möchte ich nicht urteilen, möglicherweise auch nicht ganz astrein übersetzt – wer also unbeding genau das Lesen will, was Baudelaire geschrieben hat, möge sich noch gedulden bis er wieder aufersteht, Deutsch lernt und es selber übersetzt), jedoch gefällt sie mir, weil ich das Gefühl habe, dass die Ambivalente Stimmung von Baudelaires Gedichten in dieser Übertragung sehr gut eingefangen scheint.

Aber trotzdem möchte ich hier gerne jedem die Chance geben, selber zu vergleichen:
Die letzte Strophe aus “Don Juans Fahrt in die Hölle/Unterwelt” gilt als besonders schwierig zu übersetzende Stelle; hier das frz. Original + die 4 Lösungen, die ich bisher dazu lesen durfte:

“Tout droit dans son armure, un grand homme de pierre
Se tenait à la barre et coupait le flot noir ;
Mais le calme héros, courbé sur sa rapière,
Regardait le sillage et ne daignait rien voir.”
-Original-

Ein großer Mann von Stein, sein voll Gewaffen zeigend,
Stand an dem Steuer, das die schwarze Flut durchquert;
Jedoch der stille Held, auf sein Rapier sich neigend,
Sah in den Strom und hielt nichts seines Blickes wert.
(Kalkreuth, 1907 – vollständig nachzulesen: http://ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/baudelaire/blumen/blumen.pdf)

Ein grosser fremder Mann, in Stahl die Glieder,
Lenkte das Steuer, steinernen Gesichts.
Der bleiche Held beugte aufs Schwert sich nieder,
Betrachtete die Flut und weiter nichts.
(Terese Robinson, 1925 – vollständig nachzulesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1363/1)

Ein mann aus stein in voller rüstung lenkte
Das steuer und durchschnitt die schwarze flut –
Der stille held jedoch aufs schwert sich senkte ·
Er hat dies alles nicht zu sehn geruht.
(George, Umdichtung 1930 –
vollständig nachzulesen: http://www.zeno.org/Literatur/M/George,+Stefan/Gesamtausgabe+der+Werke/Baudelaire.+Die+Blumen+des+B%C3%B6sen/Tr%C3%BCbsinn+und+Vergeistigung/XV+Don+Juan+in+der+H%C3%B6lle)

Aufrecht in seiner Rüstung stand gewaltig ein Mann aus
Stein am Steuer, das die schwarze Flut durchschnitt, doch
unbewegt der Held, auf sein Rapier gestützt, sah auf die
Spur im Strome und geruhte anders nichts zu sehn.
(1966, Friedhelm Kemp, Fischer Bücherei Prosaübersetzung)

Wenn jemand noch eine Übersetzung beisteuern will, kann er mir gerne schreiben.

Weitere Baudelaire-Übersetzungen:

Nachdichtung von Stefan Zweig in Rhythmen: Nachdichtungen ausgewählter Lyrik
http://www.lyrik.ch/lyrik/spur3/baudelai/baudel2.htm
http://www.cool-artists.de/madonnaweiss/uebersetzungen/spleen2_baudelaire.htm
http://home.arcor.de/berick/illeguan/baude1.htm