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Octavio Paz – als großer Dichter wiederzuentdecken


“Zwei Körper Aug’ in Auge
sind manchmal zwei Wellen,
und die Nacht ist ein Ozean.
[…]
Und wenn du sie schließt,
überflutet dich innen ein Fluß,
eine sanfte verschwiegen Strömung dringt an und
macht dich dunkel:
die Nacht netzt Ufer in deiner Seele.”

Die Literatur Südamerikas bleibt nach wie vor eine der magischsten Erfahrungen von Lektüre, egal wie bekannt sie mittlerweile geworden ist, wie sehr dieser Kontinent literarisch „erschlossen“ ist. Und in dieser Magie steckt eine Vielschichtigkeit, die sich von Jorges Luis Borges bis zu Mario Vargas Llosa, von Pablo Neruda bis zu Cortazar, von Alejo Carpentier bis zu Gabriel Garcia Marquez erstreckt und eine Strecke, die durchzogen ist von einer bunten und doch perlendunklen Eigenart, wie sie Ausdruck einer nahezu unerreichbaren Welt in (oder außerhalb) der eigentlichen Welt zu sein scheint.

Octavio Paz, Nobelpreisträger 1990 (die Geschichte der südamerikanischen Literatur ist auch die Geschichte vieler verliehener und vieler zu Unrecht nicht zuerkannter Nobelpreise), ist vor allem für das Werk bekannte, in dem er die Identität Lateinamerikas einfangen wollte: Das Labyrinth der Einsamkeit. In Romanen oder Erzählungen hat er sich nie besonders hervorgetan, seine Dichtung und sein Engagement kennzeichnen ihn aber bis heute als einen der großen Geister und Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts.

“Dem Flockengewand, dem Pflaumenbaum
Lebwohl sagen, und dem Vogel dort,
der ein einziger Windhauch ist auf einem Zweig.”

Der Band „Gedichte“, der Texte aus den Jahren von 1935-1974 + einige damals unveröffentlichte Werke enthält, kann neben Suche nach einer Mitte: Die großen Gedichte als beste Auswahl der Lyrik von Paz gelten; diese hier ist etwas vielschichtiger und repräsentativer, während die andere vor allem Kernwerke von Paz, die auch großen Einfluss auf die Lyrik seiner Generation ausübten, enthalten.

“Pause aus Blut zwischen dieser Zeit und einer anderen, ohne
Maß.”

Vom träumerischen zum wahrhaft Transzendenten ist es ein schmaler, aber dennoch meist klarer Schritt. Wer käme schon darauf Celan als träumerisch zu bezeichnen? Bei Octavio Paz ist das Ganze nicht so einfach und ich glaube man könnte ihn sowohl als träumerisch-phantastischen (bisweilen surrealen), als auch als transzendenten, geistlich-forschenden Dichter lesen, bei dem die Übergänge fließend sind. Zum Beispiel diese Zeilen:

“Eine Frau mit den Regungen eines Flusses
Mit durchsichtigen Wassergebärden
Ein Mädchen aus Wasser
Darin zu lesen was vorübergeht und nicht wiederkommt”

Eine Liebeserklärung, eine wörtliche Formung der weiblichen Schönheit, eingefangen in der Metapher eines Flusses, die sie fast völlig umgibt; aber spätestens in der letzten Zeile wird einem auch die Doppelbödigkeit dieser Allegorie bewusst. Immer noch geht es um die Schönheit, aber um eine sehr viel transzendentere Geste ihrerseits, dem Hinweis auf die Vergänglichkeit, die Paz hineinwebt. Diese zusammengeführte Essenz aus poetischer, auch seichter, Schönheit und einem klaren, manchmal offenbarenden Ansatz zur Durchleuchtung viel tieferer Grundsätze der dargebotenen Bilder und Szenen – das ist Octavio Paz im Kern.

Cortazar sprach in einem Essay einmal in Bezug auf Luis Cernuda von “Sinnen in der Welt”. Ich glaube, dass diese leicht abstrakte, aber nichtsdestotrotz gelungene Bezeichnung auch sehr gut das beschreibt, was im Werk von Paz geschieht, das Schreiten der Stimmen, die sich die Sinne in der Welt zu eigen machen, zum Beispiel wenn Paz schreibt: “Weiße Gärten die bersten in der Luft.”

“ich falle von Geburt an ohne Ende,
falle in mich selbst, ohne Grund zu finden,
nimm mich in deine Augen auf, vereine
meinen zerstreuten Staub, versöhne
meine Asche, binde meine zerteilten Knochen,
hauche über mein Sein, in deiner Erde
begrabe mich, dein Schweigen gebe Frieden
dem Denken, das sich selbst zerwütet”

Manchmal gibt es auch leicht religiöse und “gesängliche” Komponenten in Paz Dichtung und auch andere bekannte dichterische Mittel, wie Persönliches, Erlebtes und Analysiertes. Aber bei all dem ist Paz nie ein entrückter Dichter (außer vielleicht in seinem Langgedicht “Sonnenstein”, wobei es sein kann, dass gerade dies im Gegenteil auch als sehr nah und natürlich angesehen wird) und ein Denker, denn der bildliche Verweis auf einen Gedanken und eine Regung mehr interessiert als ein Spiel der abstrakten Begriffe und Gegenbegriffe. “Die ersehnte Wirklichkeit/ sehnt sich” heißt eine Zeile, eine treffliche Beschreibung für die Absicht hinter seinen Zeilen.

“Alles ist Türe
Es genügt der leichte Druck eines Gedankens
[…]
Alles Schlachten haben wir verloren
jeden Tag gewinnen wir ein
Gedicht”

Worte können purer Raumstaub sein, Verbindungen ohne daraus entstehende Symmetrie; doch wenn ein Dichter es schafft, dass eine Kombination ganz bestimmter, auch einfachster Wörter, in uns die Entsprechung eines Vorgangs, einer Idee, einer Erinnerung belebt und ausführt, hat er nicht nur unseren Glauben an die Sprache geschaffen, wie wir ihn tief ins uns sinken lassen bei jeder Lektüre, sondern auch einen Teil unserer Selbst einen kurzen Moment erhellt, hat gezeigt wie groß wir doch sind und wie tief die Welt.

“Mit klaren Zügen schreibt der Dichter
Seine dunklen Wahrheiten
Seine Worte sind kein öffentliches Denkmal
Auch kein Reiseführer des rechten Wegs
Aus dem Schweigen sind sie geboren
Öffnen sich auf Stengeln des Schweigens
Wir betrachten sie im Schweigen
Wahrheit und Irrtum
Eine einzige Wahrheit
Wirklichkeit und Sehnsucht
Eine einzige Substanz
Gelöst im Quellsturz durchsichtiger Klarheit.”

Poesie.Meditationen


Seit gestern kann man die neuste Kolumne meiner Poesie.Meditationen auf dasgedichtblog.de lesen:

http://www.dasgedichtblog.de/category/kritik/poesie-meditationen/

Diese neuste Kolumbe beschäftigt sich mit Ted Hughes und Sylvia Plath, der Liebe, den Birthday-Letters, Beziehungen u.a.

Auch alle drei alten Kolumnen kann man dort weiterhin lesen.

“Zähle nach wie Noah gezählt hat” – Das dichterische Werk von Rainer Brambach


“So einfache Sachen wie Kühe melken,
Begonien begießen, damit sie nicht welken
[…]
beim Überqueren der Straße auf Autos achten

und nachts den Mond wie Klopstock ihn sah
und nachts den Mond wie Goethe ihn sah
und nachts den Mond wie Claudius ihn sah
und nachts den Mond wie Hebel ihn sah
betrachten.”

“Ich schreibe keine Geschäftsbriefe
ich beharre nicht auf dem Termin
und bitte nicht um Aufschub.
Ich schreibe Gedichte.”

Eine der schönsten Dinge, die man meiner Ansicht im Leben tun kann, ist, sich mit einem guten Gedichtband, der einen zu nichts nötigt, sondern jede Vorstellungspore öffnet, irgendwo hinzusetzen und zu lesen; zu lesen und wieder zu lesen, als wäre jedes Gedicht eine Flaschenpost zwischen Menschen, eine Lebensweisheit, eine Offenbarung erlebnishafter Natur. Als wäre jedes Gedicht die Reinkarnation eines Gefühls, eines Eindrucks. Als sei das Büchlein in der Hand ein Schatz voller einzelner Schätze namens Seiten, Titel, Zeilen.

Es ist der große Vorteil von Gedichten, dass sie nicht einfache ein Abbild sind, sondern eine Wirkungsmacht. Jedes Gedicht kann auf seine Weise beeindrucken und tief treffen, weil das Element der lyrischen Vermittlung einen dazu bringt, mit jedem noch so winzigen Eindruck Berge an Bedeutung zu versetzen, Goldadern in den eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu finden, einen Blick auf die Gründe vieler Dinge zu erhaschen. Gedichte sind schon ihrer Art nach ein Erlebnis, das zwar Bewegungen vorgibt, doch der Tanz, den man aufgrund von einzelnen oder dem Ablauf dieser Bewegungen beginnt, der liegt ganz beim Leser. Ein gutes Gedicht hat eine Form, die schon viel in sich trägt, auf die aber noch mehr und noch höher aufgebaut werden kann.

“Diese Welt, die ich nicht mehr verstehe,
besucht mich in Gestalt einer Zeitung
jede Woche einmal,
und mehrmals täglich
schwirrt eine Schar von Spatzen ans Fenster.”

Faszinierend ist, auf wie viele unterschiedliche Arten lyrische Beschwörung gelingen kann. Rainer Brambach (1917-1983) zum Beispiel hat kaum ein Gedicht geschrieben, was länger als eine großbedruckte Seite lang wäre. Sie gehen von einfachen Umständen aus und entfernen sich auch nicht wirklich in ihrer Sprache davon; es sind Beobachtungen, Erlebnisse, kurze Vertiefungen, die er, manchmal sinnig, manchmal spielerisch, auftauchen lässt, bevor das Gedicht dann schon wieder vorbei ist. Das bemerkenswerte ist: in der Zwischenzeit geschieht dennoch etwas: Die Auseinandersetzung mit dem Gedicht fördert etwas in einem zu Tage; man selbst fördert es mithilfe des Gedichts zu tage.

“Dem Tod keine Zeile bisher.
Ich wiege achtzig Kilo und das Leben ist mächtig.
Zu einer anderen Zeit wird er kommen und fragen,
wie es sei mit uns beiden.”

Es sind nur kleine Botschaften. Aber gerade das Schmale an ihnen, macht sie gleichzeitig fest, eindrücklich. Man kann ihnen nicht ausweichen, denn ihre Präsens ist für die Dauer der Lektüre unausweichlich, alles darin gehört zusammen; sie sind ein untrennbares Geflecht, gleich einem Schild, das dich auffordert, etwas zu dem zu sagen, was du gerade empfindest, was du gerade von Leben verstehst, was du sehen kannst

“Vom Querschläger Regen nassgeprügelt,
glänzt der Asphalt sammetschwarz satt,
schwankt die Allee herbstlaubbeflügelt.”

Kopfkino, musiziert nach lyrischem Wortschatz. Die teilweise harmlos-instinktiven Naturepisoden und -veranschaulichung machen einen nicht unerheblichen Teil des Bandes aus; in dieser Naturverbundenheit liegt dabei erstaunlicherweise nicht der Versuch, die Natur zu überwinden. Vielmehr ist diese ländlich-lebensgegerbte Note eine authentische Verknüpfung zwischen dem Schreiben des Autors und seinem Lebensgefühl.

Aber das Zentrale ist letztlich nicht das Überwiegen einer Thematik, sondern die Art, wie Brambach die Form des sehr kurzen Gedichtes auf viele verschiedene Themen erstrecken kann (auch wenn er meist beim Natur- oder Ichgedicht bleibt), was diesen Band so wertvoll macht. Es geht vieles, es geht auch anders – als Beispiel das Gedicht “Paul”:

“Neunzehnhundertsiebzehn
an einem Tag unter null geboren,

rannte er wild über den Kinderspielplatz,
fiel und rannte weiter

das Gewehr im Arm über das Übungsgelände,
fiel, und rannte weiter

an einem Tag unter Null
in ein russisches Sperrfeuer

und fiel.”

Im Ganzen ist dieses Gesamtwerk von 170 sehr großzügig bedruckten Seiten, ein kleines Geschenk für jeden Poesieliebhaber. Es enthält Ernstes und Heiteres, aber vor allem viel Natürliches. Man kann dieses Band mit einem unverfänglichen Genuss lesen, der einem dann und wann auch zu denken gibt. Berührend ist auch ein Wort, was für die Gedichte Brambachs stehen kann, auf eine sehr dezente Weise, die sich nie innerhalb dieses Begriffes ausverkaufen will.

“Außer Poesie und mir
war niemand im Park.

Wer sich gerne mit Gedichten beschäftigt, die keinen großes Tamtam um Verschleierung und Tricksereien machen, sondern vielmehr am Poetischen, dem Sinnspiel, dem Kopfkino, dem Einfangen der Welt als Wortgeste(n), interessiert sind, dem kann man dieses Werk ohne große Gefahr ans Herz legen. Es sind einfache Gedichte, die hier zu lesen sind. Aber einfache Gedichte sind immer noch Gedichte.

“Ein Gedicht schreiben
ohne Ballast
zum Beispiel Spätherbst
leeres Schneckenhaus Spinnenweben
lautlos Fallendes
im Geflüster der Bäume.”

Zu “Abschied und Wiederkehr”, der Ausgabe der gesammelten Gedichte von Zuckmayer


“Wie der Marienstein verwittert am Feldrand steht,
Bleibt manche Nacht in Wettern und Zeiten bestehen,
Und wie der Uferwind durchs trockne Röhricht geht,
Werden viele Nächte kühl und raschelnd verwehen.”

Carl Zuckmayer, geb. 1896, gest. 1977, ist vor allem für seine Dramen (und auch die daraus entstandenen Verfilmungen) bekannt geworden – zwei seiner Stücke gehören nach wie vor zu den besten literarisch-fiktionalen (Bühnen-)Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Der Hauptmann von Köpenick und Des Teufels General (wobei auch die anderen Nachkriegsstücke nicht zu verachten sind).
Zuckmayers Lebenspanne umfasste mit Kaiserreich, Ersten Weltkrieg, Weimarer Republik, der Naziherrschaft, dem Exil (er ging 1938 nach Amerika) und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik viele wichtigste Stationen der deutschen Geschichte und er kannte viele Persönlichkeiten aus den kulturellen Umfeldern jeder Zeitepoche von Weimar an, weswegen auch seine Biographie Als wär’s ein Stück von mir zu den umfassend interessantesten Memoiren gehört, die ich gelesen habe – neben Zeitkurven von Arthur Miller und Der Menschen Hörigkeit von Somerset Maugham, empfehle ich sie stets immer als solche weiter.

“Und im Mai stand das braune Dorf in schäumendem Weiß
Von Obst und Flieder und Wolken von Schlehdornsträuchern
Und das Meer ward ein tiefer Smaragd und orgelte leis,
Und es quoll aus den Wäldern der Ruchopfer ewiges Räuschern.”

Zuckmayer schrieb auch einige Erzählungen und essayistische Prosa, die eher von geringerer Bedeutung sind; doch von allen Werken aus seiner Feder ist das gesammelte Gedichtwerk sicherlich die unausgegorenste Mischung. Lieder & Verse aus seinen Stücken, Kriegsgedichte, Heimatgedichte, Geburtstagswünsche und tiefsinnige Poesie wurden (wenn auch halbwegs nach Thematiken und Motiven geordnet) in einem Band zusammengepackt, was oft unterschiedliche qualitative, aber auch formal sich widersprechende Gedichte nebeneinanderstellt. Teilweise ist das kein schöner Anblick.

“Ein Mensch beim Essen ist ein gut Gesicht,
Wenn er nicht denkt und nur die Kiefer mahlen,
Die Zähne malmen und die Blicke strahlen
Von einem sonderbaren Urweltlicht.”

Auch wenn der Reim und teilweise sogar klassische Strukturformen (Sonette, Lieder) das ganze Gedichtwerk größtenteils ausmachen, kann man bei der Lektüre kaum von einem klassischen Eindruck reden. Verschroben, eigen und ein wenig widerspenstig, ein wenig ungeschliffen kommen diese Gedichte daher und auch wenn sie formal sortiert sind, wirken sie, wie gesagt, reichlich unsortiert und orientierungslos. Man erwartet quasi auf jeder Seite mit Spannung, ob das nächste Gedicht eine interessante Auseinandersetzung, gediegen oder schön ist, oder ob man wieder eine etwas wirre, manchmal spirituell oder quasi-mystisch anmutende Zeile schlucken muss.
Das wirklich bedauerliche ist, dass wahrscheinlich keins der Gedichte wirklich schlecht ist – aber sie wirken so, da man sie im Umfeld völlig anders geprägter Verse liest und sich gar nicht auf sie einlassen kann.

“Des Nachts aus Schwärzen schnaubte
Der Hirsche Sucht und Qual,
Der Sturm den Wald entlaubte,
Der Nebel rinnt ins Tal.
Raureif die Fichten staubte –
Die Tage werden schmal.”

Natur und Krieg und Lebensglück sind die am häufigsten vorherrschen Themen, die sich herausgreifen lassen.
Die Natur hat meist etwas heimat- oder zumindest selbstverbundenes; viel geht es auch um Jahreszeiten und natürliche Stimmungen und ihre Mythologien.
Lebensglück hat wiederum in dem einen Gedicht etwas von Rausch und Gesang, in den anderen (meist besseren) Gedichten etwas von einer urtümlichen Gemütlichkeit; es sind dies die Gedichte, die mir persönlich am besten gefallen haben. Darin ist alles vereint: kleine Philosophie mit unverstellter Harmonie, in meist schlichten, aber gelungenen Reimen und Verknüpfungen. Gedichte in denen man sich wohlfühlt, fast schon geborgen, egal wie lang sie gehen – sie strahlen Wohlgefühl oder Ruhe aus.

“Rauche mit Andacht. Rauche mit Genuss.
Das Rauchen ist kein hastiges Beginnen.
Man rauche, weil man will, nicht weil man muss.
Du darfst dich, rauchend, auf dich selbst besinnen.

Du selbst. Ich selbst. Und um uns herum die Erde.
Und über uns, in uns, Unendlichkeit.
Was raucht, verbrennt, damit es ewig werde.
Du schaust der Wolke nach, und riechst die Zeit.”

Doch leider sind solche Gedichte eher die Ausnahme. Zu oft ist Zuckmayers Dichtung unentschlossen zwischen Expressivität und Botschaft, Stimmungsersinnung und Kritik, Pathos und Schlichtheit.

Die Kriegsgedichte haben wiederum ihren eigenen Wert und ihre unverstellte Art ist zumindest authentisch und in der Anschaulichkeit wertvoll. Überhaupt ist Zuckmayer gerade dann gut, wenn man das Gefühl hat, dass er ganz aus dem eigenen Gemüt spricht, ohne überflüssig aufgebauschte Lyrismen oder angewandte Übersteigerung und Überladung. Dann gelingen ihm schon fast brechtsche Verse wie diese:

“Die Welt, wird man sagen, war damals schon dumm.
Und ohne methodische Leitung.
Man schlug sich um Rohstoffe und Märkte herum,
Man brachte einander zu Tausenden um,
Und keiner wusste so richtig, warum –
Das erfuhr man dann erst aus der Zeitung.”

Insgesamt steht dieses dichterische Werk sehr zusammengestoppelt da und auch wenn es das ein oder andere überragende Gedicht, die ein oder andere sehr gelungene Strophe gibt, fehlt es doch vielfach an echter Substanz und an einer über die Worte hinausgehenden Idee, sowie einem echten Dialog zwischen Leser und Autor. Viele der Gedichte werden eine direkte Übertragung von Empfindungen und Erinnerungen gewesen sein und waren so für Zuckmayer selbst gewiss sehr wertvoll, geradezu heilig, wurden aber mehr für den Eigenbedarf geschrieben (wie bei Joyce die Spottgedichte).
Wie gesagt: Nicht immer. Manchmal ist seine eigene Art natürlich trotzdem sehr tiefsinnig und manchmal wirkt selbst eine recht eigene Geste auf ihre Art schön, wie diese Anfangszeilen in einem Gedicht an den Mond:

“Du weiße Lotos über dunkelroten
Gewässern, die aus stummen Ufern treten
Dich aufschaukeln und Dich anzubeten –
Du Schwan der Toten”

Wer sich die guten Gedichte heraussucht und seine Neugier vor jedem neuen Gedicht bewahrt wird ein gute Erfahrung machen; wer am Ende eine Bilanz ziehen will, wohl eher eine schlechte. Sicherlich kein großer Wurf, aber auch am Ende kein geringer.

“Doch laufen die Wasser auch ruhlos zum Meer –
Das Quellchen Ursprung läuft nimmer sich leer. ”

Link zum Buch

-Essenz der Nacht, wie sie uns einnimmt und verstößt wie Wellen-: “Nachtflug” von Saint-Exupéry


“Vor einem offenen Fenster blieb er stehen und umfasste mit innerem Blick die Nacht. Sie schloss sich um Buenos Aires, aber auch um ganz Amerika, wie um ein riesiges Schiff. Nichts ungewohnte für ihn, so im großen zu denken. Der Himmel von Santiago de Chile, ein fremder Himmel – aber war einmal ein Kurier unterwegs dorthin, so lebte man, von einer Linie bis zur anderen, unter derselben riesigen Wölbung.”

Als beeindruckende Dokumente von Schicksal und Dasein des Menschen haben sich seit jeher weniger die philosophischen Schriften oder die politischen Reden, sondern ein paar Stücke der darstellenden Kunst in Text und Bild erwiesen. Es ist dort oft nicht der große Wurf, sondern das kleine, manchmal sehr ferne, spezielle Beispiel, das die Fragen nach Grund und Glück der menschlichen Existenz aufgreift und uns mit seiner Botschaft durchdringt, fesselt und sogar kurze Zeit bin in unsere Tiefen hinein erleuchtet. Es sind Bücher und Filme, denen wir nicht auf der Ebene “Betrachtung eines Kunstwerks”, sondern sehr viel persönlicher begegnen. Es geht darin nicht vorrangig um ein großes Geschehen und manchmal nicht einmal so sehr um die menschlichen Figuren, die daran teilnehmen (die mehr Blitze sind und nicht das Gewitter), sondern um das Wesen der Dinge selbst – wie es in Saint-Exupérys Buch “Nachtflug” um das Wesen der Nacht und die Taten des Menschen geht und wie sich beides zu etwas Unausweichlichem, Zentralen und Metaphysischen verbindet, wo sie aufeinandertreffen, und doch die nahe Spannung eines Erlebnisses behält.

“Rivière denkt an Herrlichkeiten, die in der Tiefe der Nacht verborgen sind wie in einem Fabelmeer… Die Apfelbäume, die den Tag erwarten mit all ihren Blüten im Finstern.”

Drei Flieger sind es, die die Nacht über Südamerika, von Chile, Patagonien und Ascension aus, durchfliegen, um in Buenos Aires zusammenzutreffen und dort die gesammelte Post für den Europaflug abzuliefern, der dann um 2:00 Uhr Morgens nach Osten abhebt. Jede Nacht ist es ein Spiel mit den Unwägbarkeiten des Wetters. Wo eben noch klarer Himmel ist, kann in zwei Stunden ein Sturmtief oder ein Gewitter sein und die Maschinen sind darauf angewiesen, regelmäßig zu landen und zu tanken und dazu braucht man in der Nacht klare Sicht. Es ist ein Tanz aus Erleichterung, Pflicht, Furcht und Dunkelheit und Glück, den Piloten und Organisatoren der Nachtlüge in jenen Stunden durchleben. Das Aufsetzten eines der drei Flugzeuge, die Wettermeldungen, die mit Angaben wie “zu drei Vierteln bedeckt” die Unruhe anfachen und die tiefe Bodenlosigkeit der Nacht erahnen lassen, diesem Geschöpf, das zugleich so freundlich, lieblich, unvergesslich und doch auch grausam ist – das alles kommt in diesem dünnen Buch, dieser kleinen Geschichte zusammen. Einer Geschichte, die, wie eine Meditation, keine wirklichen Aufs und Abs kennt, nur das Atemholen und das Atemanhalten; die gipfelt in der Nähe und der Entfernung, die in der Nacht zu einem Gefühl verschmelzen; die spricht von der Ratlosigkeit angesichts der großen Entfernung zwischen Ländern, Menschen, Sekunden und Stunden.

“Wir wollen nicht ewig leben, aber wir wollen nicht alles tun und alle Dinge plötzlich ihren Sinn verlieren sehen. Dann zeigt sich die Leere, die uns umgibt…”

In diesem Satz hat Saint-Exupéry etwas von dem eingefangen, was den Menschen ausmacht. Den Menschen der täglich arbeitet, der Entscheidungen treffen muss, bei denen es keine Gewinner geben kann, nur Betroffene und Nichtbetroffene. Die Piloten, die einsam kämpfen und andere, die für viele kämpfen und doch nur wollen, dass ihre Kinder nachts ohne Furcht schlafen können. Es ist die große, beinahe unscheinbare und doch interstellare Poesie und Kraft, die dieses Buch so beeindruckend macht; es trägt einen die ganze Zeit, während der ganzen Lektüre zieht es einen mit sich, stets bang und doch unentwegt. Als hätte es der Autor geschafft, unseren eigenen Herzschlag an das Geschehen anzuschmieden, was sich erst knapp vor dem Ende langsam löst.

Es gäbe noch viele Zitate, viele Anmerkungen, denn der Raum, den dieses Buch durchschreitet, ist nicht abzumessen; jeder Tropfen Poesie daraus zieht weite Kreise in der eigenen Seele, im eigenen Verstand und es ist letztlich die eigene Entscheidung, wie man mit den Intuitionen zwischen Buch und Leser umgeht. Die Tatsache, dass dieses Buch wie ein Dialog ist, dem man lauscht und so eigene Fragen sich aufwerfen und eigene Ansichten und Momente erkannt werden, macht dieses Buch zu einem kleinen, freien Meisterwerk. Einem Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

“Des Menschen Schicksal scheidet sich an der einzelnen Tat, in einer Welt voller Menschen, die du Leben nennen kannst oder auch Glück – es gibt keine Namen, es gibt keine Versprechen: es gibt Tag und Nacht.”
Rene Char

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*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen.

Ein lyrischer, komplexer Roman – Borns “Die Fälschung”


“Es ging um Kontraste, immer noch, immer noch um Gut und Böse, obwohl beides nichts mehr bedeutete, da alle nur noch verrückt in den Kategorien der Verrücktheit staken.”

Nicolas Born, gestorben 1979, hätte mit Sicherheit noch ein bedeutendes Werk verfasst, denn schon allein das, was er bis zu seinem Tod geschrieben hat, ist beeindruckend, Gedichte und Vorträge, und (nicht) zuletzt dieser Roman, der von einem Kriegsberichterstatter, Georg Laschen, handelt, den die Entgrenzungen von Sinn und Realität, die Divergenz von Darstellung und Wirklichkeit, umtreiben. (Ort des Geschehens ist der Libanon, während des Bürgerkriegs in den späten 70ern, zwischen christlichen und muslimischen Glaubensanhängern.)

Ledig-Rowohlt der Inhaber des Rowohlt Verlages, sagte auf Borns Grabfeier trefflich, er wäre “auf dem besten Weg gewesen, ein deutscher Camus zu werden”. In der Tat lässt sich dieser Roman in seiner Stimmung, seiner leicht apathischen, dann wieder leicht engagierten Art, durchaus mit Camus Roman “Die Pest” vergleichen.

Man könnte sehr viel über “Die Fälschung” schreiben, denn es ist ein sehr verdichteter Text, eine Prosa, die ständig die Schwerpunkte verschiebt und den inneren Stimmungen des Protagonisten folgt; der Roman spielt zwar hauptsächlich im Libanon und die eine Seite des Buches ist natürlich auch diesem Umstand gewidmet: Aussagen von verschiedenen Beteiligten, die Besuche dieses und jenes Frontabschnittes, die Berichte über Siege und Niederlangen.

“…Recht und Unrecht waren bis zur Unkenntlichkeit vertauscht worden, gab es nicht, schien es nie gegeben zu haben. Nur Räume und Zeiten sollten siegen über Räume und Zeiten, eine Behauptung sollte die andere besiegen, eine Geschichte die andere. Der Tod in Fortsetzungen sollte geschehen, damit eine einzige Wahrheit am Leben bleiben konnte, eine einzige Wahrheit und ihre Darstellung.”

Der Krieg der beiden Parteien, deren Mitglieder Georg Laschen ungehindert aufsuchen kann und die sich dennoch bekriegen – alles, was er darüber schreibt, ist letztlich eine “Fälschung”. Denn wenn er für niemanden eintreten kann, so gibt es auch keine echte Perspektive. Wer nur beobachtet ist eigentlich nicht dabei. (“Obwohl viele starben, starb man selbst doch nie.”) Darin gipfelt Borns Werk immer wieder, unter der Oberfläche, in dieser Empfindung, dass alle Grundlagen des Rechts für einen Beobachter, der nicht auch Akteur ist, obsolet sind, nicht greifbar, nicht erkennbar. Es ist als lebe und berichte er von einem anderen Planeten. Und außerdem ist die berichtete Wirklichkeit stets auch die Vergangenheit…

“Einmal hatte er ihr von seinen Schwierigkeiten erzählt, seine Schwierigkeit sei es oft, das Geschriebene anzuerkennen angesichts der immer ungeschriebenen Realität der Ereignisse.”[…]

Zu erwähnen ist auch noch die andere Seite des Romans, die Person Laschen selbst und ihre Verstrickung zwischen zwei Frauen. Diese eingewobene Geschichte stellt auf wunderbar ehrliche Weise die Kompliziertheit menschlicher Beziehungen dar; sie ist das klarere Highlight des Romans. Überhaupt ist Born ein hervorragender Charakterdarsteller und -nuancier.
So ist dieses Werk demnach auch kein wirkliches Buch -über- den Krieg im Libanon. Jener ist mehr (wie bei Camus die Pest) ein Mittel, um die Unübersichtlichkeit und Ferne der Realität darzustellen und die Handlung in eine Ausnahmesituation zu versetzten; er ist eine Metapher für die -Fälschung- des Lebens selbst. Born hat gewiss sehr gut recherchiert und bestimmt stimmt alles historisch, aber das verfällt neben der Geschichte des Individuums zur Nebensache. Auch das eine Botschaft, die der Roman langsam an sich selbst koppelt: das neben dem Individuum alle Realität eine Wirklichkeit ist, die nicht an ihm haften kann, also nur über Bezüge zu ihm aufschließen, ihn erreichen kann. Was ist der Bezug zu einem weitentfernten Krieg?

Insgesamt ist das Buch jedoch tatsächlich zu komplex um es einfach als Kategoriendiskussion abzuhandeln. Es ist ein Epos, aber ein lyrisches und deshalb knappes. So wie Born hauptsächlich Dichter war, so hat er auch diesen dichten Roman, in der Form und in der Sprache lyrisch inszeniert. Sein Stil ist von einer bildreichen Schroff- und Erhabenheit (“Die Granaten hörte er über den Dächern surren, sie flatterten, meinte er, wie einsame, eine Beute suchende Nachtvögel”) (“In Richtung des Platzes fuhr ein Panzer, das Turmgeschütz geradeaus gerichtet. Bei jedem Schuss rumste der ganze Stahlkörper, als hätte er sich aus einen Eingeweiden befreit”), die Handlungsführung lebt von einer sich stets halb entziehenden Schnelligkeit und Kargheit, die auf frequenzartige Weise in die Tiefe geht.

Es ist ganz ohne Zweifel ein großer Roman, einer dieser Romane, bei dem man stets im hier und jetzt, auf der gerade aufgeschlagenen Seite ist – eine Komposition von bestechender Intelligenz und Vieldeutigkeit.

Und um mit einem sehr wahren, wieder an Camus erinnernden Satz zu enden:
“Laschen kehrte zu einem schon oft gedachten, also vertrauten Gedanken zurück, nichts sei ein Menschenleben wert, täglich gebe es dafür Beweise, aber der Anspruch, Wert zu sein, müsse zeitlebens gestellt werden, verurteilt aber der, der Gegenbeweise liefere.”

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen.

Ja, “Ich ist kein anderer” – Robert Fischers “Römische Abschweifungen”


“Flug über die Alpen, der Nebel lichtet sich: blauer Himmel und gleißendes Licht. Unter dir liegt eine faszinierend aufgefaltete Welt mit frischem Schnee über grauem Fels, die Täler von Straßen und Flüssen durchzogen, wie Lebensadern in einem fast menschenleeren Gebiet.”

Max Frisch hat Recht: “Das menschliche Leben vollzieht oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst”. Aber dieser These literarisch zu folgen ist sehr schwierig. Denn dann kann man keine ausufernden Geschichten erzählen, sondern nur die eigene; kann nichts imaginieren und erfinden, außer der Sprache für das Selbst-Erlebte.

Diese Prämissen haben etwas von Lyrik und in der Tat könnte “Römische Abschweifungen” auch ein langes erzählendes Gedicht sein, ein ungereimter Versfluss, immer wieder unterbrochen durch Prosaabschnitte die die Randgeschichte fortführen. Aber gerade die Tatsache, dass es reine Prosa ist, macht dies schmale Werk poetisch noch umso wertvoller und verleiht ihm eine unnachahmliche Tiefe, einen Zug der eingefangenen Wirklichkeit.

Inhaltlich geht es um einen Lebensweg, den Blick darauf zurück und die während der Retroperspektive erlebte Gegenwart. Kindheit, Liebe, Sexualität, Vertrauen – alle Problemzonen des Lebens geben sich hier und da zu erkennen, während der Ich-Erzähler gleichzeitig von seiner Beziehung, seinen Gedanken und seiner Romreise berichtet. Letzteres immer wieder auf sehr anschauliche, lebensnahe Weise:

“Dann spazierst du um die Piazza Navona und setzt dich zum Lesen auf eine Bank vor Berninis Fontana dei Fiumi. Gegen halb sieben Uhr gehen die Lichter an, und die Kulisse rund um den oval angelegten Platz bekommt einen surreal anmutenden Glanz. Eine bunt gekleidete Frau tanzt Flamenco zu einer Musik aus dem mitgebrachten Ghettoblaster, während ihre Tochter nicht recht zu wissen scheint, ob sie sich darüber genieren oder Geld einsammeln soll. Junge Zigeunerinnen halten dir ihre Pappschilder unter die Nase und versuchen dich mit einem Lächeln auszurauben.”

Weiterhin kann man zum Inhalt wenig sagen, was in diesem Fall für das Buch spricht. Es ist keine auf einen Nenner zu bringende Geschichte, sondern 1zu1 ein Erlebnis des Lesens; kein Name, sondern ein langer Gedankenfluss, den man “open mind” durchschwimmen sollte.

Robert Fischer versteht zu schreiben, nuanciert zu erzählen und es ist fast schon egal worüber, zumindest zu Anfang. Dann, immer mehr, schleicht sich die Weisheit seiner Prosa in die Randbezirke der eigenen Wahrnehmung, bevor sie ganz am Ende wie die Sonne über der Landschaft des Gelesenen aufgeht.
Er schafft es das Bewusstsein des Lesers ständig im Fluss zu halten, hier und da mit erotischen Anklängen anzuecken, dann wieder mit seiner bewusstseinsklaren Sprache, dann wieder mit seiner rätselhaften Erzählstruktur. Bewundernswert, schön, mehr fällt einem wieder und wieder nicht dazu ein.

“…doch wie soll man auf ein Leben vertrauen, indem nichts gewiss ist außer dem Tod?” – eine einfache Frage, die inmitten seiner Prosa wie der schwere Stein wirkt, der Augenaufschlag, der sie ja auch ist. Thomas Mann schrieb einmal über den Steppenwolf an Hermann Hesse: “Der Steppenwolf hat mich seit langem wieder gelehrt, was Lesen heißt.” Das kann ich, für mich, auch über dies kleine Buch sagen. Es ist ein Leseerlebnis, eines, das ich jedem in dem Maße wünsche, indem es mir zuteil wurde.

Link zum Buch: http://www.amazon.de/R%C3%B6mische-Abschweifungen-Erz%C3%A4hlung-suhrkamp-taschenbuch/dp/3518395300/ref=cm_cr_pr_pb_t

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen

“Reiche Mädchen”, arme Mädchen – Silke Scheuermanns Erzählungen


“Berichtet wird von so viel Vakuum in der Leere…” Jean Cocteau

“Besorgt fragte mich Timo anschließend, alles in Ordnung bei dir, und ich wurde abwechselnd rot und weiß vor Verlegenheit und in diese Markise verliebte sich Timo sofort.”

Wenn es um Erzählungen geht wird der Gesamteindruck beinahe immer die Sprache überlagern. Es liegt in der Natur guter Kurzgeschichten und Erzählungen, dass sie meistens (wenn sie gut sind) als etwas Einmaliges, beinahe Gegenständliches gesehen werden, in Gegensatz zum Roman, der meist mehr als zwei Seiten einer Münze in sich trägt; wo jener zeigt, was nur der Roman geduldig offenbaren kann, hat eine Erzählung ein Ziel, einen einzelnen Tonfall, einen Punkt, auf den sich alles Bemerkte, Empfundene und Operierende hinzieht

Man merkt dem Tonfall der Geschichten an, dass hier eine Dichterin am Werk war. Eine Dichterin, die sich auch an Erzählungen versuchen wollte und die dies mit der vollendeten Verfolgung ihrer sprachlichen Möglichkeiten tut. Scheuermanns [[ASIN:351841593X Gedichte]] gehören sprachlich zu dem wertvollsten, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Und auch erzählerisch hat sie eine bestechende Note in ihrer Prosa und einiges zu bieten, wobei auch hier der sprachliche Schwung, Tanz und Fluss am stärksten das Bild ihrer Texte prägt.

“Der Glatzkopf, hinter dem sie hereingekommen ist, sitzt schon da, und er fühlt sich sichtlich wohl, denn halb auf seinem Schoß, halb an ihn gelehnt hat er ein Mädchen mit langen roten Haaren, das er mit den Händen um den Bauch knapp unterhalb der Brüste umklammert, und die beiden aneinandergelehnten Köpfe, der glatte und der haarige, grinsen so breit, dass das Grinsen von einem Gesicht zum anderen führt und die beiden Körper verbindet wie ein Gürtel.”

Die 7 Texte handeln beinahe allesamt von Einsamkeit und dem Versuch ihr zu entfliehen, vor allem in dem man anderen Zugang zu sich gewährt und hofft, dass sie die Einsamkeit vertreiben, bleiben, und die Wichtigkeit des eigenen, empfundenen Wesens und seiner Vorstellungen erweitern, vielleicht sogar zu einer Zweisamkeit werden lassen. Zwischen dem Wunsch, dem Panorama des Möglichen und den kleinen Wünschen des scheinbar Unmöglichen gefangen, suchen Frauen, alte Männer, junge Mädchen, ihre Obsessionen zu kontrollieren und gleichzeitig auf einer höheren Ebene zu erfüllen. Der Leser begleitet sie auf einem Spiel mit sich selbst, in dem die Momente, in denen man dem Ziel so nah ist, sich fast wie Glück anfühlen – alles andere jedoch wie die nächtliche Kälte vor der eigenen Haustür. Wenig Happy End Stimmung, dafür sehr oft eine Ahnung, eine Präsens der Erfahrungen, die Scheuermann sehr gut wiederzugeben versteht. Mit sprachlich überraschend nah an den Empfindungen des Lesers anbauenden Umschreibungen, treibt sie uns sehr tief, wie einen Pfahl, in ihre eigenen Erzählungen. “Glück, das ist immer nur im Vorübergehen”, wie Mascha Kaléko schrieb – Scheuermann setzt es in Szene, ohne diese Umstand zu verteufeln, sondern in dem Versuch ihn ganz konkret und ganz nah abzubilden, in allen seinen Ausformungen.

Die reflexive Kraft vieler Zeilen in diesem Buch ist immens – trotzdem ist das Lesevergnügen ein durch die Undurchdringlichkeit der allzu klaren Prosa geteiltes. Erbauend ist das Erlebnis und zugleich ernüchternd, wie ein Absageschreiben zu einem Termin mit dem Glück, wie ein Ablehnungsschreiben eines Manuskripts über die Schönheit. Beides hat in Scheuermanns Erzählungen nur begrenzten Platz und sie teilt uns mit, dass auch dieser kleine Platz zum Teil aus Glück auf Kredit besteht; keinem wahren Glück. Was wahres Glück ist, damit lässt sie uns im Windschatten unserer nun (nach der Lektüre) gedämpften Träume allein. Trotzdem: es sind keinen willkürlichen, sondern sehr nahe gehende Geschichten. Bewundernswert in ihrer ganzen Form, ohne Frage, auch wenn diese Form ein Raum mit wenigen Fenstern und vielleicht keiner einzigen Tür ist. Man kann diese Geschichten glatt und unterkühlt nennen, aber das wäre eine Beurteilung nach Maß. Und wer liest, der liest nicht nach Maß, sondern versucht zu verstehen… und so muss man sich diesen Erzählungen vielleicht in diesem Sinne nähern: Mit dem Gedanken daran, dass es traurig-wichtige Seiten sind, die wahrhaftig abgebildet werden wollen.

“Die ganze Welt war ein Lampenschirm, und er war das Licht.”

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Reiche-M%C3%A4dchen-Silke-Scheuermann/dp/3442461448/ref=cm_rdp_product

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen