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Filigran wie ein revolutionäres Daseinsuhrwerk


Eine der schwierigsten Sachen beim Romanschreiben ist, so glaube ich, eine Figur nicht nur zu konzipieren, sondern sie stets auch zu Ende zu denken. In jeder neuen Szene muss man sich fragen: wie handelt die Figur und warum und was für eine Konsequenz hat das für den Fortgang der Erzählung. Denn die Erzählung ist ein Gewebe, das die Figuren anschlagen und worin sie sich verfangen sollen, dessen Fäden sie um sich winden und mit sich tragen sollen, aber zerreißen dürfen sie sie nicht (außer natürlich, wenn das das Konzept der Erzählung ist).

João Ricardo Pedro ist ein Meister im Erschaffen von Erzählgewebe, es scheint ihm so leicht wie das Schreiben selbst von der Hand zu gehen und seine Figuren wirken so behutsam in dieses Geflecht gesetzt und darin belassen, als wären sie als Gestalten geplant und nicht als Menschen. Seltsamerweise empfinde ich diese blasse Kontur der Figuren nicht einmal als großen Kritikpunkt, auch wenn die Ausstaffierung und die prägenden Momente oft zurechtgeschnitten erscheinen, sehr einfach ausgemalt; sodass man den Eindruck bekommt, sie seien bloß dazu da, den feinen Kosmos der Erzählung an den richtigen Enden zu erden und zu beschweren. Wahrscheinlich ist das kein Problem, weil die Erfahrungen und Erlebnisse der Gestalten so lebendig und bewegend sind, dass ihre Gestalthaftigkeit eher wie ein perfektes Gefäß und nicht wie eine schwache Ausführung wirkt.

Im Grunde setzt sich die Handlung des Buches aus den Erlebnisfacetten und individuellen Lebensläufen einer Familie in Portugal zusammen, deren letzter Spross ein begnadeter Pianist ist. Seine Musik, die Briefe von einem Freund des Großvaters, die über 40 Jahre hinweg eintreffen, ein Gemälde mit einer einbeinigen Frau, die Militäreinsätze des Vaters in Angola, um all diese wiederkehrenden Schwerpunkte kreisen die Geschichten und die Zentripetalkräfte dieser Gegenstände halten das Erzählte im Umfeld der Magie des Gewebes. Wobei Magie vielleicht das falsche Wort ist, denn die Erzählung hat nichts Phantastisches an sich. Aber es liegt eine spezielle Kunstfertigkeit in der Art, wie Pedro eine einzigartige Mischung aus Erstaunlichen und Gewöhnlichen ansammelt und ausbalanciert und diese Kombination zu seinem Stoff erklärt.

Auch in der Form ist das Buch sehr kunstvoll aufgebaut. Die Erzählebenen schieben sich mit jedem Kapitel der sieben Teile weiter ineinander, manche Elemente entfalten sich, manche geraten wieder in den Hintergrund, aber nichts ist je völlig entrückt, im Hintergrund wird weiter daran gedreht, bis ein weiterer Erzählbogen über die gespannten Saiten geht. Immer wieder spielen Rückblicke eine zentrale Rolle und die Erzählung scheint bis zuletzt keine Konsequenz, kein Ziel zu haben und doch verdichtet sich mit jeder Seite eine einmalige Tiefe; das Buch gerät zum Erkenntnisinstrument, zu einer Stimme, die permanent von Geheimnissen und Schicksalen spricht und in diesen Aspekten, in der Spannung zwischen dem eintretenden Tod und dem Erlebten, ihren Widerhall findet.

Die Kürze der Kapitel und die unaufdringliche Finesse haben mich ein ums andere Mal an Nabokov erinnert. Ich finde es vorschnell, dem Buch eine Einmaligkeit oder einen Klassikerstatus anzudichten. Klar aber ist, dass hier ein Buch vorliegt, das immer wieder aufs Neue zu faszinieren weiß und darüber hinaus von einem sehr fähigen Erzähler geschrieben wurde. Man wird sehen müssen, was auf dieses Debüt folgt. „Wohin der Wind uns weht“ jedenfalls ist ein eindrucksvoller Roman über die kleinen, spektakulären Dinge im Leben der Menschen, über die Dinge, denen sie bis zum Ende die Treue halten und denen, die sie bis zum Ende verfolgen.

Link zur Suhrkampseite des Buches

Zu Borges und den Essays in seinem Sammelband “Inquisitionen”


“Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?”
Samuel Taylor Coleridge

“Zwei Tendenzen”, schrieb Borges im Epilog, “habe ich beim Korrigieren der Druckfahnen in den vermischten Arbeiten dieses Bandes entdeckt.
Zum einen die Tendenz, religiöse und philosophische Ideen wegen ihres ästhetischen Wertes und dessentwegen zu schätzen, was in ihnen an Einzigartigem und Wunderbarem enthalten ist. Zum anderen die Tendenz, anzunehmen (und mich dessen zu vergewissern), dass die Zahl der Fabeln oder der Metaphern, die zu erfinden die Vorstellungskraft der Menschen fähig ist, begrenzt sei, dass aber die zählbaren Erfindungen jedem alles bedeuten können, wie der Apostel Paulus.”

Jorge Luis Borges gehörte zu den seltenen Literaten, die ihr Leben nicht nur dem Schreiben, sondern vor allem dem Lesen gewidmet haben – Faszination war ihm alles und Bescheidenscheit sein höchstes Prinzip in Bezug auf seine eigenen Leistungen – welche allerdings ein paar der wichtigsten Impulse für die Moderne und Postmoderne lieferten, gar nicht zu reden von der Synthese aus Wissen, Philosophie und Phantasie, die seine Texte zu einer zeitlosen, inspirierenden Erfahrung machen. Kaum einer, der seine Erzählungen (Das Aleph, Fiktionen), seine Gedichte (Mond gegenüber; Schatten und Tiger) oder eben seine Essays liest, wird darin nicht einer der schönsten Ausformungen von gesetzter und doch dabei von wundersamen Eingebungen und Ideen angefühlter Erzählkunst und Gelehrtheit begegnen.

Seine zahllosen Lektüren und Interessen erstreckten sich auf nahezu alle Gebiete, von Religion über klassische Literatur, Krimis und phantastischen Erzählungen, nahöstliche, antike und moderne Philosophien, bis hin zu politischen Werken und historischen Momenten, altenglischer Literatur und Sprache und modernen Innovationen wie die von Joyce, Pound oder Valery. Für Borges war der Wert einer Idee wichtig und nicht ob sie sich in irgendeiner Weise instrumentalisieren ließ; Ideen als Spiegel, in denen sich eine bestimmte Ungewissheit oder Gewissheit unseres Lebens mannigfaltig widerspiegelt.

“Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.”

In diesem Buch teilen sich die Literatur, die Philosophie und die Geschichte das Feld. Von einer Notiz zum 23. August 1944 (Befreiung von Paris) und einer daraus folgenden These über das Böse, über Literaten wie Kafka, Coleridge, Wilde, Valéry, Nathaniel Hawthrone (diesen Autor kann ich, dank Borges, nur jedem empfehlen!), bis zum etwas längeren Essays “Widerlegungen der Zeit”, in dem Borges eine persönliche Theorie der Einheitlichkeit der Zeit vorstellt, wird der Leser auf einem Fluß der reinen Faszination mitgetragen. Ich denke man kann beim ersten Mal noch nicht alles fassen, was Borges hier in meist nur 3-5 Seiten langen Texte anschneidet, sicher aber bin, dass jede Leser das Buch mit einer neuen Anregung verlässt und es bestimmt wieder zur Hand nimmt. Denn Borges kann man immer wieder lesen: um sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen, um Zusammenhängen und Verbindungen auf die Spur zu kommen, um sich von einer bestimmten Idee zu eigenen Gedanken verführen zu lassen. Jeder, der sich gerne in Gedanken an alles Mögliche, Faszinierende, Metaphysische, Inspirierende verliert, findet in Borges Büchern eine Welt, die wir für ihn geschaffen scheint – eine Welt voller erstaunlicher Bewandtnisse, mit großen Vorkommen einzigartiger Geschichten und Reliquien.

Borges Schriften sind nicht nur eines der großen Geschenke der lateinamerikanischen Literatur, magischrealistisch, allerdings auf andere Weise, sondern auch ein Anstoß selbst zu denken, Gedanken nicht nur zu setzen, sondern sie auszuformen, ihren Inhalt nicht vorauszusetzen, auch mal wider dem bereits Gedachten und Angenommenen zu denken; es steckt viel europäische Gelehrsamkeit in Borges Büchern, aber auch ebenso viel argentinische Selbstbehauptung, eine Art die Dinge in ihrem Status als Wunder anzusehen, in Opposition gegen das allzu Gesicherte, Alltägliche. (Er selbst schrieb lakonisch über die Argentinier: “Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, dass ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muss; der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, dass es vielleicht nicht schlecht ist, trotz des Preises.”)

“Im Laufe eines Lebens, das weniger dem Leben als dem Lesen gewidmet war, habe ich oft festgestellt, das literarische Absichten und Theorien nichts anderes sind als Reizmittel, und dass das abgeschlossene Werk sie meistens ignoriert und sogar widerlegt. Wenn in einem Autor etwas steckt, kann keine Absicht, mag sich noch so albern oder irrig, dem Werk einen Schaden unheilbarer Art zufügen.”

Borges lesen, dass ist Träumen, Denken und Lesen zugleich. (“Schopenhauer schrieb bereits, dass unser Leben und unser Träumen Blätter desselben Buches seien und dass sie in der richtigen Reihenfolge zu lesen, Leben bedeutet, in ihnen wahllos zu blättern aber Träumen sei.”)

Kleine Erwähnung zu Jorge Luis Borges “Fiktionen”


Wenn ich jemandem drei Bücher empfehlen müsste, die anders sind, poetisch, phantastisch und einfach lebensverändernd; wenn jemand mir sagen würde, er wolle einmal so richtig fasziniert werden, dann würde ich ihm drei Bücher vorschlagen: Die Nacht auf dem Rücken von Borges Freund Julio Cortazár, den Sci-Fi Roman Das Wort heißt Vollkommenheit von E.A.Lynn und die Fiktionen von Jorge Luis Borges. In diesen drei Büchern steckt so viel faszinierende Verblüffung und Entdeckung, so viele Ideen, so viel Genialität, dass jede Geschichte (bzw. jeder Abschnitt) neue Wunder und Momente des Literarischen offenbart. Man kann sich immer wieder mit diesen Büchern beschäftigen.

“Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und einen Résumé, einen Kommentar vorzulegen.”

Diese Beschreibung aus dem Vorwort bezieht sich eigentlich nur auf 2-3 der hier vorkommenden Geschichten, doch in diesem Satz steckt schon eine tiefgehende Philosophie, nach der Borges alle seine Bücher verfasst hat. Keinen Roman, keine langen Arbeiten über irgendetwas. Das bringt zweierlei mit sich:
1. Die Texte sind meistens – wenn auch nicht minimalistisch – so doch in jedem Wort durchgeplant; es ist eine Art von Borges, seine Geschichten komplett aus ihrer eigenen Materie zu weben und an jeder Stelle, an der das möglich ist, flüchtige Symbolik anzubringen. Man kann die Geschichten auch einfach so lesen, ohne die Symbolik zu begreifen, aber ein unnützes Wort ist nicht enthalten – das steigert die Fülle jeder Geschichte, verdichtet das Erlebnis
und
2. Statt einen Gedankengang völlig fertig serviert zu bekommen, muss der Leser selbst oft mitdenken, wenn Borges berichtet; ja, er sollte vielleicht sogar weiterdenken. Borges erzählt die Geschichten, die Skizzen, die Andeutungen und der Leser fühlt sich mit einem Mal von einer Welt gebannt, die er zum Teil von Borges erzählt, zum Teil noch selbst erforschen kann, in dem man über die Facetten nachdenkt, die nur erwähnt blieben – man kann es auch einfacher sagen: In jede Geschichte scheint noch so etwas wie ein zusätzlicher Raum für die Phantasie des Lesers zu sein.

Borges war stets, sein ganzes Leben lang, ein begeisterter Leser und Sammler. Er sammelte gute Kriminalromane (bis heute ist diese von ihm dokumentierte Sammlung eine Fundgrube an tollem Lesestoff, ich kam so zum Beispiel auf Leo Perutz), Märchen, phantastische Erzählungen, Mythen über Himmel und Hölle, Philosophien aus allen Weltteilen und Kulturen. Seine Belesenheit und Sammlerleidenschaft spiegelt sich natürlich in jedem seiner Werke wieder, durchzieht sie, wie Oscar Wildes Märchen das Gefühl für Ästhetik und bestimmt sie, ihre Universalität und Einzigartigkeit, ihre leicht enyzklopädischen Winke und ihre überbordene Ideenreichung. Es sind intellektuelle Erzählungen, aber – sie sind auch spaßig und bei aller Gelehrtheit ist Borges doch kein Intellektueller, sondern einer, der immer wieder mit neuem Staunen die Wunder der Welt zu mehren sucht. Er ist genial und freundlich, er ist Geist und Witz. Und er hat vor allem ein Gespür für das letzte Mysterium, das letzte Phänomen und es findet sich als Ausprägung und Metapher immer wieder in seinen Texten.

“Es gibt am Abend eine Stunde, in der die Ebene kurz davor ist, etwas zu sagen; sie sagt es nie, oder vielleicht sagt sie es unaufhörlich und wir verstehen es nicht, oder wir verstehen es, aber es ist unübersetzbar wie Musik…”

Kriminalgeschichte, Philosophie, Anekdoten, menschliche & phantastische Geschichten, große Allegorien oder einfach geniale Konstruktion mit überraschendem Ende, es gibt kaum eine Disziplin, in der Borges sich nicht zu Hause fühlt und kaum eine, in dem man ihn nicht gerne liest. Die Fiktionen, mögen genau das sein: fiktive Bauten. Aber sie sind auch einige der vollkommensten ihrer Art. Und Borges ist einer dieser Schriftsteller, der mit seiner ganzen Eigenheit eine universelle Faszination geschaffen hat. Eines der besten Bücher überhaupt, ein Buch für die Insel oder für das Paradies, das nach Borges Vorstellung ja eine Bibliothek war – wo ich ihm nur zustimmen kann.

Die “Aufsätze” von Robert Walser


Als Robert Walser nach einem friedlichen, beinahe 25jährigen Aufenthalt in zwei Heil- und Pflegeanstalten, 1956 auf einem Weihnachtsspaziergang starb, war er ein Unbekannter, ein Unerkannter, und doch hatte er sich bereits zu seinen Lebzeiten die Sympathie und Verehrung von Künstlern wie Robert Musil, Franz Kafka, Hermann Hesse, Richard Dehmel, Max Brod, Stefan Zweig, Alfred Polgar und Walter Benjamin erworben.

Heute, da eine umfangreiche Ausgabe seiner Werke vorliegt und seine Romane in die Reihen aufgenommen wurden, die die große Literatur des 20. Jahrhundert rekapitulieren, scheint seine gediegene, einmalige Prosa endlich die ihr zustehende Geltung zu bekommen.
Doch weiterhin sind es gerade seine Hauptwerke, diese hunderten, kleinen, nahezu winzigen, Prosastücke, denen der Ruhm und die breite Leserschaft verwehrt bleibt, obwohl sie sowohl romantische, als auch intellektuelle, als auch ästhetische, ja sogar essayistische Vorzüge und Anteile haben und in ihrer komprimierten Form das vollbringen, was sonst nur ein selbst erlebter Moment vermag: die unmittelbare Konfrontation mit dem nicht nach Außen zu verlegenden Ich, mit der Welt ohne Ich, in der dieses Ego seine Wege beschreitet und von Walser, mit einem Mal, damit zusammengebracht wird. Eine Begegnung, bei der beide Akteure sich unklar und undeutlich gegenüberstehen.

Der schmale Band “Aufsätze” (dritter Band der Walser Werkausgabe) – welcher im Titel an sein erstes Buch “Fritz Kochers Aufsätze”, die philosophisch, träumerischen Schulaufsätze eines angeblich verstorbenen Jungen erinnert, was eher irrig ist, da dieses Werk kein Rückgriff auf diese Idee ist – ist in den Jahren 1908-1912 in Berlin entstanden, eine Stadt, die den Inhalt einiger Texte in diesem Band nachhaltig inspiriert und geprägt hat – vor allem insofern, dass die geseschaftlichen und städtischen Züge auf die Gestalt der Betrachtungen einwirkten.

Ansonsten geht es in den zahlreichen Miniaturen vor allem um das Theater und um Personenskizzen; verschiedene Schriftsteller (u.a. Schiller, Kleist, Brentano, Stendhal, Büchner) werden in Szene gesetzt und kurze Teile ihrer Werke eingebaut, umgeschrieben, neu interpretiert; auch freudige, warme Natur und Liebesmomente sind, sind enthalten und auch für kleine philosophische Skizzen und Anmerkungen mit ihren feinen Satzbögen voll “schauerlustiger” Wahrheiten findet Walser inmitten seiner Ausführungen und Abschweifungen, einen konzentrierten kleinen Platz.

Wie Jochen Greven im Nachwort ganz richtig bemerkt, ist der für sich allein stehende Titel “Aufsätze” etwas irreführend, da sich in diesem Band Epik und Dramatik und kein rechtes Feuilleton findet und Walser den Titel wohl in einem anderen Sinn verstand – ich zitiere Greven: “er dachte an -Aufgesetztes- ganz allgemein, literarische Improvisationen beliebigen Inhalts und freiester Gestalt.”

Und so kann man diese Ansammlung von Geschichten, Personen, Philoromantik, Dialogen und Nachdichtungen als eine Art Lesebuch sehen, in dem Walser gleich einem Metamorph durch äußere Anlagen seiner selbst schleicht, Gesellschaft und Umgebung, Lektüre und Empfindung unter Masken geschliffener Prosa auftreten lässt und in aller Vielfalt sein virtuoses Plappern, seine kunstvolle Marmorierung und sein unschuldiges Hinterfragen praktiziert – oder um es ihn selbst in Worte fassen zu lassen: “Es kommt mich Lachen/ Und Lächeln an./ Was liegt daran!/Das sind so Sachen…”

Man könnte noch vieles aus diesem Buch zitieren; man könnte auch darauf hinweisen, dass es zwar inhaltslos scheint, gewöhnlich, und doch nach dem Lesen mehr wesentlich mehr zurücklässt als viele andere Bücher; der Zauber von Walsers tief gelegenem Schreiben besteht nun auch zum großen Teil aus seiner Art, keine Wasserfläche in Fluten und Stürmen zu verwandeln, sondern die Schönheit ihres Anblicks immer neu zu beloben, den großen Spiegel, den sie darstellt, zu füllen und die Tiefe darunter, ohne sie anzutasten, aufzuzeigen.

Doch am Ende lässt sich meine Betrachtung zu diesem Werk am Besten mit einem Absatz von Walser selbst schließen; er zeigt die nicht eben direkte, aber doch feinsinnige und intelligente Klarheit, mit der Walser die Empfindungen, die die Dinge ihrem Wesen nach für ihn bereithalten, beschreibt, diese dünne Poetik, unterhalb jedes Staunens, aber doch nicht ohne Sehnsucht oder Wunsch – und in welchem er, so bilde ich mir ein, uns auch ein wenig die Geste seines Schaffens offenbart: “Eine Welt glatt wie Glas, ein Leben sauber wie eine Stube am Sonntag. Keine Kirchen und keine Gedanken mehr. Puh, mich friert. Es sollte doch wohl immer noch allerlei in der Welt geben. Mich würde nichts bewegen, wenn nicht allerlei mich bewegte.”

Opera / Choral – Jean Cocteau, Gedichte zum Ersten


“Dass ich vom Zufall des Mysteriums profitier,
Von Himmelsfehlern auch, ich muss es eingestehen.
All meine Poesie liegt darin: Ich kopier
Das Unsichtbare bloß (nur könnt ihr es nicht sehen).”

Jean Cocteau – vielleicht der einzig wahre entfant terrible der frz. Literatur; exzessiver als Rimbaud in seinem Leben, konsequenter als Apollinaire in seinen Dichtungen, visionärer in seien Abgründen als Genet. Und doch hat er eines der schönsten, geheimnisvollsten und einzigartigsten Bücher aller Zeiten geschrieben: Kinder der Nacht. Hinter diesem Meisterwerk muss vieles zurückstehen, sowohl die griechisch-antik orientierten Anarchie-Dramen und auch die sonstigen Prosawerke, ebenso wie die Gedichte.

“Hier singt die Nachtigall wie unsre Welt verendet;
Gott kommt als Freund daher in ihrem Tränenschwall.
Ein Stoß trifft sie ins Herz, ein Kiesel, abgesendet
Von einer Schleuder, holt herab die Nachtigall.”
[…]
“Matrose, steh auf, die Geographie!
Auf Sternenzweigen wiegen sich die Vögel,
Judas, wieder erkannt auf der Photographie,
Der Engel hängt im Netzwerk seiner Segel.”

Französische Dichter haben den Hang elementare Dichter zu sein; in ihrem Land sind fast alle neuzeitlichen Schulen gegründet und jede Art von Avantgarde betrieben worden – und die wichtigsten Dichter Frankreichs sind bis in die heutige Zeit für ihre extravaganten Dichtungen bekannt, selbst der fast schon klassische Francois Villon (wobei Victor Hugo eine Ausnahme sein mag.)

“Was ich auch tue, ich errege Anstoß”, soll Jean Cocteau einmal gesagt haben. Sicherlich hat er damit nicht nur sein Leben, seine Affären mit Männern und Frauen (unter denen sich auch einige Adelige befanden), seine Opiumsucht und seine zeitweilige Sympathie für fragwürdige Systeme wie den Faschismus gemeint, sondern vielmehr sein vielfältiges künstlerisches Werk, dass sich vom Film über die Literatur bis hin zur Malerei erstreckte. Cocteau, der immer darauf bestand, nur Dichter zu sein und der sein gesamtes Werk “Poesie” nannte, wird heute in seiner Funktion als Universalgenie, viel zu oft übersehen. Sein dichteres Werk ist bei all dem noch am meisten klassischen Formen und persönlichen Themen verpflichtet.

“Der Schlaf ist eine Fontäne.
Versteinernd. Der Schläfer nickt ein,
Die ferne Hand wird ihm Lehne,
Er selber zum farbigen Stein.”

Die beiden hier enthaltenen Lyrikbände Cocteaus, “Opera” und “Choral”, sind die frühsten lyrischen Arbeiten. Das erste, Opera, ist ein ziemlich wüster Zusammenschnitt aus Gedichten, Prosaskizzen und 3-4 sehr kurzen Dialogen; es sind allesamt Farbengemische, Spielereien, unter dem Einfluss von Opium und surrealistischen Ästhetikansätzen entstanden. Ihre große Bilderkraft, ihre Spektraltiefe und ihre schwimmende Leichtigkeit, sind sehr konträr gesetzt zu den teilweise sehr bizarren Windungen, die vor allem die Prosaskizzen aufweisen. Vieles wird wild durcheinander geworfen, verfremdet und gleichzeitig assoziiert. Wer Opera lesen will, wird sich wahrscheinlich vorkommen, als hätte man ihn mit Poesie übergossen. Wiederum: einige wunderbare Bilderflecken wird man so leicht nicht mehr aus dem Mantel seines Gedächtnisses herausbekommen.

Die Zusammenstellung für “Opera” entstand in einen Sommer, den Cocteau im Hotel Welcome an der Côte d’Azur verbrachte. Er schrieb sehr viele Gedichte und nur wenige, die gelungenen, wählte er dann für “Opera” aus, sodass dieser Band mehr eine Collage, ein Magazin, ein Lesebuch darstellt, eine Verbindung heterogener Ideen und Ansätze.

“Choral”, der zweite Band, geht in eine ganz andere Richtung. Er setzt sich aus homogenen, strengen Versen zusammen; in der Mitte wandelnd zwischen Tradition und seinen eigenen kreativen Heimsuchungen, hat er mit diesen Liebesgedichten an seinen Freund Raymond Radiguet eine tief zerrissene Poesie der Sehnsucht und der Vereinnahmung erschaffen, ein Sinnbild, das in Schwarz und Weiß, gleichsam Verlangen und Vergehen, Liebe und Tod, zeigt; das Buch erschien kurz vor Radiguets Tod an Typhus im Jahr 1922. Es ist ein Bekenntnis und ein zutiefst menschliches Werk.

“Wir müssen uns beeiln, die Zeit verrinnt ja bald,
Lass uns Enthaltsamkeit und Ruhedurst verneinen.
In ein paar Tagen, da wirst du noch jung erscheinen,
Ich jedoch nicht. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt.”

Cocteaus Gedichte sind eine Sache für sich, wie so oft bei französischen Dichtungen. Ihre Triebfeder und ihren Glanz, stellen nur die Gedichte selbst, mit ihrer nie endenden Suche in den Schatten. Einzigartig bildervoll und bilderscheu, dabei immer wieder unwillkürlich, in Farbengemischen zwischen Tiefschwarz und “Sonnenlichtdurchpiniennadelnmandelgelb” wandelnd, so bewegt sich Cocteaus Lyrik. Manche werden meinen, dass solche Dichtung uns nichts wirklich zu sagen hat; doch andere halten dagegen: Immer wieder aufs Neue hat sie uns etwas Neues zu sagen.

“Der Himmelsbaum war mein, Gewächs von Adernschlingen.
Wo Stille als Musik aus Bambusflöten dringt,
Wollen Chinas Henker mich gleichwohl zum Schweigen bringen
Und streicheln zart den Tod, damit es auch gelingt.”
[…]
Ich sang, die falsche Uhr der Zeiten zu betrügen,
Auf mannigfache Art.
Das hat vorm Drang der Gewohnheit Lob zu lügen
Und noblem Eis bewahrt.”

Link zum Buch

Kurze Replik zu “Faust”. Ein Werdender wird immer dankbar sein!


“Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter

Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?

Wer sichert den Olymp? Vereinet Götter?

Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.”

 Faust, das nur in Reimen vorgebrachte Werk, ist sicherlich immer noch und immer wieder eine der größten literarischen Erfahrungen überhaupt. Und wirklich, ganz im Gegensatz zum Vorurteil, ist es amüsant und gut zu lesen; es steckt das Wahre drin, sowie die Passion, die Klugheit und die Dummheit, der Glanz und der Verlust.

 Faust will erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Trotz seines weit gefächerten Studiums fühlt er sich nach wie vor immer noch am Anfang und die Vergeblichkeit hüllt ihn des Öfteren ein, macht ihn gar fast zum Misanthrop:

“Ja, eure Rede, die so blinkend sind,

In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,

Sind unerquicklich wie der Nebelwind

Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!”

 

“O glücklich, wer noch hoffen kann

Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!

Was man nicht weiß, das brauchte man,

Und was man weiß, kann man nicht brauchen.”

 Helfen kann ihm wohl nur noch Mephisto, Luzifer, der Teufel persönlich, der sich in einer legendären Passage vorstellt, die weder Komik, noch große Dichtung entbehrt und die wahrlich jeder kennen sollte:

“Faust  : “Nun gut, wer bist du denn?

Teufel :  Ein Teil von jener Kraft,

  Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Faust  : Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?

Teufel : Ich bin der Geist, der stets verneint!

[…]

  Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,

  Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, “

Der Faust ist weniger Geschichte – er ist eine bloße, sprachliche, lyrische, melancholische, tiefe Erfahrung, ein Feuerwerk aus Reim und Sinn. Ihn einmal zu lesen, heißt noch nicht, die Geschichte zu verstehen, alle Kniffe, Anspielungen und Rätsel zu finden und zu begreifen. Doch schon die einmalige Lektüre schafft ein begnadetes Gefühl des unermesslichen Spiels, das Goethe in dieses Werk gewoben hat. Und so heißt es dann auch:

“Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt,

Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.

Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen,

Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein;

Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;

Ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Ja, ein Werdender wird in der Tat für dieses Buch dankbar sein…

Zu den großartigen Erzählungen von Julio Cortázar


Die Nacht auf dem Rücken Julio Cortázar, geb. 1914 in Brüssel, gest. 1984 in Paris, war, trotzdem er in Europa geboren wurde und starb, einer wichtigsten südamerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Für mich ist er, vor allem aufgrund seiner Kurzgeschichten, eines der erstaunlichsten Phänomene in der Welt der Literatur.

Wegen dieser Kurzgeschichten wurde er u.a. auch der “Südamerikanische Kafka” genannt. Einige seiner Prosastücke haben in der Tat eine kafkaeske Note: die Bedrohlichkeitsszenarien und Unwägbarkeiten ähneln denjenigen, mit denen sich Kafkas Figuren konfrontiert sehen, auch die Sprache hat manchmal etwas von der fachlichen und gleichsam präzis-lebendigen Substanz, die die Sprache Kafkas auszeichnet.

Doch bei all diesen Ähnlichkeiten sind Cortázars Erzählungen ungleich phantastischer und durchzogen von mythischen und übernatürlichen Elementen und arbeiten auch dezidierter mit Spannungsbögen, Suspense und Drastik. Aus den Winkeln seiner Plots schleicht das Unbehagen nicht herbei, es liegt dort auf der Lauer, bereit zum Sprung, die Muskeln gespannt. Andere Texte beginnen mit Situationsanordnungen, die zunächst irritierend wirken, sich dann aber immer mehr wie eine schreckliche oder zumindest zwingende Realität anfühlen. Kaum ein Autor hat es wie Cortazar geschafft, die Gesetze des Daseins in seinen Erzählungen zu modifizieren, ohne die phantastischen Elemente dabei allzu weit von den Spannungsfeldern der Wirklichkeit zu entfernen – von seinen Fiktionen zuckt so mancher Blitz zu den den realen Emotionen Angst, Verwirrung, Begierde, etc. herab.

Doch Cortázars Texte bieten nicht nur Albtraumhaftes und Bizarres (weitere Verwandtschaften sind hier Edgar Allen Poe und Mary Shelley), sondern auch Berührendes, Tieftrauriges und Komisches und manche Geschichte ist schlicht ein Spiel mit der Perspektive und den allgemeinen Erwartungen der Lesenden. Dieses metaexperimentelle Element wird vor allem in seinem bekanntesten Roman „Rayuela“ deutlich, der aus Kapiteln besteht, die man in unterschiedlichen Reihenfolgen lesen kann.

Der Kosmos seiner Motive speist sich gleichsam aus europäische wie aus südamerikanischen Kontexten. Allein wegen dieser Vielfalt sind seine Kurzgeschichten sehr lesenswert. Bei Suhrkamp gibt es vier Bände mit gesammelten Erzählungen – ein Werk mit dem man sich sein Leben lang beschäftigen kann.