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Zu einer Auswahl aus Katherine Mansfields Tagebüchern


Fliegen wirbeln tanzen Eines der ersten Bücher, die ich auf einem Flohmarkt kaufte, war eine vollständige Ausgabe der Tagebücher von Katherine Mansfield, herausgekommen bei der Deutschen Verlags Anstalt 1975. Hätte ich sie damals doch aufmerksamer studiert und nicht nur nach Anekdoten und Frivolitäten abgesucht! Hier hätte ich vielleicht, in der Jugend, Linderung für die Auseinandersetzungen mit meinen Gefühlen gefunden.

Denn derlei begegnet einem bei Katherine Mansfield in Hülle und Fülle: ein Bekenntnis der Gefühle, vom tiefsten Sturz & härtesten Boden bis zur großen Leichtigkeit & hohem Flug. Der Titel des Auswahlbandes bei Manesse „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben“ ist daher gut gewählt, er fängt ein wie bewegt diese Notate sind – wenngleich die vier Begriffe vielleicht etwas zu positiv besetzt sind.

Das Leben der Katherine Mansfield war kein leichtes, nicht nur, weil sie mitunter rücksichtslos gegen sich selbst war, sondern auch weil sie ein freieres und ungezwungeneres Leben führen wollte, als es den meisten Frauen damals möglich war. Immer wieder versuchte sie „ihrer Seele das Sklavische auszutreiben“, geriet dabei aber in Konflikt mit den Erwartungen anderer und auch mit ihren eigenen Ansprüchen, deren steten Wandel man in den Tagebüchern miterleben kann.

„Solange Menschen leben und sterben, werden diese Stücke relevant sein“, hat Harold Bloom über die Stücke Shakespears gesagt. Und solange Menschen zwischen Konventionen und Gefühlen, Ideen und Enttäuschungen ihr Dasein fristen, solange werden die Tagebuchaufzeichnungen von Mansfield von Bedeutung sein und vielleicht Trost spenden, vielleicht auch nur zeigen, wie recht man hat sich „verwundet zu fühlen von Umständen, die nicht vergehen wollen.“

Zu “Frankenstein” von Mary Shelley


Frankenstein Wer glaubt in diesem Buch lediglich einem Monster und seinem Schöpfer zu begegnen, der wird schnell eines Besseren belehrt werden. Vielmehr ist Mary Shelleys Klassiker ein Buch über eine zutiefst von ihrer ausweglosen Existenz gepeinigte und von dieser Ausweglosigkeit getriebene Seele – und damit auch eine Geschichte des Menschen. Frankensteins Geschöpf ist ein Prototyp, ein Stellvertreter für das Dilemma des homo sapiens, einer zum Denken und komplexeren Empfinden verdammten Kreatur.

„Frankenstein“ gehört zu den Büchern, die in der Literaturgeschichte mehr durch ihre Bezüge verankert sind und weniger, weil viele Leute sie noch lesen. Das ist traurig, denn dieses Werk (das die Autorin mit 19 Jahren schrieb, in jenem Jahr, in dem wegen eines Vulkanausbruchs der Himmel verdunkelt blieb) ist ein exzellentes Beispiel für jene Variante des Roman, in dem komplexe Fragen erschlossen werden, aber im Zuge eines konstanten, mit Elementen der Spannung vorangetriebenen Narratives und nicht, wie später in den Romanen der Moderne, durch Verfremdungen und Modifikationen dieses Narratives.

Natürlich gibt es jede Menge spannende Kontexte, bei denen das Buch nach wie vor regelmäßig herbeizitiert wird: von den Gefahren der künstlichen Intelligenz, über die Frage nach dem Zusammenhang von Glück und Schönheit/Attraktivität und Fragen der Willensfreiheit, bis zur generellen Frage, ob der Mensch sich erdreisten kann, schöpferisch in die Natur einzugreifen, ohne möglicherweise etwas zu erschaffen, das ihn zu zerstören vermag.

Die neue Edition bei Manesse enthält ein gutes Anmerkungsverzeichnis und ein kluges, wenn auch mitunter etwas zu determinierendes Nachwort von Georg Klein. Das kleine, gebundene Format lädt darüber hinaus dazu ein, das Buch mit sich herumzutragen und den Bericht des Dr. Frankenstein bei allen kleinen Gelegenheiten hervorzuziehen und ihm weiter zu folgen.

Zu “Mardi und eine Reise dorthin” von Herman Melville


Mardi oder die Reise dorthin Herman Melvilles „Mardi“, zu seinem zweihundertsten Geburtstag bei Manesse neu aufgelegt (vorher 1997 erstmals in der ACHILLA-Presse), erschien ursprünglich zwei Jahre vor „Moby Dick“ und ist wohl das einzige von Melvilles Werken, dass es an Umfang und Kühnheit mit seinem Meisterwerk aufnehmen kann.

Gleichsam stellt es auch eine Art Vorarbeit zu „Moby Dick“ da, einen Übergang zwischen den launig-abenteuerlichen, stark autobiographischen Südseeeskapaden seiner beiden früheren Romane „Typee“ und „Omoo“ (für manche Interpret*innen ist „Mardi“ eine umfangreichere und ausgefeiltere Version von „Typee“) und der philosophisch-unterlegten Stilvielfalt von „Moby Dick“. Melville selbst schrieb im Vorwort:

„Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann.“

Inhaltlich ist das Buch im Prinzip eine einzige große Fabelei, ein Beispiel für jenes unbändige Erzählen, das meist mit den frühen Zeiten des Romans und/oder mit einigen frühen Beispielen amerikanischer Literatur assoziiert wird, bspw. mit Miguel de Cervantes „Quijote“, den Werken von Francois Rabelais und Laurence Sterne, bzw. Walt Whitmans „Grashalme“ oder Edgar Allen Poes einziger Roman „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“.

Zwar beginnt das Werk noch harmlos, mit einem Walfänger und einer Flucht, doch schon nach etwa hundert Seiten fängt die Handlung an, sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit kontinuierlich selbst zu überrumpeln, abzuschütteln. Zahllose Charaktere und unzählige Schauplätze tummeln sich auf den folgenden sechshundert Seiten und in jeder seiner 169 Szenen ist das Buch schon auf dem Sprung zur nächsten. Neben größeren philosophischen Abschweifungen ergeht sich das Buch hier und da auch in satirischen Einlagen, Sagen- und Märchenkosmen werden aufgeworfen und wieder eingestampft, alle paar Seiten eine neue Wendung, beseelt von allerhand.

Es gibt wenige Bücher, mit denen man wirklich eine Reise ins Ungewisse, Unentdeckte, teilweise ins Unergründliche antreten kann, aber „Mardi“ ist eines dieser unbändigen Literaturereignisse, die einen daran erinnern, das dem Erzählen eigentlich keine Schranken gesetzt sind und den Erzähler*innen bis heute alle Mittel, von Willkür bis zu Psychologie, zur Verfügung stehen. Melville schöpft grandios aus dem Vollen, dennoch ist das Buch streckenweise auch eine Zumutung, eine schillernde und beeindruckende, voller Pathos, der heute undenkbar wäre, aber gerade deshalb eine gewisse Anziehung besitzt, wenn man sich darauf einlässt.

Großartig und auf jeden Fall das Anmerkungs- und Fußnotenverzeichnis, das das Buch erst zur Gänze für heutige Leser*innen zugänglich macht. An die 600 Fußnoten hat der Übersetzer Rainer G. Schmidt dem Werk beigefügt, die Begriffe erklären und Spekulationen zur Lage von Orten beitragen – und vieles mehr. Mit einem solchen Kompass kann man sich getrost auf das Abenteuer einlassen!

Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.

 

 

Zu der Ausgabe der Gesammelten Erzählungen von Eduard von Keyserling


landpartie Eduard von Keyserling, der vor fast genau 100 Jahren starb, gilt als einer der wenigen bedeutenden spätnaturalistischen (oder impressionistischen) Schriftsteller. Seine bedeutendsten erzählerischen Werke diktierte er in den Jahren 1903-1918, erblindet und an verschiedenen Gebrechen leidend, seinen Schwestern in der Abgeschiedenheit seines Hauses. Wer mehr über sein Leben vor dieser Zeit wissen oder zumindest einen Eindruck bekommen will, dem empfehle ich die fiktive Biographie von Klaus Modick („Keyserlings Geheimnis“).

Ich mochte Keyserling schon immer, weil er eine sehr angenehme, aber durchaus hintergründige Art zu Erzählen hatte – ein bisschen erinnert er dann und wann an Tschechow. Eine weitere Gemeinsamkeit: Auch Keyserlings Werk besteht vor allem aus längeren Erzählungen und Novellen. Diese neue Ausgabe kann sich rühmen, wirklich alle bedeutenden Erzählungen zu versammeln – sie kann allerdings nicht vollends konkurrieren mit einer Ausgabe, die 1998 bei Heyne erschien („Harmonie. Romane und Erzählungen“) und die neben vielen wichtigen Erzählungen auch die längere Novelle „Wellen“ enthält, sowie die Romane „Dumala“ und „Feiertagskinder“.

Trotzdem lohnt es sich, diese neuere Ausgabe anzuschaffen, vor allem, weil sie nicht ganz so wuchtig ist wie Ausgabe von Heyne. Wer auf der Suche nach einer malerischen und dennoch feinsinnigen Lektüre ist, der kann mit Keyserling nichts verkehrt machen. Seine Geschichten über den alten Adel, die Leichtigkeit und Schwere der kleinen Missverständnisse und großen Gefühle, die er mit vollendeter Schlichtheit skizziert, sind von bleibender Eleganz und auch heute noch, als Seelenerkundungen, sehr stimmig.

Liste der enthaltenen Texte:

Nur zwei Tränen
Mit vierzehn Tagen Kündigung
Das Sterben. Ein Sommerbild
Grüß Gott, Sonne!
Grüne Chartreuse
Die Soldaten-Kersta
Der Beruf
Schwüle Tage
Harmonie
Sentimentale Wandlungen
Im Rahmen. Skizze
Seine Liebeserfahrung
Gebärden
Die sentimentale Forderung
Osterwetter
Die Verlobung
Geschlossene Weihnachtstüren
Frühlingsnacht
Landpartie
Bunte Herzen
Föhn
Winterwege
Prinzessin Gundas Erfahrungen
Am Südhang
Nachbarn
Die Kluft. Zwei Dialoge
Das Landhaus
Vollmond
Schützengrabenträume
Nicky
Verwundet
Der Erbwein
Pfingstrausch im Krieg
Das Kindermädchen
Das Vergessen
Die Feuertaufe
Im stillen Winkel

Zur neuen Ausgabe der “Göttlichen Komödie” beim Manesse Verlag


Göttliche Komödie Immer wieder habe ich in verschiedenen deutschen Übersetzungen von Dantes Göttlicher Komödie gelesen und eines ist klar: schöne Übersetzungen gibt es viele. Die Dante-Gesellschaft zählt bis heute 52 vollständige Übersetzungen, beginnend 1767 mit Lebrecht Bachenschwanz Prosaübertragung und endend bei den Prosa-Übersetzungen von Kurt Flasch und Hartmut Köhler in den letzten Jahren (2011 bzw. 2012). Die ganze Liste kann hier eingesehen werden: http://dante-gesellschaft.de/dante-alighieri/divina-commedia/

Ida und Walther von Wartburgs Übertragung aus den frühen 60er Jahren gilt durchaus als eine der klassischsten. Einen großen Vorteil bietet die Manesse-Ausgabe mit dieser Übersetzung allerdings vor allem wegen des sehr umfangreichen Kommentars, den Walther von Wartburg zu jedem Einzelnen der 100 Gesänge verfasst hat und der einen mit Erläuterungen, Hinweisen und Hintergründen versorgt. Während ich bei der Übersetzung nicht immer sicher war, welche ich vorziehen soll und welche am adäquatesten (oder schlicht schönsten) ist, hat sich dieses tausendseitige Ausgabe aufgrund des Kommentars als die beste Art und Weise erwiesen, sich Dantes Meisterwerk zu nähern.

Ich denke nicht, dass man zur Commedia selbst etwas sagen muss. Es ist ein einmaliges, in vielen Belangen großartiges Werk, das an einigen Stellen eine berauschende Schönheit, an anderen eine überzeitliche Klugheit besitzt. Wer sich dem Werk nähern und sich zur Lektüre angeregt sehen will, dem kann ich Roberto Benignis „Mein Dante“ oder die wunderbaren Essays in Jorge Luis Borges „Letzte Reise des Odysseus“ empfehlen. Auch einige Abschnitte aus Alberto Manguels „Geschichte der Neugierde“ drehen sich um dieses epische Gedicht, das im Übrigen die italienische Sprache zur Schriftsprache machte und vom Latein loseiste.

Wer sich dieses Buch noch nicht vorgenommen hat, bei wem es nicht zumindest auf der Longlist steht, an den möchte ich auf jeden Fall appellieren: schaut mal rein. Oft schlägt einen das Buch schon mit dem Prolog in seinen Bann oder beim Lesen in einem x-beliebigen Kapitel. Für wen Terzinen nichts sind, der kann zu einer der Prosa-Übersetzungen (bspw. die von Flasch) greifen, wer es pompös mag, dem würde ich zu einer Ausgabe mit der Übersetzung von Philalethes raten. Und wer sich nicht ohne Beiwerk herantraut, dem sei diese Ausgabe hier wärmstens empfohlen.

Zur Anthologie “Die Flügel meines schweren Herzens” mit Lyrik von Frauen aus dem Arabischen


Die Flügel meines schweren Herzens Besprochen auf Fixpoetry