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Zu “Milchzähne” von Helene Bukowski


Milchzähne Helene Bukowskis Debüt, das kann man direkt vorwegnehmen, ist eine Geschichte, die noch lange nachwirkt, deren Bildwelten einen tiefen Eindruck hinterlassen. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass das Inventar aus einem verdichteten Mikrokosmos an Schauplätzen und Figuren besteht, denen in manchen Fällen der Hauch einer mythischen Dimension anhaftet (auch wenn ich nicht ganz zustimmen kann, dass Bukowski ein „modernes Märchen“ geschrieben hat, wie ein Kommentar auf der Buchrückseite nahelegt, auch wenn die Erzählung reizvolle Ansätze in diese Richtung vorweisen kann).

Im Zentrum des Romans steht Skalde, eine junge Erwachsene, als Kulisse genügen größtenteils ein Haus und der von einer (vermutlich klimatisch bedingten) Katastrophe verheerte Landstrich drum herum. In dem Haus wurde Skalde von Edith großgezogen, hier lebt sie mit ihr allein – in der Gegend gibt es allerdings weitere Gehöfte und Häuser und Gruppen/Individuen, die im lockeren Kontakt stehen und miteinander handeln. Zwar gibt es noch einige Überbleibsel der einstigen, technologisch-entwickelten Wohlstandsgesellschaft und teilweise noch intakte Natur, doch größtenteils ist das Leben in der „Gegend“ ein mit Agonie durchsetztes durch-den-Tag-kommen, ausweglos und heruntergeschraubt. Begrenzt wird die Gegend von einem Fluss, den niemand überqueren darf, denn von der anderen Seite kam immer nur Übles.

In den eh schon fragilen Status Quo aus menschlichen und metaphysischen Perspektiven platzt eines Tages das junge Mädchen Meisis. Skalde nimmt sich ihrer an, doch die Haarfarbe und das plötzliche Auftauchen des Mädchens sorgen schon sehr bald für große Unruhe in der Gemeinschaft und auch in Skaldes eigenem Haus. Vertrauen bricht weg, offene Feindseligkeiten und Aberglaube kommen auf. Stück für Stück spitzt sich die Situation zu, bis ein Bleiben schier unmöglich scheint …

Helene Bukowskis Sprache wirkt schlicht und wesentlich, in ihr lauern jedoch karge und kryptische Serifen. „Milchzähne“ ist zum einen eine gut erzählte Geschichte, aber zum andern auch ein kontinuierlich ausgebautes Rätsel, in das sich die Leser*innen mitverstricken lassen, während sie das Buch lesen. Immer wieder werden Dinge preisgegeben, angedeutet, scheinen nur ein um-die-Ecke-Denken weit entfernt zu sein. Und doch bleiben Stimmung und Atmosphäre des Buches bis zuletzt geheimnisumwittert, auch wenn sich manche Dinge als vermeintlich klar herauszustellen scheinen und man nie das Gefühl hat, diese Atmosphäre sei etwas Vermeintliches.

Gerade diese Ambivalenz macht das Buch zu einer so eindrucksvollen und nachhaltigen Lektüre. Denn sie ist nicht nur Treibstoff und Reiz der Geschichte, sondern lädt dazu ein, sich die beschriebene Welt bis ins kleinste Detail zu vergegenwärtigen und vorzustellen (wenn auch nur in der Hoffnung, so auf ein wichtiges Indiz zu stoßen). Das sorgt für ein dichtes Lesevergnügen und man stößt in vielen kleinen Teilen der Erzählung auf Dinge, die zu größeren Überlegungen Anlass geben oder zumindest die allegorischen Aspekte von „Milchzähne“ hervorheben, vertiefen. Alles in allem: ein spannendes Buch!

Zu Michael Endes “Das Gauklermärchen”


Gauklermärchen “WILMA:
Die Leut’ sind abgebrüht durch größ’re Sensationen.
Wer bei uns lacht, lacht uns im Grund nur aus.
LOLA:
Wo alles nützlich sein muss und sich lohnen,
Gibt’s für bescheid’ne Wunder nicht Applaus.”

Die Reste einer Zirkustruppe, auf einem Feld vor einer Chemiefabrik, umgeben von Baggern und Kränen, die morgen hier eine neue Fabrikhalle errichten sollen, ganz egal, was dann noch im Weg steht.

Der Clown der Truppe kommt mit einem Angebot der Chemiefirma: sie werden angestellt als Werbeattraktion, müssen sich aber dafür von dem kleinen Mädchen Eli trennen, das sie einst nach einem Chemieunfall in einer anderen Stadt aufgelesen und aufgepäppelt haben. Die Truppe hadert: Sollen sie den Vertrag unterschreiben? Während das Angebot, das zugleich ein Ultimatum ist, überdacht wird, erzählt der Clown Jojo Eli ein Märchen, in dem sowohl sie als auch er und am Ende die ganze Zirkustruppe vorkommen …

1982 hat Michael Ende dieses kleine Märchenspiel zum ersten Mal veröffentlicht, also bald vor 40 Jahren. Die Motive der Gaukler- und Traumerzählung haben über die Zeit nichts von ihrer Bedeutsamkeit verloren. Geschickt beschwört Ende die Nostalgie der harmlos-freudigen Zirkusunterhaltung, um dann Bild für Bild eine noch größere Geschichte über die Macht der Phantasie und das Glück des Einanderfindens und -habens aufzuziehen.

Ich muss zugeben, dass mir Endes Märchen bei aller Begeisterung in einigen Momenten etwas plakativ vorkam, vielleicht wegen der Kürze, aber wohl auch, weil die Botschaft zwar wichtig und schön ist, aber sehr einfach dargestellt wird; andererseits: es ist ja immer so eine Frage, ob man einen Theatertext liest oder ihn aufgeführt sieht. Gelungen finde ich, wie die Dialoge, sobald in die Traumwelt gewechselt wird, nur noch aus Reimen bestehen, das bringt immer wieder einen guten Schwung in den Text und stellenweise hat er dadurch einen angenehmen Witz.

Letztlich ist dies ein Stück, das jeder/m, der/die gerne träumt und an bessere Zeiten und Welten glaubt, etwas bedeuten wird. Es ist kein Plädoyer, hat aber durchaus etwas von einem Aufruf zu Solidarität, Vorstellungsvermögen und Widerstand. Im Kern ist es weniger große Literatur als vielmehr eine gelungene Herzensangelegenheit – was manchmal vielleicht noch wichtiger ist als große Literatur (das eine schließt das andere selbstverständlich auch nicht aus).

“Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten?
Du meinst, dass Phantasie nicht wirklich sei?
Aus ihr allein erwachsen künftige Welten:
In dem, was wir erschaffen, sind wir frei.
[…]
Weißt du dich selber nur von Zwang getrieben?
Nur wo wir frei sind, können wir auch lieben!”

Zu Richard Brautigans “In Wassermelonen Zucker”


In Wassermelonzen Zucker

Ich glaube, Sie sind neugierig darauf, zu erfahren, wer ich bin, aber ich bin keiner von denen, die einen richtigen Namen haben. Mein Name hängt von Ihnen ab.
Vielleicht war es ein Spiel, das sie als Kind gespielt haben, oder etwas, das ihnen einfach so und ohne jeden Grund eingefallen ist, als Sie alt waren und in einem Sessel am Fenster saßen.
Das ist mein Name.
Vielleicht haben sie lange in einen Fluß geschaut. Neben ihnen war jemand, der Sie liebte. Er wollte Sie berühren. Sie spürten es, bevor es passierte. Dann passierte es.
Das ist mein Name.
Oder sie hörten jemand aus großer Entfernung rufen. Seine Stimme war fast ein Echo.
Das ist mein Name.
Vielleicht war es um Mitternacht, und das Feuer schlug wie eine Glocke im Ofen.
Das ist mein Name.

Richard Brautigans dritter Roman war noch eine Spur phantastischer als seine ersten beiden, leicht hippiesken und anarchischen Werke „Forellenfischen in Amerika“ und „Ein konföderierter General uns Big Sur“. Vor allem allegorischer.

Im Prinzip hat “In Wassermelonen Zucker” etwas Märchenhaftes. Eine sehr einfache, ins Poetische sich verzweigende Sprache, ein ganz schlichter und doch individueller Ton, Brautigans erquicklich-sanfte Poesie, trägt das Buch. Die Handlung ist in sehr kleine Kapitel aufgeteilt, meist nur eine oder zwei Seiten lang.

Passieren tut eigentlich nicht viel. Man begleitet den Hauptcharakter, der keinen Namen hat (siehe Zitat oben) durch die Welt von „iDEATH“ und „Wassermelonen Zucker“, einem scheinbar paradiesischen Ort voller kleiner Flüsschen, in dem eine kleine Gemeinschaft lebt und es ein paar angenehme Beschäftigungen gibt. Eine ganzheitliche Harmonie scheint den Ort auszumachen, zu umgeben und zu durchdringen und doch ist diese Harmonie auch auf das Wesentliche reduziert. Da sin aber auch die vergessenen Dinge, Margaret und die Tiger …

Eigenbrötlerisch, utopisch, zynisch: alles Elemente dieser heiteren Idylle. Nie wieder ist Brautigan ein so leichtes Stück Prosa geglückt, außer vielleicht in manchen Geschichten aus dem „Tokio-Montana-Express“.

Die langen Spaziergänge, die ich nachts mache. Manchmal stehe ich stundenlang an einer Stelle und rühre mich so gut wie gar nicht (ich habe es schon erlebt, dass sich der Wind in meiner Hand niederließ).

Was bleibt ist eine Erzählung mit der Essenz eines tiefschürfenden, aber zarten Gedichts, eine magische Geste ist dieses Buch und doch scheitert jede Beschreibung vor der Eleganz und Unwirklichkeit dieses kleinen Juwels. Da es vor allem durch seine Unwillkürlichkeit funktioniert, ist es sicher nicht für jeden geeignet. Wer eine klare Handlung, ein klares Narrativ braucht, für den ist dieses Buch nicht das richtige (und Brautigan nicht der richtige Autor). Denn es hält sich mit Details und Spielereien, Flüchtigkeiten und Ideen auf und wenn die Handlung dann doch vorangeht, geschieht dies meist ganz unspektakulär.

Wer sich für eine kurze Weile auf einen poetischen Ort zwischen zwei Buchdeckeln einlassen will, der greife ohne Bedenken zu.

Zu Amélie Nothombs neustem Streich “Töte mich”


Es ist, und dies sei vorweg festgehalten, nahezu immer ein Vergnügen für mich, Amélie Nothomb zu lesen. All diese Novellen und kleinen Romane, die sie über die Jahre herausgebracht hat, reihen sich in meinem Bücherschrank. Für ihre stärksten Werke halte ich noch immer die autobiographischen wie z.B. “Der japanische Verlobte” oder die großartige “Biographie des Hungers” oder das bekannte “Mit Staunen und Zittern”. Sie haben etwas Lebendiges an sich, das mich immer wieder heiter stimmt und es gibt nur wenige Bücher, die das wahrlich vermögen; das meiste, was an Literatur fröhlich und heiter stimmen soll, deprimiert mich eher maßlos.

Was nun die anderen Bücher angeht, die erwähnten Novellen und Romane, so haben sie eins gemeinsam, und das ist ein Zug zum Ungeheuerlichen, in verschiedenen Dimensionen und Varianten. Bei “Töte mich” beginnt diese Ungeheuerlichkeit schon mit dem ersten Satz:

“Wäre ihm prophezeit, dass er einmal zu einer Wahrsagerin gehen würde, Graf Neville hätte es nicht geglaubt.”

Ein gekonnter Start, verheißungsvoll, außerdem mit einem inhärenten Witz garniert und schon der Anfang eines Persönlichkeitsbildes, famos. Die wirkliche Ungeheuerlichkeit kommt aber noch: die Wahrsagerin prophezeit dem Grafen, dass er bei dem alljährlichen Fest auf seinem Schloss einen Gast töten wird. Dabei wollte der Adelige doch nur seine entlaufende 17-jährige Tochter bei ihr abholen, die nachts davongelaufen war und von der Wahrsagerin aufgelesen wurde. Und nun, völlig aus dem Nichts, ruiniert sie sein großes Fest!

“Nicht umsonst war die Garden Party auf Le Pluvier seit so langer Zeit das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis in den belgischen Ardennen. Hier durfte man sich für einen Sonntagnachmittag als Mitglied eines phantastischen Zirkels fühlen, den man zurecht als nobel bezeichnete, hier ergab der erhabene Vers “O Zeiten, o Schlösser!” und das Leben wurde zu einem graziösen Tanz mit geheimnisvollen schönen Damen, deren winzige Füße kaum den Rasen der Gärten berührten.”

Dem Grafen liegt sehr viel an diesem Ereignis, er ist sehr stolz darauf es in der Gastgeberschaft zur Meisterschaft gebracht zu haben. Nach und nach breitet Nothomb seine Erinnerungen und seinen Seelenzustand vor uns aus, seine Vergangenheit, die Familie, die Geschichte der Partys im Garten des Schlosses von Le Pluvier. Es ist schließlich die Tochter des Grafen, die dem Vater mit einem unorthodoxen Vorschlag einen Ausweg weisen will: Töte (doch) mich. Das ist nun die vollendete Ungeheuerlichkeit und das in einer Welt, in der doch alles voller schöner Oberflächen ist …

Es ist eine der ungeschriebenen Regeln der Prosaliteratur, dass es irgendeine Form von Konflikt geben muss, weil ansonsten das Erzählen auf nichts hinauslaufen kann als auf Beschreibungen. Es ist das Bezeichnende bei Nothomb, dass sie rund um den Kern ihrer Bücher oft Landschaften der Harmonie, Eleganz und Schönheit entwirft, nicht selten Prunk und Pracht und eine wahre Freude an kleinen und ausufernden Beschreibungen jeglicher Art hat, und doch die größten Ungeheuerlichkeiten zum Kernkonflikt macht.

Mord in allen Varianten, exzessive psychologische Gewalt, Verderbtheit, Deformationen, ungewollte Übergriffe, das alles hat in ihren Büchern schon mal im Mittelpunkt gestanden. „Wenn schon Krise und Konflikt, dann richtig und mitten aus der heilen Welt heraus“, scheinen ihre Werke zu sagen. Es muss immer um große Fallhöhen gehen, die leichthändig von ihr auf dem Finger balanciert werden und in langen Dialogen auf ihre Ungeheuerlichkeit hin abgeklopft werden (lange Dialoge, in denen die Gesprächspartner*innen um die Hoheit ringen, ein weiteres Steckenpferd von Nothomb). Und fast immer gibt es eine Figur mit Manien und Anwandlungen, mit einer krummen Psyche. Immer wieder: Menschliche Abgründe, anzutreffen in zauberhaften, auf ihre Weise idyllischen Arrangements.

Dieses Spiel mit Schein und Sein, mit Perfektion und Perfidie, mit Oberfläche und Abgrund, ist ein Markenzeichen ihrer Bücher – aber selbstverständlich deshalb noch kein Gütesiegel. Und so gekonnt diese Werke auch daherkommen, so rund und genau, so glatt sind sie auch auf den ersten Blick und es bedarf wohl oft der Lektüre mehrerer Werke, um das Spiel dieser Motive vollends zu begreifen; ihre Bücher können sich daher oft nur in Nuancen und durch ihre sprachliche Wohlgefeiltheit von belangloser oder oberflächlicher Literatur abheben.

Dennoch bin ich ein starker Verfechter dieser Nuancen und sehr dafür, dass man Nothomb als Schriftstellerin mit feinem Witz und eigenem Stil begreifen kann und sie als solche würdigt. “Töte mich” stellt diese Qualitäten wieder unter Beweis: Eine Art morbides Märchen, so salopp und fein zugleich, unwillkürlich wie folgenlos. Und doch ein Buch, das inmitten seines unverfänglichen, fließenden Narratives am Abgrund segelt, Fragen nach Glück, Vertrauen und Konventionen aufwirft, und die Lesenden dabei auch noch bittersüß und spritzig unterhält.

Spurwechsel Nr. 3, besprochen


Das Thema der dritten Ausgabe der Zeitschrift „Spurwechsel“, die sich der jungen (wobei sich „jung“ nicht auf das Alter der Autor*innen bezieht, so heißt es auf der Website) Literatur verschrieben hat, lautet: „Das Tier in mir“.

Als erster Text ist ein Prosastück von Hartwig Abshagen abgedruckt, der auf ficition-writing.de schreibt und dort bei einer Ausschreibung zum Thema der Ausgabe den 1. Platz erlangte. In seiner Geschichte geht es um Krafttiere und innere Schweinehunde. Der Protagonist begibt sich seiner Freundin zuliebe, mit ihr und zehn anderen Teilnehmenden zu einer schamanischen Zusammenkunft im Wald. Nicht nur tierisch geht es dort zu, sondern auch satirisch, nicht unbedingt goutierlich.

An einer von Kalkuttas Eichen
hängt heut noch meiner Mutter Leichen.
Meinen lieben alten Vater
stieß ich in den Ätnakrater.
Im schönen Lande Liechtenstein,
da hackte ich drei Nichten klein.

Und satirisch geht es weiter, wenn Horst Reindl in seinem Gedicht eine Reise um die Welt durch mehrfachen Sippenmord würzt. Was man von dieser Verwandtschaftsreduzierung in Form einer1 Ballade halten soll, ist die eine Sache, Spaß macht das Gedicht durchaus.

Ein klassischer Topos: die vergängliche Schönheit, die nicht vergehen soll, darf. Aufbereitet in der Geschichte eines Physiotherapeuten, der sich eine junge Braut auf den Philippinen gesucht hat und nun in ihrer körperlichen Vollkommenheit schwelgt. Bis dann … nun ja, das sei nicht verraten, aber man kann dem Text von Ortrud Battenberg durchaus ein paar Geschmacklosigkeiten ankreiden. Andererseits: es geht ja nicht darum, die Welt so darzustellen, wie sie sein sollte, sondern so wie sie ist, mit den seltsamen Tieren bevölkert, die wir sind und mit dem Tierischen, das wir in uns haben. Oder so ähnlich, in jedem Fall: der Text wirkt etwas zu selbstverständlich.

Ulli B. Laimers Werwolfblues ist eigentlich kein Blues, vielmehr eine tragische Notenfolge, die versucht spitz zu sein, aber eher flach ist; ein Heulen Richtung Mondsüchtigkeit. Danach kann man sich auch nicht besser in einen Werwolf hineinversetzen. Ich muss wohl wieder zu Christian Morgenstern greifen.

Am oberen Rand der Seite sind immer die jeweiligen Textkategorien angegeben, meistens steht dort „Prosa“ oder „Lyrik“ aber es gibt auch andere Rubriken, zum Beispiel den „Warentest“, wo ein Buch rezensiert wird. Die erste Rezension des Bandes gilt dem Autoren-Handbuch von Sylvia Englert, über das die Rezensentin Beate Loddenkötter u.a. schreibt:

Selten habe ich ein Sachbuch mit so viel Freude und Interesse gelesen. Und selten so schnell.

Ein Biedermeiersofa als Verkuppler – das glauben sie nicht? Probieren sie es vielleicht mal mit etwas mehr Gemütlichkeit. Oder mit Olga Baumfels Erzählung. Da tobt der Mensch und steppt das Sofa, bevor es dann zum glühend-glucksenden Happy End kommt. Die beiden kriegen sich! (also: nicht das Sofa und der Wüterich). Etwas abgewetzt, das Ganze.

Ich warte auf dich, denn du bist für mich all mein Glück, so heißt es in einem alten Schlager. Auch die Protagonistin von Dörte Müllers Text wartet; heute regnet es auch noch und bei so einem Sauwetter muss man herumstehen und warten. Auf was eigentlich? Auf eine etwas dürfte Pointe, wie der Lesende findet.

Ein Vergewaltiger, der tagsüber als Maler arbeitet und sich bei seinen Arbeitsplätzen seine Opfer sucht. Ein Tier, voller Gelüste, aber berechnend, vorsichtig, sorgfältig planend, von Kerstin Brichzin ohne Pardon gezeichnet. Und dann tritt diese rothaarige Schönheit auf. Erst wird ihr grapschender Kollege überfahren, dann die Tat selbst geplant. Aber, Moment, was sagt sie da, als sie dann bei ihm im Auto sitzt!! Sie ist eigentlich ein … oh, da ist der Vergewaltiger durchaus verblüfft und bestürzt – und ich als Lesender auch, allerdings aus anderen Gründen. Ich will mich ja nicht als Moralapostel hervortun, aber all das nur für diese eine Pointe?! Das find ich schon irgendwie daneben.

Es folgt ein Gespräch mit der Comiczeichnerin Dagmar Gosejacob. Die hat einen spannenden Lebenslauf mit verschiedenen Karrierewendungen hinter sich, Chapeau! Ich bin kein Riesenfan von Kurzcomics (außer Garfield!), aber wer mag, der schaue mal auf pinkmuetzchen.de vorbei.

In dem sympathischen Text von Olaf Lahayne braucht man eine Weile, bis man begreift, dass sich dort nicht die Tiere, sondern die Käfige des Tierparks unterhalten. Eine schöne Gaudi, nicht ohne manchen cleveren Witz, ein bisschen zu verulkt hier und da, aber im Großen und Ganzen fabelhaft und mal was anderes in diesem Wust an Mörder- und Monstergeschichten.

Klaus Gottheiner greift das Thema des Heftes allegorisch auf und schreibt über das letzte Zimmer, das im eigenen Innern noch ungeöffnet ist und in dem vielleicht eine tierähnliche Gestalt umhergeht. Ein bisschen Gänsehaut kommt auf.

Deshalb liebe ich dieses postmaterialistische Zeitalter. Es geht nicht mehr um so profane Dinge wie Macht, Geld, Maschinen. Dienstleistungen sind jetzt das Wichtigste.

Was kann ein Vollmondmonster fürs Big Business tun? Eine ganze Menge, Mörder werden doch immer gesucht! Und wenn Grauen eine Rolle spielen soll … Peter Schwendeles Schilderung ist dramaturgisch optimiert und hat durchaus Biss.

Eine weitere Kategorie in den Spurwechsel-Heften ist die Blitzaktion, ein kurzfristig angefragter Kurztext zu bestimmten Themen, in diesem Heft „Gier“, „Schlaf ohne a“ und „Wildwuchs“.
Der Text zu Gier, ein knapper Dialog von Helga Strehl, ist nicht so berauschend, vor allem weil er sich früh auf eine Pointe einschießt. Der Text zum Schlaf von Ruth Gaidas kommt nicht ohne einen Alkoholismus-Witz aus. Der letzte Text von Albrecht Bothner warnt mit erhobenem, realem Finger vor den Gefahren des übermäßigen Internetkonsums, wirkt darin etwas steif.

Die Tiere in uns und den anderen, welches kommt welchem zuvor? Bis dass der Tod uns scheidet, heißt es. Bei Astra-Birgitta Heesen ist die Ehe allerdings zur Unerträglichkeit geworden. Also: ein Bootsausflug, der all die Pein verfliegen lassen soll und wird, sobald die Partnerin im Wasser dümpelt. Doch manche Demütigung reicht bis in den Tod hinein …

Monika Kühns wunderbarer Streifzug durch die Märchenwelt anhand eines magischen Museums hat mir sehr gefallen, vielleicht weil ich selber märchenaffin bin. Es ist auch deswegen ein guter Text, weil man seiner Belustigung freien Lauf lassen kann.

Dr. Silke Vogts Text über die innere Schweinehundeschule basiert auf einer netten Idee, die knappe Ausführung ist dann irgendwie vorhersehbar. Die Pointe am Ende ist allerdings ganz cool!

Amokphantasien, ausgelebt im Kopf, um die innere Bestie zu befriedigen. Der Text von Lena Obscuritas hat etwas Kompromissloses, dass schon wieder bewundernswert wäre, wenn nicht hier und da ein paar zu glatte Formulierungen und ein paar allzu inszenierte Szenen vorkommen würden. Dennoch: der Text filtert aus dem nebulösen Thema eine heftige Geschichte und begibt sich in die Welten von pubertärer Depression und Verzweiflung und auch die Problematik der Ego-Shooter-und-Action-Heldenfilm-Gesellschaft lauert darin. Aber letztlich ist das schon ziemlich Splatter und wenig anderes.

Hoffnungen, die sich einstellen, wenn eine Frau bei einem Mann Hilfe mit ihrem Exfreund erfragt. Alte Geschichte, bei Dirk Alt spielt sie an Weihnachten. Eine Story, die vor allem eines klar macht: sieh immer hinter die Fassade.

Im zweiten Warenstest geht es um Karin Peschkas „FanniPold“, die Geschichte einer Frau, die behauptet, sie habe Krebs, und in der Folge ihrem eintönigen Leben entfliehen kann. Margit Heumann beginnt die Besprechung mit dem Satz:

Eigentlich lese ich nicht gern Romane über frustrierte Frauen. Ehrlich gesagt, nervt es mich, wenn sie ihren Alltag als banal oder unbefriedigend oder langweilig bezeichnen und trotzdem jeden Tag aufs Neue ihre sogenannte Pflicht erfüllen. Von einer solchen Frau handelt dieses Buch.

Und bei Dagmar Möhring haben wir einen weiteren heimlichen Mörder, diesmal einen, der sich von der Frauenwelt verlacht und gedemütigt fühlt. Dass auch dieser Text auf eine nette Pointe hinausläuft, hätte ich wohl ahnen müssen …

Stefan Müsers ekstatische, feucht-fröhliche Odyssee, die seine Charaktere Felizian und Melody in die großen Städte der Welt und die Freuden verschiedenster sexueller Akte führt, hat einen gewissen rauschenden Reiz und eine ebensolch rauschende Albernheit. Von allen Texten in diesem Heft ist es sicher der phantasievollste, der sprachlich erquicklichste.

Den Schlusspunkt setzt ein sehr unappetitliches Gedicht von Gerhard Dick, worin einer seine Körperteile zum Verzehr feilbietet. Nicht wirklich ein Spaß.

Fazit: Viele Geschichten in dieser Spurwechsel Ausgabe laufen auf mehr oder weniger vorauszuahnende Pointen hinaus, was ich irgendwann ein bisschen leid war. Anscheinend wird das Thema „Tier in mir“ vor allem mit den düsteren Seiten der menschlichen Seele zusammengebracht, es gibt aber auch einige phantasievolle Ausnahmen. Auffällig ist, dass die Redaktion wohl eher den reißerischen Erzählungen und Szenen gewogen ist.

Ich bin nicht wirklich warm geworden mit der Zeitschrift, allerdings bot sie mir eine Abwechslung in Sachen literarischer Erfahrung und literarischer Auseinandersetzung. Wer sich für heftigere, solide geplottete Geschichte interessiert, könnte an diesem Heft seine Freude haben. Wobei ich behaupte, dass man solche Geschichten auch in einschlägigen Kurzgeschichtenforen und auf Websites von Hobby-Autoren lesen kann. Diese Einschätzung will ich nicht als eine generelle qualitative Bewertung verstanden wissen.

Zu Tolkiens drei Aufsätzen/Vorträgen in “Gute Drachen sind rar”


Man kommt J.R.R. Tolkien nicht leicht bei. 60 Jahre nach der Veröffentlichung von “Der Herr der Ringe” ist der englische Schriftsteller weiterhin fast ausschließlich als “Begründer der Fantasy” bekannt; nur manchmal taucht dahinter noch diffus eine Ahnung jenes größeren Werkes auf, an dem Tolkien sein Leben lang arbeitete und von dem die Ring-Trilogie und “Der Hobbit” nur einen kleinen Teil ausmachen: Das Silmarillion und die Geschichte von Mittelerde, die mit einer Entstehungs- und, Vorgeschichte, Religionen und Mythen, Sagen und historischen Figuren, Geschichten und Familienfehden (und vielem mehr) aufwarten kann.

Neben diesem Mammutwerk steht klein und unscheinbar Tolkiens essayistisches Werk. Es behandelt fast ausschließlich Themen, die für Tolkien selbst und auch für die Entstehung seiner Werke von immenser Bedeutung waren; es sind quasi die Puzzleteile, aus denen sich seine Inspiration zusammensetzen ließe. Trotzdem wird den Vorträgen und Aufsätzen auffällig wenig Beachtung geschenkt – was auch damit zusammenhängen mag, dass sie meist die Essenz einer sehr breiten Auseinandersetzung sind und keine einnehmende Art an den Tag legen.

Was nicht heißt, dass sie nicht interessant und lehrreich wären. Aber schon diese beiden Adjektive erschöpfen in den meisten Fällen die Reize, welche die Texte bedienen können. Sie sind weder besonders eloquent, noch amüsant oder gar unterhaltsam – mit Ausnahme des Beowulftextes, auf den ich weiter unten zurückkomme. Sie weisen eine große Umsichtigkeit auf, aber letztlich bleiben sie auf die Faszination beschränkt, die Tolkien von seiner Seite heranträgt und entfachen ein bisschen zu wenig davon im Leser, machen ihm die Dinge klar, aber gewinnen ihn wahrscheinlich nicht ganz dafür.

Dies wird vor allem beim ersten Text in diesem Band “Ein heimliches Laster” deutlich. Darin geht es um das Erfinden von Sprachen. Nachdem Tolkien schildert, wie er mit dem Thema in Berührung kam, erschöpft sich der Vortrag im Weiteren bereist in ein paar Beispielen aus seinen eigenen Kreationen. Nicht, dass dabei nicht interessante Ansätze vorkommen würden und was Tolkien zur Entstehung von Sprachen zu sagen weiß und wie sie funktionieren, ist wiederum interessant, aber selten kommt es der eigenen Erfahrung wirklich nahe.

Der zweite und längste Text “Über Märchen” ist wohl nur für die Leser geeignet, die sich erschöpfend mit diesem Genre auseinandersetzen wollen – oder für die, die einen umfassenden Einblick in dessen Etymologie erhalten wollen. Mit einer manchmal etwas umständlichen Sorgfalt nähert Tolkien sich zunächst der Definition des Märchens und grenzt es von anderen Gattungen ab; dann geht er Stück für Stück den einzelnen Elementen, die es ausmachen und seine Qualitäten sind, auf den Grund.

Das Meisterstück und schon allein ein Grund sich diese Ausgabe zuzulegen, ist der Aufsatz “Die Ungeheuer und ihre Kritiker”, eine Betrachtung und Verteidigung des Beowulf-Epos. Der Text ist zum einen ein Meilenstein in der Forschungsgeschichte des Gedichtes, den Tolkien wendet sich gegen die herkömmliche Einschätzung, dass das Gedicht nicht unter ästhetischen, sondern nur unter historisch-archäologischen oder philologischen Gesichtspunkten eine Betrachtung wert sei.
Tolkien war selbst Philologe und wusste um den großen Wert des Textes als Bruchstelle zwischen den frühen prä-angelsächsischen Sprachen und den Anfängen eines modernen Englisch. Aber er war dennoch entschlossen, die ganz eigene Schönheit des Gedichtes zu betonen und diesen Aspekt noch über den wissenschaftlichen Nutzen zu stellen und schenkte uns eine der schönsten literarischen Liebeserklärungen; von einer Auffassung durchdrungen, die es schafft, uns das Originelle und die Wirkungsart des altenglischen Textes wirklich zu zeigen und nahe zu bringen.

Tolkien war sicher nicht der geschickteste Essayist, seine Vorlieben spannen ihn manchmal allzu sehr ein und wirken sich auf den Grad der Aufschlussreichheit aus. Er verfügte über ein umfassendes Wissen und eine arrivierte Begeisterung, hat eine lebendige Beziehung zu seinen Forschungsgebieten. Das macht die Texte dieses Bandes letztlich dann doch sehr lesenswert.

Ein leichthändiges Märchen, ein wunderbarer Film: “Grand Budapest Hotel”


Dynamisch und doch erzählerisch-bedächtig – virtuos & bunt und doch wieder schlicht – eigensinnig, aber nie abstrakt. Wes Andersons Filme sind schon allein deswegen jedes Mal ein Erlebnis, weil ihre Art sich nicht ganz erklären oder in Worte fassen lässt. Egal um welch Materie er seine leichtfüßig-tiefgehenden Erzählungen spinnt, immer haftet dem Stoff die Aura des Absonderlichen, des Kuriosen an, aber auf so sanfte und kunstvolle Weise, dass die Erfahrung der Kuriosität auf eine besondere Ebene gehoben wird – eine menschliche Ebene, die Anderson jedem Ambiente, jeder Geschichte entlockt – ohne darauf verzichten zu müssen, seine Zuschauer durch vielerlei Formen von Witz, Wendung und mit einer Vielzahl von Figuren zu unterhalten.

Wenn man zum ersten Mal einen Wes Anderson sieht, sollte man sich bewusst machen, dass die leichte Apathie und Irritation, die in jeder Szene seiner Filme auftauchen kann, ein Stilmittel ist, dass seine Filme begleitet wie eine stilistische Kadenz. Natürlich kann man diese Tatsache als störend empfinden – ebenso wie den Umstand, dass seiner Handlungsführung stets eine schwer zu bändigende Fabulierfreude innewohnt, die zwar nie ausufert, aber auch nie Ruhe gibt. Wer aber gerade diese freie und unbändige Form mag, wer Filme als Orte zwischen Fiktion und Wirklichkeit, voller Möglichkeiten, Ideen und Charakteren, erleben will, die Leinwandwelt als eine den Gesetzen der Realität leicht entzogene Chance zur Schönheit sehen kann, als Möglichkeit über die Wahrheit, die Liebe und viele andere Dingen mit einem gewissen Anstrich von Phantasie zu erzählen, die diese Entitäten nicht verschleiert, sondern sie im Gegenteil manchmal noch besser einzufangen versteht, der wird sich in diesem und wohl auch in jedem anderen Wes Anderson Film sehr wohl fühlen.

“Grand Budapest Hotel” ist in gewissem Sinne ein Krimi, aber auch eine Hommage an die goldenen Jahre Europas, vor und zwischen den Weltkriegen; ein Märchengebäude, gebaut aus lauter echten Kultur- und Historienbruchstücken, Accessoires und Atmosphären. Es ist ein Kino der Optik wie auch der Erzählfreude, unopulent, trotzdem mit einer großen Detailfreude und -fülle, einer Zelebrierung, in der Ernst und Spaß sehr, sehr nah beieinander liegen. Während vordergründig allerhand Charaktere in den Todesfall einer alten Grande Dame verwickelt werden, herrscht in den einzelnen Szenen und Kapiteln jeweils die ein oder andere Idee vor – die ganze Zeit schwebt eine leichte Parodie über allem, nicht maßgeblich und auch nicht die eigentliche Absicht – sie ist nur ein Stilmittel, ein Funke, der die Dynamik des Ganzen in Schwung hält.

Wer meine Meinung nicht teilt, dem mag es albern erscheinen, aber ich finde das wesentliche Element in Andersons Filmen ist (neben der Vergeblichkeit, die Anderson nie auswalzt, nie vertieft, sie nur erscheinen lässt, als schlichtester Zusatz des Daseins) die Schönheit. Die Schönheit die Liebe, die Schönheit der Kindheit, die Schönheit der Exzentrik, die Schönheit der Angst oder, im Fall von Grand Budapest Hotel, die Schönheit der Epoche, der Kultur von damals. Damit will ich nicht sagen, dass Andersons Filme Wohlfühlfilme sind, zuckersüß oder irgendwas in der Art. Denn wenn ich von Schönheit spreche meine ich damit nicht eine der Ausprägungen von Schönheit wie Rührung, Zärtlichkeit, Glanz, Epos oder Künstlichkeit, Anspruch und Glamour. Es wird nichts herausgestellt – es ist einfach die Schönheit der Sache selbst, mit all ihren Fehlern und Farben, ihrem Wesen. Eine Schönheit, die in ihrem Widerschein eine Spur von Wahrhaftigkeit besitzt.

Deswegen sind Andersons Filme, wenn man sie mag, auch immer wieder eine Art vollendetes Erlebnis. Es bleibt kein Zwiespalt zurück. Nicht, weil seine Filme übergroß sind oder er als Regisseur unfehlbar. Aber die schlichte Ehrlichkeit, die unverfängliche Eigenheit, der unaufdringliche Witz, all das, was seine Erzählungen ausmacht, bietet sich dem Zuschauer immer an, als Welt, als Geschichte, stellt aber nie Anforderungen, weder durch große Special-Effects, noch durch reißerische Dilemmas, aufgezwungenes “Vor den Kopf stoßen” oder den erhobenen Zeigefinger. Seine Filme wühlen einen nicht auf – sie sind wie ein gutes, wunderbar geschriebenes Buch: sie bieten einem die Möglichkeit einer einzigartigen Geschichte, in jeder Zeile, mit vielen Auftritten und vielen Feinheiten. Nicht mehr und nicht weniger.

Nachtrag: Das der Film von tollen Schauspielern nur so übersprudelt, dürfte wohl bekannt sein. Am Anfang (und auch noch später) kann man immer wieder, auch noch bei der kleinsten Rolle, in ein bekanntes Gesicht blicken – an die 15-20 große bis kleine Hollywoodstars treten auf, manchmal nur für wenige Sekunden. Hervorheben muss man Ralph Fiennes, der die Hauptrolle so gut spielt, jede Szene wie aus dem Ärmel schüttelt, in keinem Moment zuviel und nie zu wenig in die Rolle legt und den unvergesslichen Charakter ausfüllt wie es wohl sonst keiner gekonnt hätte. Man freut sich einfach, dass diese Rolle und dieser Schauspieler zusammengefunden haben!

“Das Gefängnis der Freiheit” – Über Michael Ende’s Erzählband


“Wenn es sich aber so verhält, wenn Zeit nichts anderes ist als die Art und Weise, wie unser Bewusstsein eine Welt wahrnimmt, die ohne Zeit ist, warum sollte es dann nicht auch Erinnerungen geben an etwas, das uns erst in naher oder ferner Zukunft widerfahren wird?”
(S. 64)

Ein Geleit durch unerreichbare Länder sind jene Geschichten, die wir phantastisch nennen, und die heute meist dem Science-Fiction oder der Fantasy zuzuordnen sind; doch es gibt auch jenseits dieser Genres phantastische Literatur: Geschichten, die Randphänomene menschlicher Lebenswirklichkeit, wie Träume oder Mystik, unerklärliche Geschehnisse und Zaubertricks, mit einer gewohnten Erzählstruktur verbinden und daraus eine phantastische Erfahrung kombinieren, die nicht allein unsere Vorstellungskraft anspricht, sondern vor allem unser Staunen über die möglichen Untiefen der Wirklichkeit belebt.

Michael Ende, der die phantastischen Welten seiner Kinderbücher immer wieder auf besondere Art mit Facetten unserer wunderlichen und wunderbaren Wirklichkeit zu durchdringen vermochte (indem er z.B. die Realität mit einem phantastischen Element kontrastiere und so nicht nur die Macht der Fantasie, sondern auch die Schönheit der Realität hervorhob, ohne die seine fantasiereiche, gesteigerte Variante ja gar nicht denkbar gewesen wäre – oder indem er seinen Welten trotz ihrer phantastischen Weiten die menschlichen Gefühle und Sehnsüchte zur Seite stellte). Neben seinen Kinderbüchern hat sich Ende auch in einigen Erzählungen, Märchen, Aphorismen und Betrachtungen der Faszination von Wirklichkeit, Wünschen, Spirituellem und Träumen gewidmet.

“dass nämlich zur Erfahrung der Wirklichkeit außer dem Nur-Faktischen auch ein erkennendes Bewusstsein gehört, das dieses Faktische erst realisiert, dann ist es wohl nicht allzu gewagt zu folgern, dass also die Beschaffenheit der jeweiligen Wirklichkeit von der Beschaffenheit des jeweiligen Bewusstsein abhängt. Da letzteres jedoch, wie man weiß, keineswegs bei allen Menschen und in allen Völkern gleich ist, kann man mit Recht annehmen, dass es an verschiedenen Orten der Erde verschiedenen Wirklichkeiten gibt, ja dass an ein- und demselben Ort durchaus mehrere Wirklichkeiten vorhanden sein können.”
(S. 81)

Die Erzählungen in diesem Band sind allesamt der Tradition von erzählten Geschichten verpflichtet, es geht nicht um Zwischenmenschliches, es geht um Lebenswege und Gleichnisse, die sich um das Suchen und Entdecken drehen. Der Protagonist der ersten Geschichte ist ein Mann, der in Hotels rund um die Welt unter der Obhut des Vaters und ein-zwei Dienern aufwächst und ein gedämpftes, unwirkliches Leben fristet, bis er zum ersten Mal zufällig auf jemanden trifft, der Heimweh hat. Heimweh, Heimat, ein Zuhause? – etwas, das er nicht kennt. Aber alle bekommen diese wehmütige Art wenn sie davon reden. Auch wer will so etwas haben und sucht von da an sein ganzes Leben nach diesem Ort…
Während diese erste Erzählung noch in das Gewand einer gewöhnlichen, profanen Lebensgeschichte gehüllt ist, wird der Leser in einer anderen Erzählung in eine geradezu kafkaesk anmutende, totalitäre Schattenwelt geworfen, in der die Lebewesen in unveränderlichen Tagesrhythmen in einem unveränderlichen, unendlichen Tunnelsystem leben; wiederum in einer weiteren Erzählung, befindet er sich in den spirituellen Gleichniswelten des Korans, in denen ein dem Glauben entfallener sich mit dem Gefängnis der Freiheit auseinandersetzen muss. Und dann ist da noch jener Korridor in Rom, der ein physisch gewordenes mathematisches Problem darstellt …

Gute phantastische Literatur bezieht ihre größte Faszination nicht allein aus der reinen Fabulierkunst. Es ist die verschwimmende Grenze, das Abtasten der Wirklichkeit, das die erstaunlichsten phantastischen Erzählungen ausmacht, von Borges über Cortazar, von Lovecraft über Kehlmann bis zu diesen Geschichten Michael Ende. Denn die Wirklichkeit eines phantastischen Textes, einer phantastischen Welt, ist ein eigener Bereich, der aus Elementen der realen Wirklichkeit und der denkbaren Wirklichkeit erschaffen wird und wo die realen Elemente von der phantastischen Wirklichkeit in Beschlag genommen werden, aber umgekehrt auch die phantastischen von den realen. So entsteht eine Ebene, die man geheimnisvoll, rätselhaft nennen würde. Sie grenzt sich von der Realität nur dadurch ab, dass sie erdacht wurde, trägt aber Teile in sich, die durchaus in Bereichen unserer Lebenswirklichkeit greifen könnten, darin präsent sind.

Das ist natürlich mehr die interpretative Seite. Der Leser kann diese Seite ebenso gut mit Genuss ignorieren und diese Erzählungen so lesen, wie Ende sie sicherlich verstanden sehen wollte: als Geschichten mit fantasievollen Zügen, mit Ideen, die eine übergreifende Vorstellung erzeugen können, von der Bedeutung des Glücks, der Vorstellungskraft und vielem anderen. Ende war ein Geschichtenerzähler und er war sicherlich noch mehr als das. Aber allein wegen ersterem lohnt es sich schon, ihn zu lesen – die eigene Fantasie seinen kleinen Welten, Lebensläufen und Parabeln anzuvertrauen.

Zu Amelie Nothomb und zu ihrem Buch “Quecksilber”


Amelie Nothomb, schreibwütig, diabolisch, ironisch, gehört zu den spektakulärsten Schriftstellern der 90er Jahre und des neuen Jahrtausends. Ihre zahlreichen, meist kurzen Bücher, teilen sich in zwei verschiedene Werkgruppen auf, die ihr vielfältiges Ceuvre im Kern bestimmen.

Das erste sind die autobiographischen Bücher, darunter das bekannte Buch Mit Staunen und Zittern, sowie das geniale Buch Biographie des Hungers und ähnliche. Sie stützen sich oft auf Nothombs Erlebnisse in Japan oder drehen sich um ihre Kindheit als Diplomatenkind und Weltreisende.

Was an diesen Büchern auffällt ist die Virtuosität der Bezüge (literarische, blumige, manchmal auch exzentrische Vergleiche; Metaphern und Bilder, die ihre eigene spontane Schönheit und Genialität besitzen), eine überbordende Dynamik mit Esprit und das unterschwellige Gefühl, eine reale Geschichte durch einen Schleier von kindlichem bis phantastischem Hang geschildert zu bekommen; eine zwischen Naivität und Genialität pendelnde Art, die Dinge in Sprache anzubringen und sich vorzustellen; vielleicht einfach im Bestreben, das Besondere im Leben selbst zu sehen.

Die Fröhlichkeit und Leichtigkeit dieser Bücher, ihre pointenhaltige Gewandtheit und ihr Tempo, schaffen es,  Knappheit und Kürze der Bände aufzuheben und quasi ins Gegenteil zu verkehren, ja sogar folgerichtig erscheinen zu lassen, als wäre alles aus dem mythischen Stoff der Erinnerung selbst gewebt, der sich nicht in eine grauere, bescheidenere Version der Schilderung ummünzen lässt.

All diese Eigenschaften der autobiographischen Werke teilweise in einem großen Gegensatz zu dem zweiten Bereich ihres Werks, den rein fiktionalen Texten und Geschichten. Deren düsteren Szenarien, die Dialoglastigkeit und ein geradezu halsbrecherischer Hang zu provozieren, zu verdrehen und zu plakatieren, lassen selbst bei einer intensiven Lektüre eine merkwürdige Ungewissheit zurück. Die meisten dieser Bücher sind experimentelle, fast schon nicht mehr realistische, parabelartige Erzählungen von Menschen in außergewöhnlichen Lebens- und Existenzsituationen; oft spielt Reflexion und Außenseitertum eine Rolle, das Bewahren von Schönheit, Unschuld oder Kindheit, das Aussperren der Welt. Oft aber auch die Reflektion der menschlichen Hybris (und auch seiner Antihybris).
Bei den meisten dieser fiktionalen Werke fällt auf, dass ihre Plots zwar einer gewissen Faszination nicht entbehren und ihre Idee einiges an Potential birgt, sie aber meist weder vollends ausgereizt werden(als Ausnahme darf hier der Erstling Die Reinheit des Mörders gelten) noch in ihren fiktionalen Rahmen wirklich überzeugend sind (wenn man sie nicht als bloßes Spiel in Prosa, wie eine Art Märchen oder Geschichtchen, betrachtet). Man spürt, dass hier eine Autorin mit großem Sprachgefühl und Stil (denn das ist Amelie Nothomb ohne Frage) mit scheinbar drastischen Plots versucht ihre Schwächen in punkto Ausdauer, Langmut und Ausarbeitung einer definitiven und ausgefeilten Sotry zu kaschieren.

Nimmt man ihr das Übel? (Ich) Nicht wirklich, denn bei all dem kommen zwar keine wirklich guten Romane, aber interessante Gedankenspiele heraus, von denen einige vielleicht irgendwann sogar einen wegweisenden Status erhalten könnten. In Quecksilber zum Beispiel geht es zentral um den Konflikt zwischen Liebe und Anstand/Moral und um die Frage wie die beiden sich gegenseitig schaden oder beeinflussen. Zwar ist die Geschichte an sich nicht besonders ergiebig – die ihr innewohnende Problematik aber schon. Was macht Liebe aus? Ihre Grenzen oder ihre Bedingungslosigkeit? Ihr Ruf, ihr Name oder ihre Auswirkungen? Welche Seite hat in der Liebe welches Recht? Auch wenn diese Fragen in einer etwas simplen Story aufgezogen werden – so präzise und unbequem hat selten jemand die Fragen zu dieser – in der Literatur meist einseitig positionierten – Thematik gestellt, wie Amelie Nothomb in Quecksilber.

Kurz zum Inhalt:
Seit 5 Jahren wird Hazel von dem knapp 50 Jahre älteren ehemaligem Weltmeer-Kapitän Loncours auf einer winzigen Insel vor der frz. Küste behütet festgehalten. Im Haus gibt es keine Spiegel und auch keine Möglichkeit durch Wasser, Metall oder ähnliches eine Art der Spiegelung zu erzeugen. Denn Hazels Gesicht wurde bei einem Bombenangriff, bei dem auch ihre Eltern starben, grob entstellt und das Mädchen, das seine Hässlichkeit vor dem Rest der Welt verbergen will, hat sich bereits, geradezu dankbar, in ihr trauriges Dasein ergeben. Doch eines Tages wird sie krank und der Kapitän lässt schnell, da er seine “Ziehtochter” über alles und auf jede erdenkliche Weise liebt, eine Krankenschwester vom nahen Festland kommen. Francoise, die sich zu dem Job bereiterklärt, tritt als neuer Faktor in Hazels Leben – doch selbst Francoise ist sich nicht ganz sicher: Wird sie als Retterin empfangen, oder ist sie teil eines fragwürdigen Spiels, dass sich an diesem externen Platz der Welt völlig ungeniert abspielt…

Ich halte das Buch für lesenwert, allein schon aufgrund des gedanklichen Anreizes und der schnellen, unkomplizierten Lektüre; wer allerdings einen guten und kurzen Roman sucht, dem sei eher empfohlen nicht zu diesem Werk zu greifen, auch wenn es dem Augenschein nach ein Roman sein soll. Denn eigentlich ist es, um es noch mal zu betonen, ein Experiment, ein Spiel und wegen der vielen Dialoge sogar eigentlich mehr ein (Theater)Stück, denn eine Geschichte.

Ich empfehle des Weiteren noch einmal die autobiographischen Bücher, also die beiden oben genannten, aber auch Metaphysik der Röhren und Der japanische Verlobte. Deren verführerische und schöne Sprachartistik und Freudigkeit hat zumindest mir so manchen Lesegenuss beschert.

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.