besprochen beim Signaturen-Magazin
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Zu Harry Martinson und dem Band “Reisen ohne Ziel”
Fernere Literaturen, wie etwa die skandinavische, haben ebenso viele schimmernde und schillernde Existenzen hervorgebracht wie die zentraleuropäischen, auch wenn diese Exemplare in den meisten Literaturgeschichten stiefmütterlich behandelt werden. Schriftsteller*innen wie Knut Hamsun gingen aufgrund ihrer problematischen politischen Einstellung in die Geschichte ein, einige wenige konnten sich als Klassiker und Autoren von Rang und Namen etablieren, wie etwa Lars Gustafsson oder Halldor Laxness. Aber im Prinzip bleibt die skandinavische Literatur eine eher unbekannte Größe und kann von Snorri Sturluson bis hin zu Henry Parland, Edith Södergran und eben Harry Martinson noch ohne größere Vorbelastungen entdeckt werden. Um diese Entdeckungsreise zu starten, kann man einen Blick in das Programm des Guggolz Verlag werfen, der es sich um die Wiederentdeckung skandinavischer Texte aus dem letzten Jahrhundert verdient gemacht hat. Oder man beginnt einfach mit diesem Buch.
„So flattert man mit einer Sehnsucht um die Erde, und die ungeschriebenen Reiseschilderungen stapeln sich in der Seele.“
Der so redet, dürfte eigentlich gar nicht so reden, denn während sich bei uns allen sicher viele Reiseschilderungen in der Seele, auf Kamerachips und in dem nicht immer willfährigen Gedächtnis stapeln, hat Henry Martinson aus seinen Erlebnissen Poesie gegossen, Dichtung gemacht, alles mit einem Strom der Worte nachvollzogen. Man kennt dieses Flattern der Sehnsucht, das beim Reisen und in den anschließenden Erinnerungen sich aufschwingt. Martinson will den Farbton dieses Gefühls auf alle seine Schilderungen streichen.
Diese Schilderungen sind von einer Urtümlichkeit, die man begnadet nennen kann, sakrosankt, die aber gleichzeitig die Lektüre hier und da auch etwas zersetzt. Die geradezu heilige Veranlagung, die er im Weltenbummel sieht (er nimmt mit seiner Beschwörung des Weltnomadentums geradezu die Flexibilität unserer heutigen, globalisierten Welt vorweg) treibt seine Sprache zu Höhenflügen, aber hier und da taucht diese Sprache dabei auch zwischen die Wolken, verliert ihren Fokus aus dem Blick und er flirrt nur noch im Augenwinkel.
Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass ein Dichter dieses Buch geschrieben hat. Es ist Poesie, Ode, Euphorie und Metamorphose. Kaum hat man ein paar Seiten gewendet, fühlt man sich völlig umgeben von der jeweiligen Schilderung, so übersteigert Martinsons Ansatz auch sein mag. Er fesselt einen mit der Unbedingtheit seiner Beschreibungen. Dann und wann predigt er etwas zu viel und in diesen Passagen löst eine gewisse Alterserscheinung die Zeitlosigkeit seiner Erlebnisauswüchse ab.
Ich kann „Reisen ohne Ziel“ jedem empfehlen, der eine poetische und dramatische Erfahrung machen will. Freunde der üblichen Reiseliteratur werden sich wohl nicht ganz zurechtfinden (zumal Martinson schon zu Anfang erklärt, dass ihm nach einer solchen Literatur nicht der Sinn steht). Freunde des Außergewöhnlichen werden hier ein Buch finden, in das sie sich immer wieder vertiefen können – vertiefen und in gedankliche und emotionale Höhen stürzen!