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Ein Meisterwerk langsam anschwellender Ungeheuerlichkeit


Der Schrei der Eule

Am 19. Januar dieses Jahres hätte die große Erzählerin Patricia Highsmith ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sehr zu meiner Freude hat der Diogenes Verlag anlässlich dieses runden Jubeljahres einige Roman ihrer Stammautorin neu aufgelegt, darunter auch meinen persönlichen Favoriten “Der Schrei der Eule”.

Es ist schwierig, über Lieblingsromane zu reden, zu schreiben. Allzu oft neigt man (zumindest ich) aus Begeisterung dazu, die Vorzüge des Romans zu überzeichen und provoziert damit Widerspruch und Enttäuschungen. Ich werde also versuchen, das Buch und seine Vorzüge etwas sachlicher, als ich eigentlich will, zu beschreiben.

Gleich die erste Szene ist schon ungeheuerlich und eigentümlich beruhigend, ein Sinnbild für die Atmosphäre des ganzen Buches: Ein Mann beobachtet durchs Fenster eine junge Frau bei ihren Abendverrichtungen in der Küche. Schnell ist klar, dass der Mann die Frau nicht kennt, aber nicht die Absicht hat, ihr etwas anzutun. Auch sexuelle Motive hat er nicht, er will sie nicht nackt sehen oder sich ihr in irgendeiner Weise nähern. Ihr unkompliziertes, allem Anschein nach frohes Dasein beruhigt ihn einfach; es geht ihm besser, wenn er ihr zusieht und sich vorstellt, wie glücklich sie ist in ihrem Haus, mit ihrem Freund, mit ihrem Leben.

Robert, der Mann, ist schon öfter bei dem Haus gewesen, seitdem er einmal per Zufall aus der Ferne auf die Frau aufmerksam wurde. Jetzt zieht es ihn regelmäßig hin, auch wenn er sich jedes Mal schwört, dass es das letzte Mal ist. Die Frau und ihr Freund haben schon den Verdacht, dass manchmal jemand ums Haus schleicht, aber bisher ist er immer davongekommen. Dann, eines Abends, entdeckt sie ihn doch, reagiert aber völlig anders, als er erwartet hat …

Manche würden Highsmit Werke als pyschologische Romane, manche vielleicht sogar als Thriller bezeichnen, aber ihre besten Bücher sind vor allem eines: mustergültige Tragödien, nach antikem Vorbild. Ein paar kleine Vorzeichen und dann ein einziger Augenblick, ein Initialmoment, und schon ist etwas ins Rollen geraten, dass die Leser*innen über hunderte von Seiten in Atem hält. Die Schicksalhaftigkeit die den Wendungen und Zuspitzungen des Plots dabei anhaftet, hat gleichsam etwas Absolutes und etwas Ungeheuerliches – eine Kombination, in welcher der Ambivalenz des freien Willens, seiner Getriebenheit und Machtlosigkeit wunderbar Ausdruck verliehen wird.

Highsmith gelingt es immer wieder greifbare und doch nicht bis ins letzte durchschaubare Charaktere zu zeichnen, die einen mit ihren Entscheidungen und Denkmustern in den Wahnsinn treiben und zu denen man doch ein enges Band knüpft, um deren Entscheidungen man bangt und von deren Schicksal man sich schwer distanzieren kann. Tom Ripley ist der bekannteste dieser Charaktere, aber in “Der Schrei der Eule” warten auch mindestens drei von ähnlichem Kaliber.

Dabei ist der Roman eigentlich sehr unscheinbar, in vielen Bereichen, und läuft so langsam an, dass man glauben könnte, es werde zum Schluss vielleicht eine Eskalation geben, einen Turn, einen Kniff und das sei der ganze Plan. Stattdessen nimmt der Roman plötzlich nach einem Viertel des Textes Fahrt auf und auf einmal weiß man gar nicht mehr, wie es dazu kommen konnte, dass die Situation so zugespitzt ist und man fast genauso angespannt auf jede neue Entwicklung wartet, wie die Hauptfiguren.

In “Der Schrei der Eule” kann man einer großen Ungeheuerlichkeit beiwohnen, die mit einer ganz kleinen Ungeheuerlichkeit beginnt. Vielleicht nicht anders beginnen kann. Es beginnt mit einer Unschuld im Gewande eines Verbrechens und endet mit Verbrechen im Gewande der Unschuld. Es geht um die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes und um die fatalen Ideen, die sich der Mensch zurechtlegt, um die Einsamkeit zu überwinden. In jedem Fall: für mich ein Meisterwerk. So, jetzt ist der Überschwang doch durchgebrochen.

 

Zu “Von Zeit und Fluss” von Thomas Wolfe


Von Zeit und Fluss Zum ersten Mal stieß ich auf Thomas Wolfe in einer Anthologie mit Beiträgen zu hundert Jahren Rowohlt (erschienen 2008 ebendort, ein schönes Buch voller toller Anekdoten und Autor*innentipps); dort ging es vor allem um seine Deutschlandreise 1936, zu der jetzt bei Manesse auch eine Publikation erschienen ist.

Bei Rowohlt war zwischen den Weltkriegen das erste Werk von Wolfe auf Deutsch erschienen: „Schau heimwärts, Engel“, das ich mir in einer alten rororo-Ausgabe zulegte und bald darauf las. Beglückt, aber auch sehr erschöpft von Wolfes Stil, wagte ich mich damals nicht an sein opus magnum „Von Zeit und Fluss“.

Dann sah ich vor kurzem den Film „Genius“, in dem es um die Freundschaft zwischen Wolfe und seinem Verleger Maxwell Perkins geht (seines Zeichens auch „Entdecker“ von Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway), u.a. auch um die gemeinsame Arbeit an diesem 1200 Seiten-Werk (das ursprünglich sogar noch viel länger war). Die im Film zitierten Passagen rissen mich derart mit, dass ich beschloss, das Buch schnellstmöglich zu lesen.

Dieser erste Impuls scheint mir nun, nach der Lektüre, Jahre zurückzuliegen. Es ist schwer es anders zu sagen: dies ist ein Buch, das man nicht liest, sondern mit dem man für die Dauer der Lektüre lebt. Wolfes Stil, ungezügelt und voller Adjektive, dabei aber nie zu detailverliebt oder verwässert, sondern immer wie ein kräftiger Pinselstrich auf einem riesigen Gemälde, überschwänglich und in einem Maße pathetisch, welches nur den wenigsten Autor*innen ohne den Anschein von Schemenhaftigkeit und Kitsch gelingt, er durchdringt einen vollkommen.

Worum geht es in Zeit und Fluss? Nun, wenn man es runterbrechen will: ums Fortgehen von zu Hause und doch darum, dass das Zuhause in einem verbleibt; dass, obgleich alle Flüsse beständig fließen, sie irgendwo münden und entspringen. Es gibt nur das Fließen, aber es gibt trotzdem Enden und Anfänge, ewige Kreisläufe. Das schildert Wolfe anhand seiner eigenen Biographie (in Romanform) und zeichnet wie nebenbei noch ein überbordendes Bild des Amerikas seiner Zeit, ein Amerika an einem Wendepunkt zwischen Land und Stadt, Mythos und Moderne.

In diesem Bild tummeln sich viele, viele mannigfaltige Figuren, alle von einem Lebenswillen durchdrungen, um den Wolfes Roman trotz aller sonstigen Feinheiten und Plots und Ideen immer kreist. Gefühle, Regungen, bei Wolfe sind sie riesige Gewichte auf den viel zu kleinen Waagen, die dem menschlichen Verständnis zur Verfügung stehen – und doch ist in ihnen eine eigene Wahrheit immer präsent.

Kurzum und um nicht auszuufern: Wolfes Buch ist, nochmals, ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern mit dem man lebt, auf das man zurückblickt wie auf einen Lebensabschnitt, nicht wie auf eine Geschichte. Wer dergleichen erleben will, sollte es wagen, das Abenteuer mit „Von Zeit und Fluss“.

Zu “Erinnerungen an Leningrad” von Joseph Brodsky


Erinnerungen an Leningrad In “Erinnerungen an Leningrad” sind zwei autobiographische Essays von Joseph Brodsky zusammengefasst, die er beide im amerikanischen Exil und auf Englisch verfasste. Im ersten Text von 1976 (also vier Jahre nach seiner Ausweisung aus Sowjet-Russland) setzt er sich mit seiner Jugend, dem Aufwachsen und Leben in seiner alten Heimat auseinander. Im zweiten Text, geschrieben 1984, stehen der Tod und die Beziehung zu seinen Eltern im Mittelpunkt; zwölf Jahre hatten diese vergeblich gehofft, ihn in den USA besuchen zu dürfen, ihn noch einmal zu sehen.

Es ist zugleich berührend und profan, wie Brodsky seine Erfahrungen in Russland und mit der sowjetischen Realität schildert, wie er seine Einschätzungen in poetische, manchmal auch kuriose Bilder kleidet und wie liebevoll und doch auch ein bisschen sardonisch er die Beziehung zu seinen Erinnerungen inszeniert. Der erste Text bietet auch heute und in seiner Kürze ein beeindruckendes Bild von den Verhältnissen in Sowjetrussland (der zweite ebenso, aber eher nebenbei); es ist keine vollendete Analyse, aber sie trifft, so hatte ich das Gefühl, ein paar wesentliche Punkte.

Der zweite Text, halb Elegie, halb Meditation, fließt dahin, in kurze Kapitel unterteilt, die sich immer wieder den Eltern auf verschiedene Weise annähern, sprüht aber auch vor kleinen Ideen, Zuspitzungen, rührenden bis komischen Details. Langsam kristallisiert sich durch die vielen Annäherungen ein Bild des Zusammenlebens heraus. Es ist ein Text, der die universelle und doch ganz persönliche Beziehung zu den Eltern darstellt, die Hoffnungen, die Glücksfälle, die Schwierigkeiten, die Klüfte, und die Sprünge über die Klüfte, die Atempausen und den Trab.

Ich kann nur dazu raten, Brodsky zu lesen – er war wirklich das, was man einen Meister des Essays nennen darf, selbst wenn man sparsam mit solch heiklen Bezeichungen umgehen will. Ohne gelehrig oder verkopft zu wirken, vermitteln diese Texte viel Besonderes und auch viel Allgemeines, stellen es nah zueinander, führen vom einen zum anderen, geschickt und anschaulich. Angenehm und faszinierend, so könnte man diesen Stil, diese Dynamik, auf der Gefühlsebene beschreiben. Ganz viel Ruhe liegt in diesen Texten, aber auch ganz viel wohlformulierte Unruhe.

 

Zu “Fahles Feuer” von Vladimir Nabokov


Fahles Feuer „Fahles Feuer“ gehört bereits zu den späten Romanen Nabokovs (es ist der erste Roman nach den bekannten Werken „Lolita“ und „Pnin“). Während andere „Lolita“ oder „Ada oder Das Verlangen“ als sein Opus magnum ansehen, finde ich, dass dieser Titel am ehesten diesem Roman zusteht. Denn hier kommt alles zusammen, was Nabokov in seinen besten Momenten ausmacht: Intensität und sprachliche Finesse, die Stärke des erzählerischen Bogens, aber eben auch Verspieltheit, die Einbringung von Haltlosigkeiten und Ungewissheiten, die durch die jeweilige Form perfekt zur Geltung kommen.

Allein die Plot-Idee von „Fahles Feuer“ ist schon ein Kuriosum und klingt eher so, als habe Stanislaw Lem seine Sammlung fiktiver Buchrezensionen (in „Die vollkommene Leere“) auf die Spitze treiben wollen. Denn das ganze Buch ist ein einziger Kommentar zu einem 999 Zeilen langen Gedicht namens „Fahles Feuer“. Der Herausgeber Charles Kinbote erklärt, dass sein Freund, der Verfasser John Shade, erschossen wurde, bevor er die tausendste Zeile niederschreiben konnte. Nach und nach kommentiert er das Werk und offenbart nicht nur die Untiefen des Gedichtes, sondern auch seine eigenen …

Das ganze Buch ist durchzogen von Ungewissheiten, spielt mit ihnen: Existiert John Shade überhaupt? Ist der Inhalt des Gedichtes, von dem Kinbote immer weiter abkommt, nur ein Vorwand? Was hat es mit Kinbotes Vision eines märchenhaften Königreiches im Osten auf sich: ist das Ganze eine Phantasie, eine Parabel, melancholische Erinnerung oder bitterböse Satire? Hat am Ende Kinbote John Shade getötet oder ist er selbst nur eine Erfindung von Shade? Nabokov spinnt die Lesenden mit ein paar schöne Fäden ein, die sich verschiedentlich verknoten, sich umeinander winden, dann wieder auseinanderlaufen.

Die Lesenden werden so selbst zu Deuter*innen des Gedichtes, zu Ermittler*innen im Mordfall Shade, zu Bewerter*innen von Kinbotes Glaubwürdigkeit und zu Erforscher*innen von Zembla (dem Königreich). Der Titel „Fahles Feuer“ ist Programm: man sieht nicht sehr weit in diesem Roman und was man sieht, das erscheint unheimlich und schon bei kleineren Entfernungen ungenau, schemenhaft. In jedem Fall stellt „Fahles Feuer“ eine literarische tour de force dar, die ebenso brillant wie unterhaltsam ist. Ein Meisterwerk, ein sehr lesenswertes Erlebnis für alle homme/femme de lettres.

Zu Kazuo Ishiguros “The buried giant”


The buried giant Raymond Queneau hat einmal angemerkt, dass jedes Buch letztlich eine Ilias oder eine Odyssee sei – die Geschichte eines Konflikts oder die Geschichte einer Reise. Man sollte solche Verallgemeinerungen natürlich nicht unhinterfragt übernehmen, sonst fängt man bald an, alle Realien so zu verdrehen, dass sie zu diesen Verallgemeinerungen passen; was auf einem Gebiet wie der Literatur meist auf Polemiken und vereinfachte Darstellungen hinauslaufen würde.

Trotzdem entsann ich mich dieses Ausspruchs von Queneau, als ich nach der Lektüre von „The buried giant“ darüber nachdachte, wie ich die Struktur des Buches veranschaulichen könnte. Denn letztlich hat Kazuo Ishiguro hier ein Buch geschrieben, das ganz und gar eine Odyssee ist. Nicht nur, weil eine Reise im Zentrum steht, sondern weil dahinter der Schatten einer Ilias lauert; einer Ilias, deren Auflösung erst in dieser Odyssee erzählt wird (was viele nicht wissen: das trojanische Pferd kommt in der Ilias nicht vor, sondern erst in einer in die Odyssee eingeflochtenen Rückschau). Auch in der Verquickung von phantastischen, metaphysischen, mythischen und realistischen Vorgängen und Ereignissen, gleichen sich die Odyssee und „The buried giant“.

Das Buch spielt in den Dark Ages der Britischen Insel, als mehrere Volksstämme nach dem Abzug der Römer und in Zeiten der Völkerwanderungen um die Vorherrschaft und die Siedlungsräume auf der Inseln konkurrierten. Bevor Angeln und Sachsen schließlich fast die ganze Region des heutigen „England“ eroberten, leisteten die ansässigen Britannier wohl eine Weile ernsthaft Widerstand – in diesem Konflikt liegen auch die Wurzeln der Sagengestalt König Artus, der in den frühsten Geschichten ein britannischer König ist, der den Angelsachsen die Stirn bietet.
Es gibt keine Chroniken und nur wenige gesicherte Fakten und Aufzeichnungen über diese Zeit, die dem groben Rahmen der Völkerkonflikte klarere Dimensionen verleihen könnten. Hier setzt Ishigruo mit seinem Mix aus Imagination, historischem Anstrich und Mythenkosmos an.

Im Zentrum steht das Ehepaar Axl und Beatrice, Britannier, die aus ihrem Heimatdort aufbrechen, um ihren vor langer Zeit verlorenen Sohn zu besuchen. Oder zu finden. Haben sie überhaupt einen Sohn? Warum fällt es ihnen so schwer sich an einfachste Dinge zu erinnern? Was ist damals geschehen, in dieser Zeit, an die niemand sicher erinnern kann.

Von Anfang an liegt ein undurchdringlicher, unbehaglicher Nebel auf dem Geschehen und man ist als Leser*in fast versucht, verärgert zu sein über die Unklarheiten in den Gedanken der Protagonist*innen, ihre scheinbare Einfalt, ihre vagen Aussagen und Erinnerungen.

Mit der Zeit begreift man (oder: muss akzeptieren), dass das Ganze Methode hat. Es kann einen natürlich immer noch nerven, in dieser Hinsicht lässt sich nichts beschönigen: Ishiguros Roman verlangt von seinen Leser*innen, dass sie dranbleiben, dass sie sich in denselben Nebel und dieselbe Unklarheit wie seine Figuren hüllen, nur langsam vorankommen und den (fast immer ungemein höflichen) Gesprächen lauschen, um hier und dort einen Blick auf eine mögliche, vielleicht auch vermeintliche Erkenntnis zu erhaschen, Stück für Stück in die Hintergründe vordringend, die sich nicht mit einem mal, sondern mit vollendeter Behutsamkeit entfalten. Diese Behutsamkeit und ihre letztendliche Entfaltung erinnern am Ende an die unterschwellig elektrisierende Behutsamkeit der Geschichte von „Never let me go“, die sich ebenso langsam offenbart, allerdings weniger mühsam voranschreitet, weniger mühsam zu lesen ist.

Axl und Beatrices Reise führt sie mit einigen wenigen Gestalten zusammen, die meist dem festen Figurenensemble angehören, in dem sich alle Konflikte abspielen und das die Reise, mal getrennt, mal vereint, bestreitet. Gemeinsam und jeder für sich werden sie, scheinbar in Bestimmungen verwoben, immer wieder neu zueinander positioniert. In einer Welt, die voller übernatürlicher Gefahren ist, Menschenfresser, Kobolde und Drachen, deren essentiellste Bedrohung aber trotz allen mystischen Schrecken immer noch von der menschlichen Verworfenheit ausgeht.

Daniel Kehlmann hat in seiner Rezension in der FAZ darauf hingewiesen, dass Ishiguros Buch letztlich ein Roman über das Vergessen ist, für und wider abwägend. Ich behaupte (ohne Kehlmann, dessen Rezension ich für gelungen und kompakt halte und deren Eingangspassage ich nachdrücklich unterstreichen will, zu widersprechen), dass es ein Roman über sehr viel ist, Unzähliges. Gerade weil dieser Roman so langsam voranschreitet und so wenig Zeit und Raum auf offensichtliche Handlungen, Aussagen und Ansichten verwendet, dahinfließt in fast schon unverfänglich anmutenden, mitunter leicht willkürlich erscheinenden Episoden, gelingt es ihm, so viele Motive unterzubringen, die sonst nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren könnten, weil sie nach einer Forcierung verlangen oder um Aufmerksamkeit und ihren Platz als Spannungselement konkurrieren würden.

Es geht um Katastrophen, es geht um das Alter, es geht um die Gewissheit der Liebe, es geht um Rache, es geht um das Elend, es geht um das Schicksal, um die Frage nach Gut und Böse, um neuerzählte/-gedeutete Mythen, um Gerechtigkeit und Willkür. Und immer mehr Worte will ich anreihen, belasse es aber bei diesen, die mir zuerst eingefallen sind. Und habe schon Angst, zu große Erwartungen zu wecken, die ja der Feind jeder unverstellten Lektüre sind.

Also: warum ist dieses Buch so lesenswert?

Die einfache und für manche (ganz gleich, ob sie es (an)gelesen haben oder noch nicht gelesen haben) wohl unbefriedigende Antwort ist: Weil es großartige, feinmaschige Literatur ist. Ich behaupte, dass es keine einzige überflüssige Szene, keinen einzigen überflüssigen Dialog gibt; ja, dass, sobald man eine Szene streichen wollen würde, erkennen würde, wie viel die karge Handlung, die jovialen und sich dann doch zuspitzenden Gespräche, über die Figuren und die Themen, um die alles kreist, aussagen – vor allem, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, als Teil des Kosmos, den das ganze Buch webt. Diese Bedeutungsebenen nimmt man zunächst nicht wahr, während man – auf einen deutlichen Fingerzeig, das Eintreten einer klar ausgerichteten Narration wartend – die Szenen an sich vorbeiziehen lässt. Aber im Nachhinein fällt einem auf, wie noch in der kleinsten Szene vieles nachhallt und aufblitzt, das Große und das Kleine, die Weltgeschicke und das Individuum betreffend.

Diese Erfahrung macht man nicht häufig, behaupte ich. Natürlich wird es deswegen nicht zum Buch für jede/n Leser*in. Wem also schön (und darin manchmal auch umständlich) arrangierte und sich nur langsam offenbarende Prosa eher nicht zusagt, der sollte vielleicht die Finger von diesem Buch lassen. Er bringt sich aber, dies auch als Warnung, letztlich um eine Erfahrung, die an der Oberfläche nicht immer bestechen mag, letztlich aber unverhältnismäßig tiefe Abdrücke in einem zurücklässt, ohne dass man sagen kann, wann sie Gelegenheit hatte, in diesen Winkeln der eigenen Seele herumzuwandern.

Liebesgeschichten, Geschichten von Krieg und Schuld, von Mythen und Monstern, sie sind oft episch, lodernd, heischend. Ishiguro gelingt mit „The buried giant“ das Kunststück, all dies zu vermeiden und trotzdem über jedes dieser Themen zu schreiben, leibhaftig, innig, und ihre Dimensionen anzudeuten, aufzurufen. Der anfängliche Vergleich mit Homers großer Dichtung mag vermessen sein und letztlich greift er auch im Detail nicht. Denn Ishiguros Roman ist vielleicht eine Saga, die ihre stärksten Momente aber nicht in großen Geschichten und Ereignissen bündelt, sondern in Gesten, Erwähnungen und Unwägbarkeiten aufbewahrt. Dort also, wo alles Menschliche und Zwischenmenschliche letztendlich sitzt und entspringt – auch wenn es oft von dort aufbricht, um Weltgeschichte zu schreiben, zu errichten und vernichten. Letztlich liegt es dort und nirgendwo anders.

 

Zu Kazuo Ishiguros “Never Let Me Go”


Never let me go Der amerikanische Autor Ford Maddox Ford schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“. Kazuo Ishiguros 2005 erschienener Roman „Never let go/Alles, was wir geben mussten“ hätte ebenfalls gute Chancen, diesem Titel gerecht zu werden. Und doch wiederum nicht, denn es ist eines der schönsten, bejahendsten, ehrlichsten Bücher, die ich kenne.

Vermutlich fallen diese Qualitäten aus gutem Grund zusammen und Ishiguros Geschichte ist letztlich eine innovative und fein ausgearbeitete Variation jener uralten Geschichte von der menschlichen Seele, die ein Inbegriff des Tragischen war, ist und wohl auch immer sein wird. Weil, wann und wo immer Menschen etwas wichtig ist, es ihnen entrissen werden kann. Und entrissen wird, denn, wie Emily Dickinson schrieb: „Time stops for no one“. Oder wie eine Freundin von mir einmal sagte: Wir erzählen uns Geschichten, weil wir wissen, dass wir alle eines Tages sterben werden. Das ist natürlich nicht die Absicht, der Antrieb hinter dem Erzählen, da gibt es viele, vielleicht nur individuelle. Aber irgendwo wissen wir, dass wir beim Erzählen die Dinge überwinden, die wir sonst nicht überwinden können: Raum und Zeit.

Diese Vorrede greift vielleicht schon zu viel vorweg und könnte falsche Vorstellungen erzeugen, vielleicht sogar die irrige Idee, bei diesem Buch handle es sich um eine Schmonzette oder etwas übertrieben Rührseliges. Aber eigentlich geht es mir um das genaue Gegenteil: ich will möglichst wenig vorwegnehmen (vor allem will ich den Leuten nicht meine Lesart aufzwingen) und doch will ich mit allem Nachdruck sagen: lest es! Und bin überzeugt: Es wird euch berühren, wenn ihr es zulasst, es nah an euch heranlasst und ihm ein bisschen Zeit gebt.

Philipp Djian schrieb einmal, dass er, wenn Leute ihn fragen, was sie von Faulkner lesen sollen, diese Frage immer als große Herausforderung empfindet. Weil es ihm wichtig sei, so schrieb er, dass sich die Leute, die Faulkner lesen, „nie mehr ganz davon erholen“ und schon beim ersten Buch begreifen, was für ein wichtiger Autor er ist. Ich hoffe immer, dass die Leute sich nie ganz von der Lektüre von Ishiguros Roman „erholen“. Dass sie begreifen, wie sehr dieses Buch in der Lage ist uns etwas über unsere Existenz, unsere Sehnsüchte und die Gewalt in uns zu sagen.

Kommt das Feuilleton auf Ishiguros Schreiben zu sprechen, taucht immer wieder die Wendung „betörend und verstörend“ auf. Das klingt eigentlich zu harsch, zu heischend, aber letztlich trifft diese Bezeichnung zu. Seine Bücher sind auf sehr unterschiedliche Weise betörend und verstörend, nicht hauptsächlich, aber in einem Maß, das sie ausmacht.

„Never let me go“ ist ein Buch der kleinen, aufgeladenen Gesten und Ereignisse. Es ist außerdem ein Buch der Erinnerung, des Rückblicks, hat aber nichts von der üblichen Zwischenbilanz vieler Romannarrative, was an der besonderen Lage liegt, in der sich die Protagonist*innen von Anfang an befinden. Diese besondere Ausgangslage, die nicht versteckte, aber auch nicht offensichtliche, Stück für Stück offenbarte Prämisse des Romans, will ich hier nicht ausführen – Ishiguro versteht es meisterhaft, die Lesenden von Anfang an behutsam und geschickt in die Atmosphäre dieser besondere Lage einzuführen, ohne Hast, aber auch ohne, dass man sich verloren fühlt.

Am Anfang fühlt man sich in dem Buch geradezu geborgen. Diese Geborgenheit wird im weiteren Verlauf auf eine harte Probe gestellt, aber sie verschwindet nie ganz. Das hat mit Ishiguros Sprache zu tun, der Aufmerksamkeit, die stets darin mitschwingt und ein Auge für die Momente hat, in denen Menschen etwas verbindet, ihr Streben danach und ebenso ein Auge für das Sanfte und Unerbittliche, das in jedem Erleben liegt.
Letztlich bildet diese Geborgenheit den Grundzustand der Existenz ab. Wir glauben wohl solange, dass wir unsterblich sind, bis sich erste Anzeichen und erstes Wissen einstellen, die darauf hindeuten, dass dem nicht so ist. Dass Dinge ein Ende haben, Lebensphasen, und letztlich unser eigenes Dasein, was sich ebenso klar abzeichnet wie es unbegreiflich bleibt.

Um das Tatsächliche und zugleich Unbegreifliche kreist auch Ishiguros Schreiben. Er findet es am Grund seiner Figuren, im Zwiespalt, der in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt liegt; ihren aufgewühlten und doch wie ein Spiegel ausgebreiteten Seelen. Er verleiht diesen seinen Figuren nicht unbedingt ein großes, individuelles Angesicht, aber er versteht es, ganz ohne auktoriale Charakterisierung (wie auch „Was vom Tage übrigblieb“ ist „Never let me go“ ein Roman, der nur aus der Ich-Erzähler Perspektive erzählt wird), ihnen eine natürliche Präsenz zu geben, die sie nicht unverwechselbar macht, aber sehr lebendig werden lässt.

Die Figuren wachsen einem ans Herz, aber noch mehr wächst einem eigentlich das Leben ans Herz, die kleinen Momente, die großen Erinnerungen, die wiederholte und neuentdeckte Schönheit und natürlich die nachwirkenden, unsere Vorstellungen für immer beeinflussenden Erlebnisse, die uns mit Menschen verbinden oder nur ganz allein uns gehören. Ishiguro rückt sie ohne großes Aufhebens immer wieder in den Mittelpunkt. Und dringt damit, mühelos, zum Kern vieler zwischenmenschlicher Beziehungen und den tiefsten Hoffnungen vor, in die wir uns versenken.

Ja, ich glaube wirklich, dass dieses Buch sehr viel aussagt, verhandelt. Aber das tut es so unaufdringlich, en passant und ambivalent, dass ich zögere, genauer zu destillieren, was es im Einzelnen vielleicht mitteilt, andeutet, einzurahmen vermag – mitreißend und ungeheuer sanft.
In jedem Fall: es ist eines der wenigen Bücher, von denen ich überzeugt bin, dass man sie lesen sollte, immer wieder. Es ist kein Buch, das einen für ein bestimmtes Thema sensibilisiert, es ist keine epische Geschichte, keine zwingende Gesellschaftsdurchleuchtung.

Es ist eines dieser Bücher, die man nach dem Lesen an die Brust presst. Die an der Seele klopfen und nicht weggehen, bis man ihnen mit Tränen in den Augen öffnet und sie hereinlässt.

Ein Buch zur Selbsterfahrung – Camus “Der Fall”


15 Jahre liegen zwischen “Der Fremde” und “Der Fall”. Camus ist währenddessen lakonischer geworden  (und verbitterter?) – und unerbittlicher.

Als ich “Der Fall” zum ersten Mal las, war es wie ein Schock und eine Offenbarung. Der 120 Seiten lange Monolog griff tief in mich hinein und ließ dort für immer ein neues Gefühl zurück. Und das nicht unbedingt wegen seiner vielschichtigen Gesamtaussage, die (für mich) sehr schwierig im Ganzen zu begreifen ist, sondern wegen der Wahrheiten die auf dem Weg liegen, wie nebenbei verschüttet, die zu einer starken Selbstreflexion zwingen oder einladen (je nach dem) und sich u.a. in wunderbar lakonischen Ereignissen ausdrücken, die Camus in stilitisch-knapper Manier beschreibt.

Inhalt:

Johannes Clamans ist “Bußrichter” in einer kleinen Amsterdamer Kneipe. Was ein Bußrichter ist und die Lebensgeschichte des intelligenten und witzigunruhigsubtilen Anwalts erfahren wir von ihm selbst, als er sich mit einem Gast der Kneipe zu unterhalten beginnt – die raren Antworten des Gegenübers erahnen wir nur aus der Weiterführung Clamans, da sie nicht mit abgedruckt werden.

Wer oder was Clamans ist und was er darstellen soll… – darüber gehen die Meinungen wohl auseinander. Man entwickelt unweigerlich eine Sympathie für die Charme und die (scheinbare) Ehrlichkeit des eloquenten Mannes, doch wer hinter die Fassade des ununterbrochenen Redens sieht, sieht pausenlose Rechtfertigung und (vielleicht) auch Heuchelei.

Ganz gleich ob Camus die Unmöglichkeit des vollkommenen Gutseins darstellt oder ob er mit diesem Buch gegen die Heuchelei und scheinbare Sauberkeit der (nur denkenden, argumentierenden, nicht handelnden) frz. Intellektuellen seiner Zeit wettert – da das Buch keine genaue Auskunft, sondern hauptsächlich sehr viele Betrachtungen, Gedanken und Denkastöße anhand eines “Fall-beispiels” erläutert, gibt es nur eine Möglichkeit, für sich zu dem Ende dieser Beschreibung und zum Ende des Buches zu kommen: Es zu lesen! Es ist eine ungeheuere Selbsterfahrung, die jeder einmal gemacht haben sollte, kryptisch, unwillkürlich und wunderbar eindrücklich in jedem Satz, jeder Szene.

“Die amerikanische Nacht” – der Roman des Jahres


Die meisten Romane beginnen schlicht und behutsam, wie ein neuer Tag oder ein Regenschauer; unspektakulär breiten sie ihr Umfeld aus und führen in die Figuren und Ebenen der Handlung ein. Doch schon der Anfang, der Prolog, von Marisha Pessls “Die amerikanische Nacht” ist wie die erste Einstellung eines mit Sog angereicherten Films – ein stummer, tiefer Paukenschlag – eine Reise quer durch Worte, Schatten und Nacht: Jemand spricht aus dem Off zu uns, eine Stimme, die uns etwas mitteilen will und uns direkt in ihren Bann zieht.

“Was auch immer Sie von Cordoba halten, egal wie besessen Sie von seinem Werk sind oder wie gleichgültig es Ihnen ist – man muss sich gegen ihn zur Wehr setzen. Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt.”

Darin: der erste Funken des Themas: Cordoba, die vielleicht gewagteste und gelungenste Erfindung diese Romanjahres, perfekt zwischen Fiktion und Realität angesiedelt, in Szene gesetzt durch ins Buch eingefügte Artikel, Blogeinträge, Anekdoten – und den Sog der Geschichte selbst. Eine Geschichte über Gewalt, Fiktionen, Lügen, Hexerei und Teufel, Wahn und Kunst; eine Geschichte auf der Suche, der Spur nach der Wahrheit und im Bann einer hypnotischen Idee von Leben als einem wandelbaren Blick auf die Wirklichkeit…

Konkret geht es in dem Buch um einen Selbstmord, der einen Journalisten dazu bringt, sich wieder mit dem Thema zu beschäftigen, dass ihn einst eine Viertelmillionen Dollar, seine Reputation und sein Ansehen kostet: Cordoba, zu dem er einst einen anonymen Tipp bekam, bevor der Tippgeber sich dann plötzlich in Luft auflöste. Zusammen mit zwei Zufallsbekanntschaften begibt er sich nun erneut auf die Suche nach dem Greifbaren im Phänomen Cordoba, dem Kult um ihn und all den Hinweisen, die darauf zu deuten scheinen, dass seine Kunst vielleicht eine schreckliche, bizarre Wurzel in seinem Leben hat und in seiner Umgebung unheimliche und übernatürliche Ereignisse geschehen…

Wer ist Cordoba? Ein Regisseur der Nacht und der menschlichen Abgründe, ein zurückgezogen lebendes Genie, das in seinem Werk über die Dunkelheit in uns allen meditiert; über diese Spule der Finsternis, die in uns abläuft und -läuft, die in uns ist, wie eine mit unheimlichen Melodien gefüllte CD in einem lange vergessenen Discman, den man sich eines Tages aufsetzt und von der Musik wie von einer berauschenden Erhebung, einem Schwimmen in traumtiefen Gewässern getroffen wird. Und bei der man sich fragt, ob sie eine reale Macht hat, auch, wenn man die Kopfhörer wieder abnimmt. (Wie) Verändert alles, was wir erleben, unser (Er)Leben?

“Denn jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das, nachdem wir trachten, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnte, würde uns das befreien?. Nein. Denn das wirklich ausbruchsichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.”

So weit zum düsteren Umhang und Inhalt dieses Romans, der geschickt subtile Spannung mit Ästhetik, vielen Ideen und einem ständigen Neubewerten der Perspektiven verbindet. Es ist eine Geschichte wie ein Abenteuer und doch ist auch eine lange, sich herauskristallisierende Botschaft über die Realität der Träume und die Träume der Realität, und das, was dahinter ist, wartet, unerreichbar, weil die Träume der Weg dahin, dieses Ding aber nicht das Ziel ist.

Ich habe mich, nach einer atemberaubenden Lektüre der 790 Seiten, schwer damit getan, das Buch aus den Händen zu legen. Das liegt zum einen an der wirklichen brillanten Erfindung, die Pessl ins Zentrum ihres Romans gestellt hat: dieses Symbol eines Künstler, in dessen Widerschein all die Fragen nach authentischer und vollendeter Kunst, in Verknüpfung mit Leben, Ethik und Wirklichkeitssinn, mit Sein und Darstellung, zu Tage treten und in der sich die allgemeine Verzerrung des Wirklichen durch Fiktion, Internet, Meinungen und Mythos so anschaulich zeigt, wie es nur selten umfassend gelingt, wenn man es nicht durch das vielschichtige Erleben einer gut erzählten Geschichte aufbereitet.

Wirklich gut erzählt, denn Marisha Pessl ist zugleich eine wunderbare Stilistin, die Spannung, Ruhe und Nähe, aber auch ein Aufleuchten vollendeter Bildschönheit im Vergleich, erreichen kann. Eine kleine Kostprobe:

“Der Morgen schien den Himmel müde mit einem Schwamm abzuwaschen, er tauchte die Straßenschilder und Frontscheiben in ein trübes Badewasserlicht, während der Rhythmus des Highways unter den Reifen pochte.”

Immer wieder hat sie einen impressionistischen Blick für die Umgebung, die Stimmung, und man fühlt sich im ganzen Buch jederzeit wie in einer gelungenen Kulisse, in der nie zu wenige und nie zu viele Details anwesend sind, in der die Lesevorstellung eine Anregung, einen Rahmen, aber keinen Käfig hat; manchmal erzählt sie ganz unverfänglich dahin – und dann ist es wieder so, als würde das Buch plötzlich unserem Herzschlag lauschen und ihn Stück für Stück mit neuen Impulsen füttern. Man würde nicht von einem hochgestochenen oder kunstvollen Werk reden, aber von einem sehr sprachbewussten Roman, der in jeder Szene genau weiß, was er will und was er kann, was er sagt und was besser ausdeutbar bleibt; wo also wir selbst entscheiden müssen welches Erleben der Augenblick in uns nachvollzieht.
Pessl hat ihren Roman und auch ihre Hauptfiguren etwas zwischen die Stühle gestellt. Bolano, Auster, Kafka – ein paar Namen fallen einem am Rande als Verwandtschaft zu diesem und jenem Augenblick, dieser oder jener Struktur ein, wenn man ihr Buch durchwandert. In seiner Konsequenz und seinen vielen Ebenen ist das Buch jedoch eine sehr eigenständige Schöpfung, auf gewisse Weise einfach und doch sehr innovativ in der Wirkung. Das Gespinst aus Figuren, Ansichten und Entdeckungen, hat dabei immer etwas von einer Balance aus Schein und Suggestion, in welchem sich sehr selten ein Moment ergibt, den man ganz real nennen kann, was wohl auch daran liegen mag, das der Roman aus einer Ich-Erzähler-Perspektive erzählt wird und alle anderen, auch die beiden anderen Hauptfiguren, nie ganz die Fülle eines durchschaubaren Charakters erreichen. Über das ganze Buch ist diese Stimmung der Nacht und ihrer fließenden Grenzen gelegt, als hätten wir den eindringlichen, somatischen Prolog, mit seinem fesselnden Eindruck, nie verlassen.

Bei all dem ist das Buch keine letzte Konsequenz, auch wenn man es atemlos liest und für die paar Stunden, in denen man dieses Buch liest, existiert auch wenig anderes. Aber es ist mehr wie ein guter, düstrer, eindringlicher Film, als ein Roman, der vorhat, sich am Ende selbst zu erfassen. Er bleibt ein ausdeutbares Spiel mit vielen, vielen Möglichkeiten – und es ist dieses Spiel der Möglichkeiten, das ihn so großartig macht und ihn uns immer wieder neu betrachten, einschätzen lässt. Man ist gefangen in der Lektüre (beinahe im wahrsten Sinne des Wortes) wie einem Labyrinth – doch es geht nicht darum, den Ausgang zu finden, sondern zu erkennen, das manche Phänomene, vielleicht sogar das Leben selbst, eben ein Labyrinth sind.

Das Leben hält uns immer wieder einen ganz anderen Herzschlag hin. Wir gehen durch Zeiten, Stimmungen und Tage und wir verändern uns und die Welt verändert sich. Immer wieder können wir Erfahrungen machen, außergewöhnliche Erfahrungen. Zu diesen gehört Marisha Pessl Roman “Die amerikanische Nacht”. Für mich ist es das Buch des Jahres.

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*Diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.

-Essenz der Nacht, wie sie uns einnimmt und verstößt wie Wellen-: “Nachtflug” von Saint-Exupéry


“Vor einem offenen Fenster blieb er stehen und umfasste mit innerem Blick die Nacht. Sie schloss sich um Buenos Aires, aber auch um ganz Amerika, wie um ein riesiges Schiff. Nichts ungewohnte für ihn, so im großen zu denken. Der Himmel von Santiago de Chile, ein fremder Himmel – aber war einmal ein Kurier unterwegs dorthin, so lebte man, von einer Linie bis zur anderen, unter derselben riesigen Wölbung.”

Als beeindruckende Dokumente von Schicksal und Dasein des Menschen haben sich seit jeher weniger die philosophischen Schriften oder die politischen Reden, sondern ein paar Stücke der darstellenden Kunst in Text und Bild erwiesen. Es ist dort oft nicht der große Wurf, sondern das kleine, manchmal sehr ferne, spezielle Beispiel, das die Fragen nach Grund und Glück der menschlichen Existenz aufgreift und uns mit seiner Botschaft durchdringt, fesselt und sogar kurze Zeit bin in unsere Tiefen hinein erleuchtet. Es sind Bücher und Filme, denen wir nicht auf der Ebene “Betrachtung eines Kunstwerks”, sondern sehr viel persönlicher begegnen. Es geht darin nicht vorrangig um ein großes Geschehen und manchmal nicht einmal so sehr um die menschlichen Figuren, die daran teilnehmen (die mehr Blitze sind und nicht das Gewitter), sondern um das Wesen der Dinge selbst – wie es in Saint-Exupérys Buch “Nachtflug” um das Wesen der Nacht und die Taten des Menschen geht und wie sich beides zu etwas Unausweichlichem, Zentralen und Metaphysischen verbindet, wo sie aufeinandertreffen, und doch die nahe Spannung eines Erlebnisses behält.

“Rivière denkt an Herrlichkeiten, die in der Tiefe der Nacht verborgen sind wie in einem Fabelmeer… Die Apfelbäume, die den Tag erwarten mit all ihren Blüten im Finstern.”

Drei Flieger sind es, die die Nacht über Südamerika, von Chile, Patagonien und Ascension aus, durchfliegen, um in Buenos Aires zusammenzutreffen und dort die gesammelte Post für den Europaflug abzuliefern, der dann um 2:00 Uhr Morgens nach Osten abhebt. Jede Nacht ist es ein Spiel mit den Unwägbarkeiten des Wetters. Wo eben noch klarer Himmel ist, kann in zwei Stunden ein Sturmtief oder ein Gewitter sein und die Maschinen sind darauf angewiesen, regelmäßig zu landen und zu tanken und dazu braucht man in der Nacht klare Sicht. Es ist ein Tanz aus Erleichterung, Pflicht, Furcht und Dunkelheit und Glück, den Piloten und Organisatoren der Nachtlüge in jenen Stunden durchleben. Das Aufsetzten eines der drei Flugzeuge, die Wettermeldungen, die mit Angaben wie “zu drei Vierteln bedeckt” die Unruhe anfachen und die tiefe Bodenlosigkeit der Nacht erahnen lassen, diesem Geschöpf, das zugleich so freundlich, lieblich, unvergesslich und doch auch grausam ist – das alles kommt in diesem dünnen Buch, dieser kleinen Geschichte zusammen. Einer Geschichte, die, wie eine Meditation, keine wirklichen Aufs und Abs kennt, nur das Atemholen und das Atemanhalten; die gipfelt in der Nähe und der Entfernung, die in der Nacht zu einem Gefühl verschmelzen; die spricht von der Ratlosigkeit angesichts der großen Entfernung zwischen Ländern, Menschen, Sekunden und Stunden.

“Wir wollen nicht ewig leben, aber wir wollen nicht alles tun und alle Dinge plötzlich ihren Sinn verlieren sehen. Dann zeigt sich die Leere, die uns umgibt…”

In diesem Satz hat Saint-Exupéry etwas von dem eingefangen, was den Menschen ausmacht. Den Menschen der täglich arbeitet, der Entscheidungen treffen muss, bei denen es keine Gewinner geben kann, nur Betroffene und Nichtbetroffene. Die Piloten, die einsam kämpfen und andere, die für viele kämpfen und doch nur wollen, dass ihre Kinder nachts ohne Furcht schlafen können. Es ist die große, beinahe unscheinbare und doch interstellare Poesie und Kraft, die dieses Buch so beeindruckend macht; es trägt einen die ganze Zeit, während der ganzen Lektüre zieht es einen mit sich, stets bang und doch unentwegt. Als hätte es der Autor geschafft, unseren eigenen Herzschlag an das Geschehen anzuschmieden, was sich erst knapp vor dem Ende langsam löst.

Es gäbe noch viele Zitate, viele Anmerkungen, denn der Raum, den dieses Buch durchschreitet, ist nicht abzumessen; jeder Tropfen Poesie daraus zieht weite Kreise in der eigenen Seele, im eigenen Verstand und es ist letztlich die eigene Entscheidung, wie man mit den Intuitionen zwischen Buch und Leser umgeht. Die Tatsache, dass dieses Buch wie ein Dialog ist, dem man lauscht und so eigene Fragen sich aufwerfen und eigene Ansichten und Momente erkannt werden, macht dieses Buch zu einem kleinen, freien Meisterwerk. Einem Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

“Des Menschen Schicksal scheidet sich an der einzelnen Tat, in einer Welt voller Menschen, die du Leben nennen kannst oder auch Glück – es gibt keine Namen, es gibt keine Versprechen: es gibt Tag und Nacht.”
Rene Char

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Kleine Impression zu Cocteaus “Kinder der Nacht”


“Ich will nicht schlafen. Das lässt sich nicht träumen.”
Aus einem Gedicht von Günter Grass

“Ob ich schreibe, ob ich filme, ob ich male – ich errege Anstoß.”
Jean Cocteau

Cocteau ist einer dieser Dichter (denn als Dichter bezeichnete er sich sein Leben lang, auch wenn er vor allem Filme machte und Prosa schrieb) die einem durch den Verstand wirbeln, weil sie so originell und doch im Ganzen so natürlich und nah sind. Seine somnialen, geschmückten Gedichte, seine fassende Art zu erzählen und seine klar ausgerichtete künstlerische Freiheit, die ohne Diktum Phantasie mit Beschwörungen des Realen vereint, machen ihn und auch dieses wundervolle Buch zu Lichtgestalten in einer in der Literatur vorherrschenden Grautönigkeit. Kinder der Nacht ist zwar ein Abgesang, aber auch ein Loblied und diese beiden Dinge in einem Buch zu verbinden, gelingt sehr selten und ist meist ein berauschendes, einmaliges Erlebnis.

Dabei ist an diesem Buch vom Inhalt her nichts Lichtes. Die ganze Zeit schwankt es in einer zwie-bedrohlichen Dämmerung umher; der Hauptteil der vielen, lebendigen Gefühlsoffenbarungen spielt sich in der Nacht ab, denn die beiden Geschwister Elisabeth und Paul sind nun mal “Kinder der Nacht”. In der Dunkelheit erscheinen ihre Obskuritäten, ihre Weltverlassen und -vergessenheit wiederum nicht zwingend als etwas Abnormales, nicht als abwegig, sondern geradezu unausweichlich, richtig und geradezu wahrhaftig, wenn auch immer noch leicht märchenhaft, leicht überirdisch, wie eine Szene aus einer flüchtigen, tieferen Welt.

Ich zögere genaure Angaben über den Inhalt zu machen, denn jede Festlegung scheint mir bei diesem Buch wie eine Ausfahrt, wie ein Ablenken von diesem wunderbaren, ganz in sich stimmigen Wunsch nach einer reinen Geschichte, den man während des Lesens als Ahnung ins Blut geimpft bekommt. Weder ist dieses Buch ein surrealistisches Buch, noch kann man es einen realistischen Roman nennen; auf wunderliche Weise bezieht es aus beidem sein Nötigstes und lebt zwischen beidem wie im Schwebezustand, der die eigentliche Fülle des Buches erst möglich macht, verdichtet. Jeder Satz, jeder Absatz ist wie ein kleiner Atemzug; das Buch als Ganzes eine eingefasste Welt aus Luft, durch die der Schnee von Träumen, Phantasien, Schraffuren von Sehnsucht und Verlangen, ein Eindruck aus Wünschen und Verliebtsein fällt; dann und wann liest man hinter dem Gestöber die Keilschrift der Wirklichkeit.

Eigentlich ist das Buch eine einzigartige Liebesgeschichte; aber auch eine sensible Studie zu den Emotionen der Kindheit, eine Elegie von der Furcht und dem Versuch sie zu vertreiben oder ein Versteck vor ihr zu finden, ein Traum von überlebendigen Regungen und ein Kunststück traurigbizarrer Atmosphäre. Jeder sollte dieses Buch auf seine Weise erfahren, denn es steckt darin ein Urbild unser selbst, die wir, der Kindheit entwachsen, immer noch glauben, dass unsere innere strömende Welt mehr zählt, als jene sich verzahnende dort draußen.
Cocteau hatte also Recht: Er erregt Anstoß. Aber nicht irgendwo draußen in der rohen Materie, sondern ganz tief drinnen, vielleicht bei etwas ganz Vergessenem …

 

 

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