Die wenigen klassischen Motive in den Erzählungen des Abendlandes: Tod & Sex (unumgänglich an das Moralische gebunden, gerne mit einem Schuldmotiv verknüpft), die Spannung zwischen Fremdem und Eigenem (Lebenseinstellung & Bewältigungsarten), das Wissen und die Unwissenheit, der Kampf (oder eher: die Gewalt), Gut und Böse, Vertrauen und Verrat (Anziehung und Enttäuschung) und schließlich das Gefühl, die Vernunft und das Selbst als eine Dreieinigkeit aller Figuren. Alle diese Motive sind natürlich eng miteinander verwoben, überschneiden sich häufig um neue Facetten zu bilden und das Ganze ließe sich weiter herunterbrechen oder auch noch breiter einteilen.
Die mögliche Umgebung, der Raum für diese zentralen Motive, ist nicht mehr und nicht weniger als das Universum, mit allem was in seiner Breite existiert(e) und zusätzlich allem, was man sich in/zu ihm ausdenken kann. Jede Umgebung in einem Roman (ob historisch oder geographisch oder beides) ist bestimmt durch einige Aspekte, die untermalend wirken können oder zu wesentlichen Konfliktpunkten in der Handlung werden. Jeder Roman muss in die Motive und die Umgebung die er wählt, seine Figuren weben, und daraus entstehen lassen, was wir Erzählung, Geschichte nennen; doch ist der Roman noch etwas mehr als die Summe seiner Teile, nicht bloß Geschichte, hinter der Motive stehen und nicht nur Motive, die in einer Geschichte lebendig werden. Der Roman ist die Komposition, in der sowohl die Motive als auch die Geschichte nie ein Monopol innerhalb der Leseerfahrung erlangen können und dürfen; das Ganze ist an die Dualität dieser Elemente gebunden, die (ähnlich wie im Leben die Dualität von Handlung (Entscheidung) und Geschehen) nie komplett aufgeschlüsselt oder aufgelöst werden kann.
In „Euphoria“ breitet Lily King ein Drama um eine Dreierkonstellation, nebst der Charaktererforschung (von Menschen und Ethnien), aus, gekleidet in ein halbhistorisches Gewand (welches manchmal gut, manchmal etwas zu bemüht unterstrichen wird, indem mal kurz, am Rande, einige Ereignisse des jeweiligen Jahres erwähnt werden). Die Geschichte spielt fast die ganze Zeit (von Rückblicken abgesehen) auf der südpazifischen Insel Neuguinea, eine Kulisse, die nicht überstrapaziert wird und die Handlung sehr gut umgibt. Alle drei Hauptpersonen sind Ethnologen und hierhergekommen um die Völker am Fluss Sepik zu erforschen, die zu dieser Zeit (30er Jahre des 20. Jahrhunderts) bis auf wenige Kontakte noch recht abgeschieden von der Zivilisation leben. Das Buch wird aus der Perspektive des dritten Forschers, der zu den anderen beiden (einem Ehepaar) dazu stößt, erzählt; dann und wann gibt es kleinere Kapitel mit Tagebucheinträgen der Frau.
Der lange Exkurs über Motive zu Anfang dieser Rezension rührt daher, dass ich finde, dass King in dem Roman ihre Motive nicht gut ausbalanciert hat. Man sollte in der Kunst immer auf das Gelungene eingehen und auch auf dieser Seite gibt es bei Lily King viel zu finden: gut recherchierte und aufgemachte Umgebung, faszinierendes Setting, vielfältige Konfliktpotenziale und Themen. Doch trotzdem wirken andere, widerkehrende Elemente, wie etwa der Kindeswunsch, die Rituale der Eingeborenen, die Spannung zwischen den Eheleuten, der Mutterkomplex, die toten Brüder, die Kriege, das Schreiben, sowie das Mysterium, welches die Arbeit des Ethnologen umgibt, noch nicht ganz ausgereift, nicht ganz wie aus Fleisch und Blut. Nun könnte man argumentieren, dass es nur realistisch ist, dass vieles (zumal man die Geschichte nur durch die Augen einer Figur sieht) unklar und entlegen, unabgeschlossen und verschwommen bleibt und eine allzu runde Darstellung dem Roman die Nähe zum Leben nehmen würden und daher nicht jedes Motiv ausgeführt werden muss, sondern unter der Oberfläche bedacht werden kann.
Dennoch entstand bei mir nach der Lektüre (das Buch ließ sich sehr zügig dahinlesen) ein unguter Nachgeschmack. Irgendwie war das Ganze zu einfach, vom konfliktbeschwörenden Anfang bis zum von Schuld aufgeladenen Ende. Vieles von der Geschichte war während des Lesens widerstandslos in mich hineingeglitten, aber am Ende blieb wenig übrig, von den Figuren, den Völkern, dem Hintergrund und Vordergrund der Erzählung. Ich hatte das ungute Gefühl einen Roman konsumiert zu haben, der so geschrieben war, dass er keinen Moment langweilig, schwierig oder zu fixiert wirkte, dabei aber aus den Augen verlor, wie er hätte anecken, seine Figuren vertiefen und seine Perspektive hätte wandeln oder neu ansetzen können.
Die Perspektive, auch so ein Problem. Es ist eine sehr legitime und interessante Entscheidung die Geschichte aus der Sicht einer Person zu erzählen; es ergeben sich Möglichkeiten für Zwischentöne, Interpretationen des Lesers, die von den Betrachtungen des Protagonisten abweichen, einfach, weil er dessen Perspektive reflektiert und noch anderes. In “Euphoria” wirkt diese Entscheidung allerdings manchmal etwas unglücklich, um nicht zu sagen hinderlich. Es fehlt an Reibungsflächen, da der gewählte Protagonist oft zaudert und in seiner meist beobachtenden Position wie ein vielwissender Erzähler wirken kann, bevor einem wieder seine beschränkte Perspektive bewusst wird, meist dann, wenn etwas interessantes aufkommen könnte. Anders gesagt: die Möglichkeiten dieser Perspektive wären viel größer gewesen als in der Umsetzung geschehen.
Viel, was ich in dieser Rezension angesprochen habe, mag Geschmackssache sein. Alles in allem ist “Euphoria” ein gut geschriebener und faszinierender Roman; was ihm meiner Meinung nach fehlt ist ein Funke, ein Ausbrechen, eine Potenzierung seiner Anlagen. Es ist ein solides Buch, dass sich immer wieder erdet und nichts riskiert, dass den Mut zu mehr Länge, Material und Epik hätte aufbringen müssen. Für eine Novelle oder Erzählung ist es zu sehr ein Roman; für einen Roman ein Schwimmen in einem flachen, zu kleinen Gewässer. Man kann das Buch gut konsumieren; festsetzen wird es sich aber kaum.