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Ein Abstieg in die dunklen Tiefen der Manipulation


370e89085a36280e7bffcfc250ecfcf77739bdad-00-00 1955 veröffentlichte Vladimir Nabokov einen Roman, der bis heute von einigen als (sprachliches) Meisterwerk gepriesen wird, während andere ihn für seinen problematischen Umgang mit dem Thema Kindesmissbrauch kritisierten und kritisieren. In “Lolita” verfällt der Protagonist Humbert Humbert der 12jährigen Dolores Haze und entführt sie, nach dem Unfalltod ihrer Mutter, auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten, auf der er sie systematisch sexuell missbrauchen will.

Schockierend, abgesehen von der generellen Natur ihrer Beziehung, ist, dass nicht etwa Humbert Lolita im weiteren Verlauf der Handlung manipuliert, vielmehr ist es umgekehrt: Lolita, die bereits Erfahrung mit Sex hat, lässt sich auf Humberts Wünsche ein, allerdings nur um sein Begehren und seine Verliebtheit ausnutzen; sie verlangt Geschenke von ihm und setzt ihren Willen bei verschiedenen Punkten durch, entzieht sich Stück für Stück – und verlässt ihn schließlich für jemand anderen. So zumindest die Darstellung bei Nabokov.

Natürlich ist dies die Darstellung der Ereignisse aus der Sicht Humbert Humberts. Und er sieht sich als großen Liebenden, als jemanden mit einer verbotenen, aber reinen Passion. In dieser verqueren Logik könnte das, was er bei Lolita als Manipulation, als ein Ausnutzen wahrnimmt, auch schlicht ihr Versuch sein, zu überleben, irgendwie die Kontrolle über ihre Situation zu behalten.

Es ist diese Frage, dich mich bei “Lolita” immer am meisten beschäftigt hat: Inwieweit ist der Verbrecher Humbert gefangen in seiner eigenen Logik und Wahrnehmung der Welt? Oder anders gesagt: inwieweit verbiegt er seine Wahrnehmung und seine Logik, um sein Begehren als etwas Mögliches, etwas Gutes und Reines vor sich selbst darstellen zu können. Man kann gegen Nabokovs Roman viel vorbringen, aber diese Ambivalenz ist meiner Ansicht nach in dem Buch angelegt.

Kate Elizabeth Russell zieht die Geschichte von der anderen Seite auf (allerdings insofern entschärft, als ihre Protagonistin immerhin bereits fünfzehn ist und ihr Englischlehrer, mit dem sie schläft, eine wichtige, aber nicht die einzige Bezugsperson ist) und insofern war für mich bei Meine dunkle Vanessa ein Punkt besonders interessant: Inwieweit stellt sie das Opfer als gefangen in der Logik und Wahrnehmung des Täters dar? Ist ihre Protagonistin in den Bann dieser Logik/Wahrnehmung geraten und handelt deshalb so, wie sie handelt?

Ich wurde nicht enttäuscht. Meine dunkle Vanesse entpuppte sich als gründlicher und mitunter heftiger Abstieg in die Tiefen der Manipulation und zeigt auf erschreckende Weise, wie sehr Machtverhältnisse/-gefälle unsere Einschätzung von Situationen verzerren können und wie Menschen (in solchen Fällen meist Männer) durch Manipulation eine ganz eigene, für sie vorteilhafte Form von Wahrnehmung und Erinnerung kreieren können.

2013 schrieb die Autorin Alissa Nutting mit ihrem Roman Tampa ebenfalls eine Art Gegenstück zu Nabkovos “Lolita”, aber auf andere Weise. Ihre Protagonistin, eine Lehrerin, wird sexuell angezogen von Jungen an der Schwelle zur Pubertät. Obgleich sie sich weniger vormacht als Humbert Humbert und ihr Verlangen nicht in irgendeine Form von Überhöhung kleidet, ist sie wie er geradezu besessen davon, einige Jungen ihrer Schule zu verführen und geht immense Risiken ein.

Allerdings ging Tampa in meinen Augen, im Gegensatz zu Meine dunkle Vanessa, als Geschichte nicht ganz auf. Wohl auch deswegen, weil es schwerer ist, wenn der Täter eine Täterin ist und die Jungen, die sie begehrt, als sehr willens dargestellt werden, ihr Begehren zu erwidern; die klassischen Geschlechterstereotype machen den Missbrauch schwerer greifbar und die expliziten Sexszenen tun ihr übriges. Aber die größte Schwäche von Tampa würde ich, nach der Lektüre von Meine dunkle Vanessa, in der Psychologie der Figuren verorten.

Denn gerade die ist hier gelungen und macht dieses Buch so stark und besonders: es wird die Geschichte nicht nur aus der Opferperspektive erzählt, sondern sowohl die Psychologie des Opfers als auch die des Täters behutsam und trotzdem konsequent und umfassend herausgearbeitet. Wo Nabokovs Fokus eher auf Humberts Schwärmerei und Passion liegt und Nutting sich kaum um die Psychologie schert, sondern vielmehr auf Voyeurismus und Drastik setzt, gelingt es Russell fulminant zum Kern der eigentlichen Frage vorzustoßen: Was ist das für eine Beziehung, wie entsteht sie, was macht sie aus, was für Schäden richtet sie an?

Eine Frage, die natürlich in Abgründe führt, aber dergleichen vermag gute Literatur: uns in Abgründe führen, die Tiefen erforschen, ohne dass wir uns hinabstürzen, uns darin verlieren müssen. Meine dunkle Vanessa schont die Leser*innen sicher nicht, aber in dieser Schonungslosigkeit liegt auch die große Kraft dieses Buches. Dennoch: Triggerwarnung. Nur lesen, wenn man auf einen Abstieg gefasst ist.

P.S.: Nicht nur der Vollständigkeit halber will ich hier auch noch das Buch “The cat came back/Die Katze kam zurück” von Hilary Mullins erwähnen, ein Jugendroman, allerdings ein sehr reifer (und das einzige Werk der Autorin). Er hat die Form eines Tagebuchs, geschrieben aus Sicht der 17jährigen Stevie, die ebenfalls eine schon länger andauernde Beziehung zu ihrem Lehrer hat, die sie erst im Nachhinein als missbräuchlich begreifen kann. Bei Mullins geht die Selbstverleugnung der Protagonistin so weit, dass sie anfangs ihre Gefühle für ihre neue Teamkollegin Andrea verdrängt.

“Die Katze kam zurück” ist insofern besonders, als die Befreiung von der missbräuchlichen Beziehung darin mit der Entdeckung der eigenen Sexualität einhergeht. Erst im Nachhinein stellt Stevie fest, dass es in der Beziehung zum Lehrer nicht um Intimität oder Gefühle ging, sondern vor allem um Macht, besser gesagt: sein Vergnügen an der Machtausübung und ihrer Bereitschaft, Macht über sich ausüben zu lassen.

Im Übergang


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Ich muss zugeben, dass ich Mareike Fallwickls zweiten Roman mit einer gewissen Skepsis zu lesen begann. Zwar gefiel mir von Anfang an die Art, mit der sie ihren Plot aufzog, aber ich wurde nicht so recht warm mit den Passagen, die anfangs wie der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Story wirkten.

Aber zunächst kurz zum Aufbau: der Roman ist in drei Erzählstränge geteilt, die sich nach einem festen Prinzip abwechseln. Zum einen sind da die elf Kapitel, die von 10 auf 0 in den Überschriften heruntergezählt werden, geschildert aus der Sicht von Maximilian Wenger (oder einfach “der Wenger”, wie ihn alle nennen), einem ehemaligen Skandalautor und Krawallmacher, der sich nach der Trennung von seiner Frau in seinem neuen Leben nicht zurechtfindet und vor allem: nicht mehr schreiben kann.

Im zweiten Erzählstrang folgen wir der Geschichte von Zoey, Wengers Tochter, mit der er allerdings wenig Berührungspunkte hat. Sie steht kurz vor dem Schulabschluss und ihre Passionen sind die Fotografie und ihr ehemals bester Freund, zu dem sie nun in einem sehr unklaren Verhältnis steht. Sie fühlt sich aufgerieben zwischen ihrer Suche nach einer eigenen Idee für die Zukunft und den vielen, vielen Altlasten, allen voran der Versuch ihrer Mutter, sie zu einer Person zu machen, die sie nicht sein will. Die Überschriften ihrer Kapitel sind Hashtags.

Der dritte Erzählstrang ist jeweils zwischen den Kapiteln von Wenger und Zoey platziert (aber nicht zwischen denen von Zoey und Wenger). Er besteht aus Briefen, die an Wengers Adresse geliefert werden und an den alten Mieter seiner neuen Wohnung gerichtet sind. In ihnen erzählt eine Frau von einer großen Liebe und einem großen Schmerz und wie es dazu kam, dass sie erstere verlor und ihr letzterer zugefügt wurde.

Es ist dieser dritte Strang, mit dem ich am Anfang sehr zu kämpfen hatte. Nicht nur erschienen mir die Briefe bei aller Sprachgewalt wenig substantiell, es erschien mir auch nicht glaubwürdig, dass jemand so peu à peu seine Geschichte erzählt, anders gesagt: dieser ganze dritte Strang erschien mir auffällig konstruiert.

Ich habe diese Vorbehalte dann aber schnell hinter mir gelassen. Denn abseits dieser Briefe (und zum Teil auch in ihnen, was sich aber erst im Lichte der abgeschlossenen Lektüre fassen lässt) ist Fallwickl ein bestechender und beeindruckend realistischer Roman geglückt, in dem das Themenfeld um MeToo, sexuelle Gewalt und den ambivalenten Umgang mit beidem in vielen Facetten abgebildet wird.

Sehr schnell ist auch klar, dass die Briefe nicht Dreh- und Angelpunkt, sondern eher eine Art MacGuffin sind, also ein Katalysator, der die Handlung vorantreibt und an einem bestimmten Punkt der Story den entscheidenden Spin geben. Bis dahin ist etwas Geduld vonnöten, das Buch baut sein Setting langsam auf, dafür nachhaltig, wie man im späteren Verlauf merkt.

Letztlich ist “Das Licht ist hier viel heller” eine Geschichte des Übergangs. Es thematisiert, wie oben bereits angesprochen, sexuelle Übergriffe, aber lotet darüber hinaus auch sehr gut die Konzeption von Lebensentwürfen aus. Beide Protagonist*innen und auch einige andere Figuren befinden sich am Scheideweg und die Art, wie sie mit ihren jeweiligen Rückschlägen und Problemen umgehen, was sie motiviert, bildet sehr gut die gesellschaftlichen Tendenzen unserer Zeit ab.

Insofern ist der Roman beides: Eine Geschichte zweier (dreier) Menschen im Übergang und ein profunder Blick auf unsere Welt im Wandel (und Stillstand). Aber vor allem ist dieser Roman ein sehr lesenswertes Buch.

Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zu Margarete Stokowskis “Die letzten Tage des Patriachats”


Die letzten Tage des Patriachats Man muss schon den Hut ziehen vor Margarete Stokowski, wenn man diese gesammelten Kolumnen liest. Wie viele zentrale Themen unserer heutigen Gesellschaft und ihrer Verhältnismäßigkeiten darin aufgegriffen und angeschnitten, wie viele wichtige Anmerkungen zu Umgang, Perspektiven und Scheuklappen gemacht werden, wow. Und dann muss man noch einmal den Hut ziehen, wenn Stokowski hier und da durchblicken lässt, mit welcher Engstirnigkeit sie sich oft konfrontiert sieht, in Kommentaren, Zuschriften, etc., weil sie als Verfasserin dieser Kolumnen in Erscheinung tritt.

Der Band sammelt 75 von Stokowski ausgewählte Kolumnen aus den Jahren 2011-2018, die in zehn Themenkapiteln jeweils chronologisch angeordnet sind; viele von ihnen hat sie ergänzt durch Nachsätze, in denen sie Kommentare und Folgen zu den einzelnen Kolumnen schildert. Übergreifend kann man sagen, dass sie (bei Kolumnen nicht überraschend) oft einen Bezug zum Tagesgeschehen haben – aber Stokowski gelingt es fast immer, jenseits (oder eher diesseits) des Anlasses generelle Feststellungen anzubringen, Schlüsse zu ziehen, Symptome freizulegen und zu isolieren, Strukturen zu zeigen und eingespielte Problematiken zu benennen.

Ein zentrales Thema, das viele Kolumnen durchzieht, ist die Rolle von Frauen (und Minderheiten) in der Gesellschaft und ihre Stigmatisierung, die leider immer noch viele (sehr viele) Facetten und Gesichter hat.

Frauen haben immer noch weniger Geld als Männer, sie arbeiten seltener in Führungspositionen, sie erledigen die meiste Familienarbeit, und nicht wenige erleben sexualisierte Gewalt. Im Deutschen Bundestag sind im Jahr 2018 nicht mal ein Drittel der Abgeordneten Frauen. Frauen müssen in vielen Ländern für grundlegende Rechte kämpfen, und selbst dort, wo sie das nicht müssen, hören sie in den verrücktesten Situationen dämliche Kommentare über ihren Körper.

Es sollte jedoch niemand den Fehler machen, Stokowski deswegen für eine Agitatorin mit begrenzter Motivation und begrenzter Perspektive zu halten. Eins beweist sie in ihren Kolumnen mehr als einmal und ich bewundere sie enorm dafür: dass sie immer wieder gegen vereinfachte und festgesetzte, eingespielte und klischeegesteuerte Vorstellungen anschreibt und dass es ihr gelingt ihren Kolumnen (und hier setzt die Bewunderung ein) fast immer einen widerständigen, schlagfertigen Zug zu geben, eine Argumentation und Intonation aufzubauen, die sich auf knappem Raum wirkungsvoll und klug behaupten kann.
Stokowskis Texte zeigen: die Welt mag komplex sein, unübersichtlich vielleicht, aber es gibt doch sehr viel, das wir klar feststellen können, sowohl bei den Sachen, die im Argen liegen, als auch bei den Sachen, die gute Entwicklungen sind und jeden Unkenrufen trotzen können.

Bei Stokowski kann man außerdem lernen (nicht nur bei ihr, aber auch bei ihr), dass Feminismus eben nicht ein Versuch ist, Männer zu dämonisieren, unterzukriegen oder für ihr Mann-sein zu verdammen, sondern die generelle Emanzipation von Macht- und Diktionsstrukturen, sowie die längst fällige Aufhebung von zu enggezogenen Geschlechterbegriffen und Rollenbildern betreibt, zum letztendlichen Vorteil beider Geschlechter. Wie Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ schrieb:

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ungleichheit und Stigmatisierung haben, wie gesagt, noch immer viele Facetten. Großteils sind es eingefahrene, überholte, falsche Vorstellungen, gegen die sich der Versuch der Veränderung von Verhältnissen und Umgangsformen behaupten muss. Das fängt an bei der von vielen Medien geschürten und überall halbgar servierten „Angst“ (in diesem Kontext wirklich das falsche Wort), dass die Anprangerung von sexuellen Übergriffen und Sexismus, am Arbeitsplatz und anderswo, einem Verbot von Flirten und Begehren gleichkommt. Stokowski bringt die Fadenscheinigkeit dieser (und anderer) Panikmacherei auf den Punkt und schreibt am Ende:

Es gibt eine feministische Flirtregel, die man sich im Übrigen sehr leicht merken kann und die lautet [#wheaton’slaw]: Sei kein Arschloch. Fertig. That’s it. Unisex übrigens.

und an anderer Stelle:

Es ist mir ein Rätsel, wie man denken kann, irgendwas würde der Menschheit fehlen, wenn Sexismus, Belästigung und Missbrauch wegfallen.

Aber Stokowski lässt es nicht bei diesen Themen bewenden, sondern äußert sich ebenso pointiert, gewandt, kritisch und klug zu angrenzenden und anders gearteten Themenbereichen. Großartig ist ihre Kolumne zu „Germany’s next Topmodel“, die mir aus der Seele spricht; am liebsten würde ich das folgende Zitat bei ProSieben einblenden, während die Show läuft:

Die Sendung ist eine perverse, niederträchtige, menschenverachtende Geldmaschine, die kapitalistische Krönung von Sexismus und Neoliberalismus in Form von Frauendressur mit Product Placement, und eine überraschungsarme Aneinanderreihung von Erniedrigungen, bei der junge Menschen dafür ausgezeichnet werden, dass sie geile Gene haben und sich den Regeln der Jury unterwerfen, weil man als Model halt einfach auch mal machen muss, was der Kunde will.

Und sie spricht mir ebenso aus der Seele, wenn sie über die Verbindung von Sexualität und Werbung schreibt – eine Erscheinung, welche, so glaube ich, das Verhältnis zum eigenen Körper in den letzten Generationen mitunter schwer belastet hat, vom Frauenbild ganz zu schweigen und vom Männerbild, das auf dieses Frauenbild ständig anspringen soll, erst recht.

Wenn wir aber die nackten Körper oder Körperteile von Frauen nicht mehr trennen können von Sex oder Erotik, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein tief sitzendes. Wenn wir denken, dass wir nicht frei sind, weil nicht überall Brüste hängen oder Frauen halbnackt über Mietwagen robben, dann ist das ein schlechtes Zeichen für unser Frauenbild.

Auch auf die feinsprachliche Ebene geht Stokowski immer wieder – bspw. in einer Kolumne über die häufige Verwendung der Wörter „Krieg“, „Kamp“, „Frontlinie“ bei der Beschreibung von Diskussionen und Auseinandersetzungen zum Thema Gender und Feminismus. Die Kolumne trägt den rotzigen Titel „Hamse jedient im Genderkrieg?“ Stokowski klagt darin die fast schon brutale, zumindest zynische Gedankenlosigkeit bei der Verwendung dieser Worte an, die für eine gewaltsame und leidvolle, verheerende Erscheinung steht und schreibt u.a.:

Sagt mal: Frontlinie, Barrikaden, Krieg – haben die alle zu viel »Star Wars« geguckt. […] Es ist nur eine Metapher, sagt ihr. Nein, es ist unbedachtes Wörterkotzen. Metaphern haben einen Sinn, sie sollen etwas klarer oder schöner sagen. Wer aber von Krieg spricht, macht es weder klarer noch schöner, der sagt nur: Guck, wie sie sich prügeln. […] Hier meine These dazu: Das ist schlecht. Es klingt nach Eskalation, aber da eskaliert nichts. Da reden Leute. […] Krieg! Und dann bringt ein Mann eine Frau um, und was wird daraus? Ein »Beziehungsdrama«. […] So viel Feinfühligkeit darf man erwarten, nicht von Krieg zu sprechen, wo kein Krieg ist, und von Mord, wo Mord ist.

Und so geht es weiter – dreihundert Seiten Schlagfertigkeit, widerständiges und reflektiertes Denken, manchmal nonchalant serviert, manchmal um die Ohren pfeifend, mal von beißendem Spott, mal von klarer Anteilnahme begleitet. Ich erwische mich beim Lesen oft dabei, dass ich mir wünsche, dass Stokowskis Artikel die durchschlagende Wirkung erzielen, die sie für mich haben; dass Germany’s Next Topmodel dichtgemacht wird und Jens Spahns himmelschreiende Aussage zu Hartz IV als der politische Selbstmord gewertet wird, als der er hätte wahrgenommen werden müssen.

Wenn es wäre, wie Spahn sagt, und man hätte mit Hartz IV wirklich alles zum Leben, dann wären die Leute, denen das Geld nicht reicht, entweder unfähig oder gierig. […] Der Witz an Privilegien ist, dass man sie nicht die ganze Zeit fühlt, sondern dass sie Voreinstellungen der Macht sind, die einigen Menschen Dinge ermöglichen, die für andere wesentlich schwieriger oder unmöglich wären. Aber daraus ergibt sich Verantwortung.

Und für Verantwortung wirbt und kämpf Margarete Stokowski in diesen Texten. Für Verantwortung und Verständnis, fürs Hinterfragen und Empathisieren, sie wirbt darum und sie verlangt danach. Sie bricht Lanzen für Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, sie zerrt Hass und Rücksichtslosigkeit, Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit hervor und stellt sie bloß. Nach dreihundert Seiten kann ich nur noch sagen: Wir können froh sein, eine Stimme und eine Essayistin wie Margarete Stokowski zu haben. Sie hat zumindest mir dabei geholfen weiter zu denken als bisher, vielschichtiger mitzuempfinden, genauer hinzusehen. Wenn ein Buch das leistet, dann ist es ein verdammt gutes Buch.

Zu “100 Seiten – Emanzipation” von Katrin Rönicke


Emanzipation „Ja, das Ende des Mittelalters, die Reformation, der Beginn des Kapitalismus und die Demokratie haben viele äußere Zwänge abgeschafft – aber bei genauerem Hinsehen bringen sowohl die Neuzeit als auch der Kapitalismus und die Demokratie neue Formen von Ungleichheit und Diskriminierung mit sich“

Die Emanzipation rückt das menschliche Individuum und seine individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt und wendet sich gegen die Hoheit und das Diktum einer bestimmten Klasse, Ethnie, eines bestimmten Geschlechtes oder einer bestimmten Weltanschauung.

Emanzipation bedeutet wörtlich die „Entlassung aus der väterlichen Gewalt“, wobei man wohl eher von der „Befreiung aus“ sprechen müsste, denn selten wurden Menschen aus dieser väterlichen Gewalt freiwillig „entlassen“. Egal ob es um Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Anhänger*innen von Religionen oder anderen Gruppen von unterdrückten, stigmatisierten und diskriminierten Menschen ging – fast immer war Emanzipation ein Akt, der von ihnen ausging und nicht von einer herrschenden Macht ermöglicht wurde.

Und als eine solche Bewegung, ein solcher Zug zum Ungehorsam und zur Befreiung, wird Emanzipation auch nie aus der Mode kommen; jede Emanzipation, die von herrschenden Kräften vorangetrieben wird, sollte dagegen genauestens darauf abgeklopft werden, ob sie überhaupt emanzipatorisch ist oder nur als Freiheit verkauft werden soll, aber eigentlich im gewissen Sinne versklavt, Unfreiheit und Ungleichheit fördert.

„Menschen ringen nicht nur um die Emanzipation und den Fortschritt, sondern auch um Macht und Privilegien. Das eine kann dem anderen im Weg stehen.“

Katrin Rönicke hat in der 100 Seiten Reihe von Reclam eine wirklich fabelhaft vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema gewagt, zusammengesetzt aus einer Einführung, der anschließenden Konzentration auf verschiedene Schwerpunkte menschlicher Emanzipation in den letzten fünfhundert, vor allem aber den letzten hundert Jahren und außerdem Interviews (das erste mit Matthias von Hellfeld und das zweite mit Sineb El Masrar), biographischen Abrissen, Begriffserläuterungen.

Das Buch zeigt und begreift Emanzipation als Prozess und nicht als einmalige Tat. Es erzählt des Weiteren nicht einfach nur ein Märchen über Fortschritt, Liebe zur Freiheit und großen Errungenschaften, sondern zeigt die Schwierigkeiten in den Emanzipationsprozessen, in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. Zur Wahrheit gehört zum Beispiel auch, dass über lange Zeit Emanzipationsbewegungen nicht allen Menschen zugutekamen, meist nur den Männern, oft nur weißen Menschen; immer blieb irgendwer von neu erworbenen Privilegien aufgeschlossen. Eben deshalb sind die meisten Emanzipationsprozesse, die in dem Buch genauer in Augenschein genommen werden, noch längst nicht abgeschlossen.

Rönicke legt in ihrem Text Schicht für Schicht das Thema frei, beginnend bei der Historie, über die Befreiungskämpfe von Schwarzen und Frauen, endend bei der Digitalisierung; am Ende hat man eine umfassenden Eindruck davon, wo Emanzipation überall stattfindet – und stattfinden sollte. Zwischendurch geht sie auch sehr gut auf den Backlash-Effekt ein, also restaurative und regressive Prozesse (wie wir sie auch gerade in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft erleben).

Überhaupt beschreibt sie vieles überraschend einfühlsam (aber nicht gefühlig), was eine zusätzliche Stärke des Buches ist: einem wird das Thema nicht einfach hingeblättert, sondern nahegebracht.

Fazit: ein solches Thema kann nicht auf 100 Seiten ausgeschöpft werden, aber trotzdem deckt das Buch sehr viel ab, vor allem sehr viel Reflexives; und da hinten sogar einen Liste mit Lektüretipps enthalten ist (die ich ergänzen will um die Bücher von Margarete Stokowski, Ta-Nehisi Coates, Rebecca Solnit und Jessica Crispin), kann man das Buch auch als Ausgangpunkt sehen, als Anstoß. Viel ist schon passiert, aber vieles ist noch zu tun, im Großen, aber auch im Kleinen, wie Rönicke richtig anmerkt:

„wir brauchen noch immer viel Mut, wenn wir das Studium schmeißen, den Vater unserer Kinder verlassen, den Twitteraccount löschen oder den Job an den Nagel hängen wollen.“

 

Zu der Anthologie “Sagte sie – 17 Erzählungen über Sex und Macht”, erschienen bei Hanser Berlin


Sagte Sie „(auch habe mich bei der Körperpflege, beim Schminken, Sportmachen und Rasieren schon häufiger mit schlechtem Gewissen gefragt, für wen ich das eigentlich tue, wenn nicht für die Männer beziehungsweise in diesem konkreten Fall C., und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Wille und ihrer nicht mehr trennbar sind, das heißt: Sie würden mir das gleiche Kleid aussuchen wie ich.“
(Antonia Baum)

Eine Frau beginnt zu sprechen, an ein Publikum gerichtet, gleichsam als würde sie in einem Raum, der halb Bühne, halb Gerichtssaal ist, ihren Fall vortragen. Sie spricht von ihren Zweifeln, davon wie sie selbst nicht ganz genau weiß, wie sich abgrenzen soll von der Art, wie sie gesehen wird, wie sie gesehen werden will (und wie sich das beides bedingt), dass sie sich schuldig fühlt und nicht weiß, inwieweit sie das sollte, erzählt wie sie wieder und wieder als Frau in soziale Konventionen verstrickt wird, die sie oft als unangenehm, manchmal aber auch als angenehm empfindet. Das alles breitet sie aus, aber eigentlich will sie von einem Erlebnis mit einem Arbeitskollegen erzählen; einem netten Typen, der aber dann im Taxi übergriffig wird.

Schon in dieser ersten Erzählung von Antonia Baum zeigt sich die Ambivalenz, die dieser Band und seine Thematik aushalten müssen und der in den Erzählungen, wie ich finde, letztlich über weite Strecken vielschichtig und gut Ausdruck verliehen wird. „Setzen sie sich!“ ist als Einstiegstext die perfekte Wahl, denn er erzählt einerseits eine ziemlich klare Geschichte, ist aber andererseits in seiner ganzen Inszenierung facettenreich, inkludiert viele weitere Aspekte.

Baums namenlose Frau muss sich nicht nur Zwischenrufe aus dem Publikum gefallen lassen, der ganze Rahmen, in dem sie ihr Erlebnis schildert, bildet wiederum einen Aspekt der Problematik ab: wenn sie davon sprechen will, muss sie sich ausstellen, sie muss es sich gefallen lassen, beurteilt zu werden (entweder als Opfer oder als Mittäterin, was sie natürlich beides nicht sein will) sie muss sich rechtfertigen, sich erklären. Sie findet keine Position, in der sie wirklich über sich und das Geschehene reden kann, umringt von einem Wust aus Details und Überlegungen, die sich in für und wider aufteilen, als ginge es nur darum, ob das Urteil zu ihren Gunsten ausfällt – und nicht um das Verstehen ihrer schwierigen Position, um ihre Gefühle und deren Verletzung; um sie als menschliches Wesen, nicht als Fall.

Die folgenden Erzählungen von Anna Prizkau und Julia Wolf weiten das Thema „Sex und Macht“ auf ihre Weise aus. In Prizkaus „Boss“ ist der Job der Mutter an die Bedingung geknüpft, dass sie etwas mit ihrem Chef hat. Julia Wolfs Erzählung „Dickicht“ ist einer der eigenwilligsten Texte des Bandes, stark fokussiert auf die Eigenständigkeit des Narrativ. Er arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit den Motiven Angst und Verletzlichkeit, ohne sich klar zu positionieren, bleibt ausdeutbar.

Anett Gröschners „Maria im Schnee“ ist dagegen die knappe, schonungslose Schilderung einer Vergewaltigung. Die namenlose Frau wird von diesem Gewaltakt wie in zwei gerissen – der betrunkene Vergewaltiger glaubt in ihr eine andere Person zu erkennen, eine Maria. So erleidet sie die Vergewaltigung zweifach: in den eigenen Schmerzen und Gefühlen und in der Taten- und Hilflosigkeit der Betrachterin gefangen. Sie ist das Opfer, aber auch Maria ist das Opfer. Maria und alle anderen Frauen, von denen Männer glauben, sie würden gerne oder willig ihrem sexuellen Verlangen Abhilfe schaffen (sie wären dazu da) und man könnte das einfach jederzeit von ihnen erwarten, verlangen, fordern. Gröschner schildert den Vergewaltiger als verstörten Mann, als Individuum, das fast schon Erbarmen weckt; aber sie zeigt im selben Moment: auch hilflose Gesten können Gesten der Gewalt sein. Es gibt in den gesammelten Essays von Magret Atwood eine Stelle, wo es heißt:

»Wieso fühlen sich Männer von Frauen bedroht«, habe ich unlängst einen Freund von mir gefragt […] »Ich meine, Männer sind doch größer«, sagte ich, »meistens jedenfalls, können schneller laufen, besser würgen, und im Schnitt haben sie auch viel mehr Macht und mehr Geld.« »Sie haben Angst, dass die Frauen sie auslachen«, sagte er. »Ihre Weltsicht belächeln.« Und dann fragte ich in einem improvisierten Lyrikseminar ein paar Studentinnen: »Wieso fühlen sich Frauen von Männern bedroht?« »Sie haben Angst, dass sie umgebracht werden«, hieß es lapidar.

Und diese Angst vor männlicher Gewalt ist leider alles andere als unbegründet; alle Zahlen belegen, dass Männer sehr viel gewalttätiger als Frauen sind (nicht nur gegen Frauen) und ihre Motive ändern nichts daran, dass es Gewaltakte sind.

Der folgende Text von Annika Reich, „Der Fleck“, besticht durch seine Bilder, durch seine Art, sich an Dinge heranzutasten. Die Protagonistin ist mit ihrer Mutter in China und erlebt dort eine ungewohnt asexualisierte Atmosphäre. Diese Abwesenheit bringt ihre Protagonistin zum Nachdenken. Vor allem denkt sie darüber nach, was die sexualisierte Atmosphäre zu Hause mit ihr macht/gemacht hat:

Ich hatte keine fremde Hand mehr am Arsch. Keine Hand mehr am Arsch, keine am Busen, keine an der Hüfte, der Taille, dem Nacken. Die fremden Hände waren von mir abgefallen wie Gipsabdrücke, die abgetrocknet keinen Halt mehr fanden, keinen Halt und vielleicht auch keinen Gefallen mehr an mir. […] Mein Körper, hin- und hergerissen zwischen einer hingebungsvollen und einer straffen Beziehung zu sich selbst, meist gleichzeitig weich und verspannt, hatte sich im Hohlraum dieser Griffe geformt.

Außerdem gibt es da noch ein totgeschwiegenes Familiengeheimnis, über das Reichs Protagonistin endlich mit ihrer Mutter reden will. Die ganze Konstellation, zusammen mit den introspektiven Einschüben, breitet eine Palette von Themen aus: das früher vorherrschende (und bis heute angewandte) fast schon chronische Verschweigen oder Kleinreden von sexuellen Übergriffen in der Familie; die in der Gesellschaft immer noch präsente Vorstellung, eine Frau sei nichts ohne einen Mann ganz gleich, ob sie nun glücklich ist oder nicht; das Flirten als Erwartung, als Pflicht geradezu, als Aufmerksamkeitsvoraussetzung, und anderes.

In der Beziehung Mutter und Tochter wird der Generationenkonflikt – die alten Muster auf der einen, die langsam sich durchsetzenden Überzeugungen auf der anderen Seite – verhandelt, aber auch das generationsübergreifende Verständnis füreinander, weil die Erfahrungen trotzdem oft dieselben sind.

Einen spannenden Text hat auch Margarita Iov geschrieben: „Das Wasser des Flusses Lot“, eine Geschichte, irgendwo zwischen Parabel und feingesponnener Erzählung liegend, die ich bereits dreimal gelesen und noch immer nicht ganz durchdrungen habe. Sehr lesenswert, ich wünschte, ich könnte mehr dazu sagen, traue mir aber eine Analyse nicht zu. Anja Kümmel ist in ihrer Besprechung beim Onlinemedium Fixpoetry sehr gut auf diese Erzählung eingegangen.

Ich gebe zu, dass mich die nächsten beiden Texte – Anna Katharina Hahns „Drei Mädchen“ und Helene Hegemanns „The day I fucked her husband at the lake“ – etwas ratlos zurückgelassen haben. Ich kann sie im Kontext verorten, aber ihre Dynamiken verblüffen mich.

Hahn dreht den Spieß quasi um und schildert eine Kinderhortszene, in der die Mädchen als die stärkeren Personen auftreten, die Jungen dominieren und vielleicht auch ein wenig tyrannisieren. Ohne Zweifel ein spannender Beitrag, der auch die unbequeme Frage nach der generellen Problematik von Machtverhältnissen und ihrem natürlichen Zustandekommen aufwirft.

Hegemann wiederum erzählt eine Geschichte von einigen Aussteigern, die – halb Hippies, halb Millennials – am Meer in Kanada leben, ohne Strom, fließend Wasser – und ohne Sorgen. Hegemann verhandelt zwar gut die Themen Anziehung und Begehren (deren Individualität), und wie Rollenbilder, Besitzverhältnisse, etc. Einfluss darauf haben, trotzdem kommt ihr Text ein bisschen aus dem Nichts und verschwindet dort auch wieder, hat irgendwie keinen wirklichen Dreh- und Angelpunkt. Möglicherweise ist das aber auch ein Feature und kein Fehler.

Anke Stellings Text „Raus“ schildert die langsame Entfremdung der Ich-Erzählerin von einer befreundeten Dichterin, die von ihrem Mann tyrannisiert und nach allen Regeln der Kunst untergekriegt und abgeschottet wird, ohne, dass sie sich dazu in der Lage sieht, etwas dagegen zu unternehmen. Einer der geradlinigsten Texte, einer der psychologischsten.

Nora Gomringer entfaltet in ihren Monologen „aus dem dazwischen“ ein Kaleidoskop von Ansichten und Erlebnissen, angefangen beim noch nicht in die Pubertät eingetretenen Mädchen, das einen Übergriff durch einen Typen im Schwimmbad erlebt und beschließt, möglichst unauffällig, möglichst unattraktiv zu werden, um nicht mehr in Gefahr zu sein (denn nur als solche nimmt sie Begehren nun wahr: als Gefahr) bis zu einem Mann, der darüber klagt, dass er nicht mit allen Arschlöchern in einen Topf geworfen werden will, nur weil er einen Penis hat, den er schön findet, ebenso wie er Frauen schön findet und begehrt, während er damit hadert, dass sein Begehren auch als etwas Unerwünschtes wahrgenommen werden kann, als eine Zumutung.

Jackie Thomaes Beitrag „Unsexyland“, in einer nahen Zukunft spielend, überzeugt vor allem als klassische Narration, enthält eine der besten szenischen Schilderungen und zeichnet, ähnlich wie der Text von Hegemann, sehr gut Begehrensstrukturen nach, ihr Durchhaltevermögen, gleichsam ihre Irrationalität und ihre Fragilität.

Ein bisschen enttäuscht war ich von Margarete Stokowskis „Zurück“. Als großer Fan von „untenrum frei“ und der dort vorherrschenden, gelungenen Verquickung von Erlebnisbericht und essayistischer Ausformung, erscheint mir dieses Prosastück etwas blass, die Figurenkonstellation etwas zu gewollt. Vielleicht ist es eine wahre Geschichte – wenn sie fiktiv ist, wirkt das Nebeneinander zweier Thematiken (Obdachlosigkeit und sexueller Missbrauch – wohlgemerkt: nebeneinander, nicht in einer Figur zusammengelegt), etwas überinstrumentiert. Möglicherweise tue ich der Erzählung Unrecht – und mir ist klar, dass es problematisch ist, zu einem Text mit dieser Thematik einfach Geschmacksurteile abzugeben. Möglicherweise habe ich die Idee hinter dieser Zusammenführung nicht ganz verstanden.

Kristine Bilkaus „Die kurze Zeit der magischen Logik“ fängt einen weiteren Aspekt der Thematik Geschlecht und Macht ein. In ihrer Geschichte erlebt eine Mutter, wie ihre Tochter beim Spielen von zwei Jungen geärgert wird, ohne, dass die Jungen dafür von dem befreundeten Elternpaar wirklich gemaßregelt werden – am Ende ist es ihre Tochter, die sich bei den Jungen entschuldigt, weil sie wieder mitspielen will.

Am Ende noch zwei Highlights. Zum einen Mercedes Lauensteins Dialogtext „Die Wahrheit“, der die Lesenden auf ambivalente, mitunter durchaus amüsante, dann wieder ernste Weise mit Erwartungsstrukturen konfrontiert, wie vor allem Frauen sie ständig durchlaufen müssen, durch sie hindurchgeschleust werden. Und ständig in der Lage sind, reagieren zu müssen.

Fatma Aydemirs Text „Ein Zimmer am Flughafen“, mit dem der Band schließt, berichtet wiederum von einem Übergriff und wie eine Frau diesen Übergriff jemand anderem anvertraut. Die andere Person kennt den Übeltäter: es ist sein Schwager. Er will sie zu einer Aussage überreden, damit seine Schwester den Mann verlassen kann. Sie leugnet alles, zieht sich zurück. Im Licht dieser Erzählung wird noch einmal deutlich, was ein Übergriff mit einer Person macht, wie Machtausübung auch abseits des tatsächlichen Aktes geschieht, wie toxisch sie ist und wie viele Spuren von ihr zurückbleiben.

„Sagte Sie“ ist nicht nur ein Buch über sexuelle Gewalt, aber in jedem Text werden Gefälle sichtbar, zeigt sich die Schmalheit der Schwellen, an denen sich Begehren in Übergriffigkeit, Reiz in Gewalt, Interesse in Machtausübung verwandelt. Es erzählt, anschaulich und vielschichtig, und in seinen Erzählungen wird deutlich und ersichtlich, wie sehr menschliches Zusammenleben von den Auswüchsen der Problematik „Sex und Macht“ überzogen, umrankt, teilweise überwuchert wird; nicht in jedem Fall, aber oft genug.

Deswegen ist der Band lesenswert, sollte gelesen werden: als Auseinandersetzung, die viele Dimensionen abdeckt, die schildert, die den wichtigen Klartext mit wichtigen Zwischentönen versieht (ohne den Klartext damit zu untergraben). Das Buch sucht den Dialog und stellt gleichzeitig die Dinge dar, schlicht und direkt. Ich habe viel Eindrückliches mitgenommen und gleichsam viele Denkanstöße.