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Zu William Boyds “Die neuen Bekenntnisse”


Die neuen Bekenntnisse Bevor ich “Die neuen Bekenntnisse” las, hatte ich schon “Eines Menschen Herz” von William Boyd gelesen, ein Buch, das ich nur wärmstens empfehlen kann – vor allem den Leuten, denen “Die neuen Bekenntnisse” gefallen haben. Zwischen den Büchern gibt es ein paar Parallelen (nicht zu viele, aber sie fallen doch hier und da auf). Beiden gemein ist außerdem der epische Atem, in beiden Fällen wird ein ganzes Leben mit all seinen Auf und Abs, Ecken und Brüchen festgehalten.

Im Fall von “Die neuen Bekenntnisse” ist es das Leben von John James Todd, der in Schottland geboren wird und aufwächst und später, nach den Höllenfeuern des 1. Weltkriegs, im Berlin der Zwischenkriegszeit Stummfilmregisseur wird. Sein ehrgeiziges Ziel: die dreiteilige Verfilmung von Jean-Jacques Rousseau “Bekenntnissen”. Sämtliches technische Know-how der Zeit und viele innovative Einstellungen sollen den Film zu einem einzigartigen, sinnlichen Erlebnis machen. Aber Todd, so sehr er auch Künstler ist, kommt immer wieder das Leben und die Geschichte in die Quere…

Die Geschichte wird erzählt vom über 70jährigen Todd, der auf einer kleinen Mittelmeerinsel lebt und die Tage damit verbringt, alle seine Korrespondenzen und sonstigen Papiere zu sortieren und eben dieses “ehrliche” Buch über sein Leben zu schreiben, orientiert an der Offenheit von Rousseaus “Bekenntnissen”, dem Buch, das sein Leben prägte. Nach jedem Kapitel, das einen Abschnitt seines Lebens erzählt, reflektiert er seine Taten, leitet zum nächsten Teil über. Auf der Insel deuten sich allerdings auch ein paar letzte spannende Entwicklungen an.

Boyd bettet seinen Protagonisten, wie schon in “Eines Menschen Herz”, geschickt in die Geschicke und Ereignisse des Jahrhunderts ein; herausgekommen ist ein wendungsreiches Buch mit Sogwirkung, das dennoch eine gewisse Noblesse ausstrahlt. Boyd gelingt es, Todd eine sehr authentische Gefühlswelt zu verpassen – er ist ein gleichsam irritierender und doch sehr anschaulicher Charakter. Gepaart mit Boyds Gespür für die Grenzen des Individuums und den Wahn der Zeit, ergeben sich aus dieser Tatsache immer wieder intensive Szenen und Verläufe.

Die große Stärke von “Die neuen Bekenntnisse” und der Grund für die großartige Sinnlichkeit, die manchmal in dieser Prosa liegt, ist aber die (genau richtig dosierte) Detailverliebtheit, mit der Boyd die Arbeit von Todd, seine künstlerische Vision, schildert. Die spannende Geschichte tut ihr übriges, aber es sind die ungeheuer lebendigen und eindrücklichen Beschreibungen der Drehorte, Kameraeinstellungen, Ideen, die dieses Buch zu einem wirklich lesenswerten literarischen Werk machen, das in keinem Bücherschrank fehlen sollte.

Zu “Trumps Amerika” von Martin Klingst


Trumps Amerika„Dieses Buch widmet sich Trumps Wählern. Sie vor allem kommen zu Wort, mal in einer Reportage, mal in Form einer Gesprächsaufzeichnung. Trumps Wähler erzählen, was sie beschäftigt und auf die Barrikaden treibt, wie sie leben, was ihnen Sorgen macht und insbesondere, was sie am 8. November 2016 dazu bewogen hat, ihr Kreuz bei Donald Trump zu machen.“

Martin Klingst kennt die Vereinigten Staaten sehr gut. Nicht nur war er jahrelang Korrespondent der ZEIT in Washington, er verbrachte auch mit 16 Jahren einen Schüleraustausch in Colorado, kennt viele Leute in anderen Staaten des „Mittleren Westens“.

Hier, in diesen Gebieten der USA, verortet er auch den Grund für den Sieg Donald Trumps; genauer in der weißen Mittelschicht und Arbeiter*innenklasse, deren Lebensstil in den letzten Jahren nicht nur durch finanzielle Schwierigkeiten tangiert wurde, sondern die sich generell „fremd in ihrem Land fühlen“, wie Arlie Russell Hochschild es in ihrem ebenfalls lesenswerten Buch zusammengefasst hat. Oft sind es Verlierer*innen der Globalisierung, sie finden sich nicht mit dem Abbau traditioneller Werte zurecht, mit dem Fokus auf die Städte und Themen wie Umweltschutz, Gender und dergleichen und fühlen sich von der Politik der letzten Jahre mehrheitlich im Stich gelassen; auch stellen sie längst kaum mehr die Mehrheit der Wähler*innen.

Klingst lässt in seinem Buch viele von Ihnen selbst zu Wort kommen (schön ist, dass er dabei fast ebenso viele Frauen wie Männer auswählt). Er korrigiert, in Fußnoten, nur ihre gröbsten sachlichen Schnitzer oder erläutert die komplexeren Hintergründe, lässt ihre Positionen aber ansonsten unangetastet. Und in den meisten Fällen sind diese Positionen sogar erstaunlich unproblematisch. Denn abgesehen von einem Vorzeigerassisten zeigt dieses Buch keine Personen mit überaus extremen Ansichten, sondern Menschen mit schlichten, sich nur in manchen Ecken zuspitzenden Überzeugungen und dem Wunsch nach einer Welt, in der sie mit diesen Überzeugungen und ihrem eigenen Ethos existieren können.

„Auch das möchte ich in diesem Buch zeigen. Sie haben mich mit offenen Armen empfangen, mich stolz herumgeführt, fürstlich bewirtet und mir ihr Herz ausgeschüttet. Es gibt keinen Grund auf sie herabzusehen.“

Den gibt es in der Tat nicht. Natürlich fehlt vielen dieser Menschen (aber da sind sie nicht allein, wer hat den schon wirklich) der Überblick über das große Ganzen; man kann dem einen oder der anderen von ihnen eine begrenzte Perspektive vorwerfen und ihre Weltsicht ist durchaus durchzogen von Unverhältnismäßigkeiten. Aber viele ihrer Ansichten und Positionen wirken vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensumstände nicht gänzlich unberechtigt.

Erstaunlich ist in jedem Fall, wie unterschiedlich die Leute sind, die Trump gewählt haben, vom Harvard-Juristen bis zum Kohlebergbauarbeiter. Fast alle sind mit bestimmten Aspekten von Trumps Person und Politik nicht einverstanden, aber sie alle haben Punkte gefunden, in denen er ihnen, für ihre persönliche Lebenswelt, als einzig mögliche Wahl erschien. Und viele von ihnen sind zufrieden mit den ersten beiden Jahren seiner Politik – in ihrer Welt geht es tatsächlich oft ein wenig aufwärts. Natürlich müssen sie nicht die Kosten dieses Aufschwungs zu spüren bekommen.

Dieses Buch ist fast unverzichtbar, wenn man einen Einblick in das Seelenleben von Trumps gemäßigteren Wähler*innen bekommen will. Es sind Menschen, die sich auf Kennedy berufen (frage nicht, was dein Land für dich, frage dich, was du für dein Land tun kannst), die sich oft für die Inklusion, für gerechte Arbeitsverhältnisse und viele andere gute Dinge einsetzen – natürlich haben sie auch Angst um ihre Privilegien, gehen falschen Vorstellungen auf den Leim. Aber ihre Triebfeder ist selten der Hass oder eine stupide Ideologie, sondern meist der begreifliche Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.

Natürlich kann ein so schmales Buch nicht alles abdecken, aber ich glaube es hilft, die Gräben nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen und Vorurteile abzubauen (und dennoch Urteile sprechen zu können). Es hilft zu verstehen, wie leicht Trump als die richtige Wahl erscheinen kann. Für uns ist er einfach ein Vollidiot oder ein Monster. Für viele Amerikaner*innen ist er schlicht ein Mann mit gewaltigem Ego, unflätiger Sprache, der sich aber doch in Teilen für ihre Belange einsetzt.

Am Ende landet man wieder bei der Lüge des amerikanischen Traums. Solange ein Teil der USA sich weiterhin in diesem Traum wiegt, bleibt es eine gespaltene Nation, eine Nation in der Menschen wie Trump zum Präsidenten gewählt werden.

„Die Reise in ein weißes Land hat, so hoffe ich, ein kleines Fenster öffnen können in Trumps Amerika, in diese nahe und doch so ferne Welt. Denn auch wenn Donald Trump schon morgen Geschichte sein sollte, werden seine Wähler und deren Gedankenwelt bleiben.“

Zu “Welcome to Borderland” von Jeanette Erazo Heufelder


Welcome to Borderland Mexiko steht gerade, wie viele Länder der Erde, an einem Scheideweg. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador ist noch nicht Amtsinhaber (erst ab Dezember 2018) und hat bereits einige seiner radikaleren linken Positionen aufgegeben. Es wird spannend sein, zu verfolgen, wie er sich im Amt schlägt (immerhin ist er der erste halbwegs linke Amtsinhaber seit vielen Jahrzehnten) und wie er mit dem derzeitigen US-Präsidenten Trump zurechtkommt.

Jeanette Erazo Heufelders Buch nimmt eine Region in Augenschein, die sowohl für die Wahlkämpfe, als auch die Politik in den USA und Mexiko in letzter Zeit von entscheidender Bedeutung war: die fast 2000 Meilen (ca. 3200 Kilometer) lange Grenze zwischen den beiden nordamerikanischen Großstaaten. Sie ist nicht nur der Ort, an dem täglich hunderte Menschen aus Mexiko in die USA zu gelangen versuchen und die oft feiernde Student*innen aus den USA für einen Tagesausflug passieren, sondern auch ein gewaltiger Drogenumschlagplatz – und nicht zuletzt ein Ort von großer historischer Bedeutung.

Auf diese historische Bedeutung geht Heufelder zu Anfang ihres Buches ein. Im ersten Kapitel schildert sie die Geschichte der Annektierung von Texas und die Entstehung der Staaten Arizona und New Mexiko durch den erzwungenen Verkauf der Gebiete an die USA. Im zweiten Kapitel beschäftigt sie sich mit den Mythen, die vor allem in Texas die Geschichte von der Gründung und der anschließenden Verteidigung der Grenze zu Mexiko begleitet haben, lange nachgewirkten und vor allem ins popkulturelle Erbe eingeflossen sind.

Die restlichen Kapitel sind bestimmten Regionen der Grenze und bestimmten Phänomenen (Grenzschmuggel, Drogenhandel, etc.) gewidmet und beschreiben in kleineren und größeren Bögen das Verhältnis der beiden Staaten und ihrer Bewohner*innen zu der Grenze und ihren Nachbar*innen.

Das Buch besticht durch eine sehr anschauliche und nicht mit zu viel Fachsimpeln verwässerte, nah am Stattfindenden bleibende Darlegung verschiedenster Aspekte und ist eine gelungene Einführung in die Welten und die historische & gesellschaftliche Entwicklung einer der berühmtesten Grenzregionen der Erde. Es gibt schon viele Filme und viele Romane zu dem Thema und fast jede/r hat schon einmal etwas über diesen Grenzkonflikt gehört. Wer seine Protagonist*innen und seine Dimensionen näher kennen lernen will, der kann mit diesem Buch einen guten Anfang machen.

Zu Roberto Bolaños frühem Roman(fragment) “Der Geist der Science-Fiction”


Der Geist der Science-Fiction Robert Bolaños Ruhm, der ja posthum kam und mit „2666“ und „Die wilden Detektive“ seinen Höhepunkt erreichte, drohte, in meinen Augen, etwas unter der Veröffentlichungswut zu leiden, die in den darauffolgenden Jahren einsetzte und auch noch die frühsten Erzählungen, Romanfragmente, etc. hervorkramte. Anfangs war Großartiges darunter, aber speziell die letzten beiden Veröffentlichungen – die Erzählungen in „Mörderische Huren“ und das Romanfragment „Die Nöte des wahren Polizisten“ – waren, obgleich interessant, qualitativ eher ein Abstieg.

Natürlich ist es auf der anderen Seite toll, dass die Verlage Hanser und S. Fischer sich bemühen, eine lückenlose Ausgabe von Bolaños Werken auf Deutsch anzubieten – im Zuge dessen sind, wie gesagt, auch viele meisterliche Arbeiten wiederaufgelegt worden oder dies wird noch geschehen (so werden beispielsweise auch die großartigen Erzählungen in dem Band „Telefongespräche“ im nächsten Jahr bei S. Fischer neu aufgelegt).
Ich verstehe es ja: Bolaño-Fans wollen natürlich auch noch die letzte Zeile ihres Idols lesen und die Verlage liefern selbstverständlich. Aber es darf wohl die Frage gestellt werden: inwieweit sollte beim Veröffentlichen die Veränderung mitbedacht werden, die jede zusätzliche Publikation am Bild des Werkes und seines Autors vornimmt?

„Der Geist der Science-Fiction“ ist ein früher Roman (und wirkt sehr wie ein Fragment), der aber, laut Angabe im Buch, erst 2016 im Original veröffentlicht wurde. Bolaño arbeitete 1984 daran und verwendete einige Teile wohl für das 1993 erschienene „Fragmentos de la universidad desconocida“.
Der Roman spielt in den 70er Jahren in Mexiko-Stadt und besteht im Wesentlichen aus drei Strängen, die sich abwechseln. Zwei dieser Stränge sind verknüpft mit den beiden jungen Männern Remo und Jan, die sich ein Zimmer in der Metropole teilen. Während Remo versucht, Anschluss an die literarischen Institutionen zu bekommen und für verschiedene Magazine Artikel schreibt, liest Jan hauptsächlich nordamerikanische und europäische Science-Fiction-Romane und schreibt Briefe an die Autor*innen, in denen er sie, mit etwas wirren Erläuterungen und Abschweifungen, dazu anleiten will, sich für die Länder der Dritten Welt einzusetzen, ein Komitee für diese Angelegenheit zu bilden.

Die Briefe sind ein Strang, die Geschichte von Remos Erkundungen, die über ein paar Umwege in eine Liebesgeschichte münden, der andere. Der dritte Strang ist das Interview/Gespräch eines unbekannten jungen Science-Fiction-Autors, der anscheinend gerade einen bedeutenden Preis gewonnen hat, und einer ebenfalls unbekannten fragenden Instanz/Person.
Dieser dritte Teil fällt ziemlich heraus, bleibt bis zum Ende für sich und wirkt ein wenig deplatziert. Auch die Briefe sind, obgleich sie für sich genommen ein interessantes Narrativ darstellen, nur sehr lose mit der Haupthandlung verbunden und Jan tritt in ihnen ganz anders auf als in den Abschnitten mit Remo. Bis zum Ende greifen die Stränge nicht wirklich ineinander, das Konzept dahinter (wenn es denn eines gibt) geht für mich nicht auf.

Bewährte Motive Bolaños tauchen natürlich auch in „Der Geist der Science-Fiction“ auf: Nazis, leise Phantastik, Boheme, Vagabuntentum und Außenseiterphantasien, literarische Anspielungen und Referenzen in Hülle und Fülle. Immer wieder gibt es Passagen mit großartigen Einzelbeschreibungen, die eindringlich sind, Spaß machen.
Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch kein fertiger Roman, sondern ein liegengelassenes Projekt ist. Es sollte nicht als abgeschlossener Roman verkauft oder gelesen werden.

Spannend ist sicherlich, wie man in diesem Buch Bolaño bei Fingerübungen zusehen kann und wie stark hier teilweise, vor allem in den Briefen, nicht nur seine gewohnt satirische, sondern auch seine kritische Ader zum Vorschein kommt. Die Science-Fiction wird zum Sinnbild für die Utopie, zur Metapher für das Neu- und Besserdenken der Welt, der Verhältnisse. In der Hoffnung, welche Jan in seine Briefe an die Autor*innen legt, setzt Bolaño ein altes Dilemma, die Diskrepanz zwischen literarischer Vision und tatsächlichem Engagement, innovativ in Szene. Die Briefe sind somit Kabinettstücke mit einem gut gezimmerten doppelten Boden.

Lässt man die Einschränkungen (von denen aber jeder Kenntnis haben sollte, bevor er zu dem Buch greift) beiseite, ist diese frühe Prosa durchaus lesenswert. Ich mag, wie sich die Liebesgeschichte entfaltet. Die Beschreibung der Annäherung zwischen Remo und einer Frau namens Laura, erinnert an ein paar Glanzstücke von Bolaño Erzähltalent, seine Sprache wirkt auch in diesem frühen Werk nicht ungeschliffen, sondern schon sehr präzise; vielleicht sogar ein bisschen weniger verkopft und verstiegen als in den späteren, furioseren Werken.
Mit dem Interview konnte ich nicht viel anfangen und ich glaube, hier wären ein paar Backgroundinformationen wichtig oder interessant gewesen.

Überhaupt: es gibt zwar einen Abschnitt mit einigen schönen Originalnotizen aus der Entstehungszeit des Buches, aber keinen Anhang, kein Nachwort (allerdings ein kurzes Vorwort). Gerade wenn man ein Werk wie das von Bolaño zur Gänze herausgibt, sollte man editorisch ein bisschen mehr tun, ein bisschen mehr Beiwerk liefern. Und sei es nur ein Essay oder eine kleine Zusammenfassung, die vielleicht schon an anderer Stelle zu diesem Projekt oder dieser Zeit in Bolaños Leben veröffentlicht wurde. Fakt ist: Meine anfangs geäußerten Bedenken zur Veröffentlichungspolitik kann dieses Buch nicht zur Gänze eliminieren, aber es zerstreut sie erfolgreich. Mehr Bolaño bitte! Mehr Original und ein bisschen mehr Sekundäres.

 

Zu Richard Brautigans “Die Abtreibung”


Die Abtreibung „Während Foster in die Bibliothek ging, um sein erstes Buch zu empfangen, lagen Vida und ich weiter auf dem Bett und tranken ab und zu ein paar Schlückchen aus der Whiskeyflasche, die er gnädigerweise dagelassen hatte. Nach einer Weile waren wir so entspannt, dass man uns beide als Gänseblümchenwiesen vermieten hätte können.“

Nach Richard Brautigans ersten, nahezu übersprudelnden drei Romanen („Konföderierter Generel aus Big Sur“, „Forellenfischen in Amerika“ und „In Wassermelonen Zucker“), den feinsinnig-aberwitzigen Gedichten in „Die Pille gegen das Minenunglück von Springhill“ und dem Erzählband „Die Rache des Rasens“ hatte er, wie viele meinen, seinen Zenit überschritten. 1971 erschien dann dieser (wie immer schmale) Roman und verkörperte, zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, so Brautigans Kritiker, dass er kein wirkliches Thema habe (und nie eins haben würde – abgesehen vielleicht von der Japanbesessenheit am Ende seines Werks).

In der Tat kommt dieser Roman auf so langsamen und teilweise obskuren Sohlen daher, dass man ihn als Luftnummer ansehen könnte, als kleine Phantasie, als zum Roman gestrecktes Material mit wenig Substanz.

Gleich zu Anfang werden die Lesenden „der Bibliothek“ konfrontiert. Sie dient als Anlaufstelle für selbstgeschriebene, egal wie krude, egal wie banale, simple bis sinnlose Bücher jeglicher Machart und jeglichen Inhalts. Die Leute können sie vorbeibringen, sie werden eingetragen und dann auf eines der Regalbretter gestellt.
Geleitet wird diese Einrichtung von einem Bibliothekar, dem Protagonisten, der seit etwa drei Jahren das Gebäude nicht verlassen hat; nicht verlassen darf, denn die Bibliothek, mit ihm als einzigem Mitarbeiter, nimmt rund um die Uhr Bücher entgegen.

Eines Tages kommt Vida mit einem Buch in die Bibliothek. Vida, die einen perfekten, allen Schönheitsidealen entsprechenden Körper hat. Vida, die von allen männlichen Wesen deswegen angestarrt wird. Und die das fertig macht.

„Mein Buch handelt von meinem Körper, davon, wie schrecklich es ist, wenn man den Leuten so ausgesetzt ist: dieses Kriechen und Krabbeln und Saugen an etwas, das nicht ich bin. Meine ältere Schwester sieht so aus, wie ich wirklich bin.
Es ist schrecklich.“

Vida und der Bibliothekar verlieben sich, schlicht und ohne Umschweife, sie kommt immer wieder zu ihm, sie zelebrieren eine unbefangene Liebe, in der sie auftaut und er nicht mehr alleine ist.

Bis hierhin wirkt der Roman wie ein üblicher Brautiganmix: Idiotisches und Witziges, Understatement und Philosophie, Banalität und Furiosität treffen sich irgendwo in der Mitte und veranstalten ein kleines absurd-legeres Gelage (das allerdings, im Gegensatz zu den ersten drei Romanen, nicht ganz so viele schöne poetische Blüten hervorbringt und deshalb nicht nur unspektakulär, sondern geradezu brav wirkt). Wie immer scheint die Bedeutungsschwere weit weg zu sein, schwingt aber doch in jedem Satz mit. Und natürlich gibt es wieder eine utopische Beziehung zwischen dem Protagonisten und einer Dame.

Dann wird Vida schwanger. Beide sind nicht bereit für ein Baby und sie will eine Abtreibung vornehmen lassen. Vom Lagerverwalter der Bibliothek, Foster, erfahren sie von einem Arzt in Tijuana, Mexiko, der sauber und gut arbeiten soll. Also übernimmt Foster für einen Tag die Bibliothek und der Bibliothekar und Vida fliegen nach San Diego.

„Ich schaute zu Vida. Sie sah auch aus, als wäre sie noch zu jung für eine Abtreibung. Was machten wir hier eigentlich alle? Ihr Gesicht wurde immer blasser. Ach ja, die Unschuld der Liebe war bloß ein körperlicher Zustand, der sich steigerte, und nicht etwas, das die Form unserer Küsse hatte.“

Was folgt ist eine Geduldsprobe und auf gewisse Art ein Meisterstück psychologischer Erzählkunst. Brautigan schildert die ganzen Trip, mit allerlei pointierten und oberflächlichen Kleinigkeiten, fast wirkt es so als würde nur das Nebenbei im Mittelpunkt stehen – zusammen mit Vida, die von allen Männern begafft wird und überall für Chaos sorgt mit ihrem wunderschönen Körper.
Auch die Abtreibung wird beschrieben – als das, was der Bibliothekar, der vor der Behandlungsraum-Tür sitzt, mit anhört. Danach, während Vida noch narkotisiert ist, hört er bei zwei weiteren Abtreibungen zu; bekommt mit wie einmal der Mann und einmal die Eltern der beiden Patientinnen damit umgehen.

Brautigan fehlt es in keinem seiner Bücher an Originalität, aber in diesem Roman tritt diese Originalität zurück hinter das Thema, was in seinen Büchern eigentlich nie passiert: eigentlich ist es immer die Originalität (oder Versuch), die das wirkliche Thema ist.

Verblüffend ist wie Brautigan das Thema Abtreibung sorgsam, aber eigentlich ohne es wirklich (über die Schilderung hinaus) zu behandeln, in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt. Und wie klar und unverstellt, wie unausweichlich es Gestalt annimmt in der Schilderung der Reise, aller Nebensächlichkeiten, die während dieser Reise passieren, bis zum Moment in der Praxis, wo es immer noch Details und banale Abläufe sind, die alles bedingen und ausmachen.

Dieses Nebensächliche, Detaillierte, reicht auf eine seltsame Art und Weise an die Wirklichkeit heran, erfasst die Schlichtheit und Unumgänglichkeit unseres Daseins und der Dinge, die wir tun können, sagen können, ertragen müssen.

Es gäbe noch andere, substantiellere Dinge, die erörtert werden könnten. Da ist der geradezu schreiende Name der Protagonistin, der auf Spanisch “Leben” bedeutet. Da ist der Körper, den sie nicht als ihren empfindet, weil er ihr nur unerwünschte Aufmerksamkeit beschert und andere Unannehmlichkeiten und jeder Entfaltung jenseits von ihm im Wege steht.

Im Prinzip spiegelt sich in Vida das Dilemma eines ganzen Geschlechts wider: eines Geschlechts, das immer wieder auf seinen Körper reduziert wurde und wird, trotz oder gerade weil dieser Körper der Weg zu neuem Leben ist. Der erotische und der Fortpflanzungsaspekt haben oft dazu geführt, dass Frauen nicht als Eigentümer ihres Körpers angesehen wurden – ihr Körper gehörte ihnen nicht. Und bis heute werden Frauen oft dazu erzogen (von der Gesellschaft, der Werbung) ein kompliziertes, problematisches Verhältnis zu ihrem Körper zu haben, egal ob es dabei um Körpermaße, ihre Geschlechtlichkeit, Beharrung, etc. geht.

Wie aber kann man auf gute Weise damit umgehen (ganz abgesehen davon, dass die Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen natürlich längst keine Frage mehr sein sollten!), dass es ein Geschlecht gibt, das schwanger werden kann und eines, dass es nicht kann? Brautigan verhandelt diese Frage nicht wirklich, aber er führt ein exemplarisches, phantastisch-angehauchtes Beispiel vor. Das Buch erscheint wie der Versuch einer unmöglichen Versöhnung; wie die Annäherung an eine Wirklichkeit, in der es keine Frage ist, miteinander und füreinander da zu sein.

Es liegt eine tiefe Traurigkeit und Schönheit in dieser simplen und eigentlich völlig undynamischen Geschichte. Wie in allen Büchern von Brautigan.

 

Zu den Gedichten von Sor Juana Inés de la Cruz in “Nichts Freieres gibt es auf Erden”


Nichts freieres gibt es auf Erden besprochen beim Signaturen-Magazin

Zu Enrique Serna: Liebe aus zweiter Hand


  Es ist ja schon schwer zu sagen, was Liebe ist, wenn man es mit Worten herauszufinden versucht. Aber sie ist nicht nur ein metaphysisches, sondern schlicht ein praktisches Problem – selbst wenn Dinge wie Ehebruch und Eifersucht einmal keine Rolle spielen sollten (was sie in diesem Erzählband zuweilen tun). Schon die Frage dahingehend, wie man seine Liebe ausdrücken soll, würde wohl von den meisten Menschen unterschiedlich beantwortet werden.

Um Spielarten der Liebe geht es auch in Enrique Sernas Erzählungen in „Liebe aus zweiter Hand“. Nicht all diese Spielarten gehören der erotischen Liebe an und nicht alle erotischen Lieben sind hier obsessive. Es geht in diesen Geschichten sogar selten um die große, entscheidende Liebe – wesentlich öfter um die Liebe als Ausweg, als Ablenkung von den eigenen Problemen, als etwas, in das man hineinrutscht. Liebe aus zweiter Hand, das erinnert ja an Tina Turners Song “What’s love got to do with it?“, in dem sie u.a. singt: “What’s love but a second hand emotion?”

So sieht beispielsweise eine Frau im Fernsehen ein Waisenkind, das bei einem Erdbeben in Mexiko seine Eltern verlor und entwickelt spontan mütterliche Gefühle, fährt dann sogar extra nach Mexiko, um es irgendwie in die Finger zu kriegen; es muss dieses eine Kind sein! In einer anderen Erzählung lernt ein Dozent an einer amerikanischen Universität die Frau des brillanten Gastprofessors kennen und sein Neid und die Probleme mit der eigenen Arbeit, bringen ihn dazu diese Frau ins Bett kriegen zu wollen, damit der Ehemann als gehörnter dasteht und endlich seinen Namen kennt.

Auf dem Cover wird Serna als ideenreicher und origineller Autor bezeichnet. Das ist keine Phrase, denn in der Tat ist es dieser Ideenreichtum, sowie Sernas breit aufgestellte Bildung, bewiesen durch sein gutes Händchen für Motive, die seinen Geschichten einen eigenwillig guten und schönen Flair verleihen; sogar ein größeres Maß an Spannung ist häufig mit dabei, was bei Liebesgeschichten ja eher selten der Fall ist, da sich das Ende meist früh abzeichnet. Serna baut oft noch eine Pointe oder einen Bruch als letzten Schnörkel ein – was manchmal furios gelingt, manchmal aber auch etwas überflüssig wirkt.

In jedem Fall: ein lesenswerter Erzählband, mit 4-5 sehr guten Geschichten und auch die anderen Texte haben ihre Qualitäten und so eine Art von Einteilung/Wertung ist natürlich immer eine Geschmackssache. Wem die Liebe schon immer verrückt vorkam, der wird seine Befürchtungen hier bestätigt finden – aber er wird auch nicht leugnen können, dass dieser Wahnsinn immer noch zu dem Unterhaltsamsten gehört, was man auf Erden finden und erleben kann.

Spanisch-Mexikanisches Generationenpanorama bei Antonio Ortuño in “Madrid, Mexiko”


   Spanien und Südamerika, eine geschichtsträchtige, schwierige Beziehung. Unter anderem geht es in Antonio Ortuños virtuos erzählter Familiengeschichte um die Differenz, die zwischen diesen beiden Weltgegenden, trotz ihrer unauslöschlichen Verbindung, liegt.

Aber eigentlich geht es um eine Familie und die einzelnen Geschichten, die die Generationen dieser Familie prägten; Geschichten voller Entschlossenheit und Ideale, aber auch voller Elend und Rache.

Da ist der jüngste Spross der Familie, der 1997 in Guadalajara vor einem Racheakt türmt, da sind seine Vorfahren, die in den Wirren der linken Fraktionskämpfe im spanischen Bürgerkrieg zu überleben versuchen und auch später in Mexiko die Ereignisse nicht hinter sich lassen können. Ums Überleben, darum geht es eigentlich die ganze Zeit, denn in beiden Strängen ist die Gefahr fast immer präsent, das Überleben nicht gesichert, so gut wie verspielt. Die guten Zeiten, von denen erzählt dieses Buch nicht, es erzählt von den Brennpunkten, den Katastrophen, den Kämpfen.

Gekonnt springt der Autor zwischen den Jahrhunderten und Jahrzehnten hin und her und steigert konsequent die Spannung und Dichte in jeder Geschichte. Seine Figuren sind plastisch, wirken hier und dort etwas heruntergebrochen, aber sie spiegeln auch nie vor mehr zu sein als sie sind. Das Buch besticht durch seine kompromisslose und einfache Darlegung, seine Hitze und seine Bedrohlichkeit, durch den Sog der Ereignisse und jeder Moment der Ruhe ist meist ein Moment der Ruhe vor dem Sturm.

In Teilen habe ich Ortuños Buch geradezu atemlos gelesen. Die Geschichte bannte mich, ich bangte, wann die Konflikte unausweichlich werden und wie alles ausgehen würde. Die Sprache bot sich mir die ganze Zeit über mit Bestimmtheit dar, ohne falsche Scheu, ohne große Gesten.

Man könnte also am Ende schlicht sagen: ein lesenswertes Buch. Keine metaphysischen Höhenflüge, dafür ein-zwei großartige Figuren, eine schnörkellose Schilderung, eine spannende Schilderung über Generationen hinweg, gekonnt zum Knäul verwoben, welches mit jedem neuen Sprung enger gezogen wird und ganz am Ende erst zerschlagen. Erzählt wird von Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, die irgendwie überlebt haben.