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Zu “Fremdes Licht” von Michael Stavarič


Fremdes Licht Michael Stavaričs neuer Roman „Fremdes Licht“ hält nicht lange mit der Katastrophe hinterm Berg: schon auf den ersten Seiten befinden wir uns in einer Endzeitwelt aus Kälte und Schrott, in der nur noch ein letztes menschliches Bewusstsein glimmt und flackert: Elaine, eine Genforscherin, und mit ihr ein letzter menschlicher Monolog, eine letzte menschliche Erinnerungskammer in einer unwirtlichen Welt. Ihr Großvater, der eine wichtige Bezugsperson war, hat ihr einst das Überleben in Eis und Schnee beigebracht, denn er lebte lange bei den Inuit …

Soweit die Ausgangslage, die man auch dem Klappentext entnehmen kann und die sicherlich bei dem/der ein oder andere/n Interessierten für gehobene Augenbrauen gesorgt hat – und auch für mich klang das alles zwar spannend und auch nicht abwegig, aber doch ein bisschen dubios. Nun ist es aber so, dass die Zusammenfassung eines Romans wenig aussagt, denn es geht ja darum, wie ein Roman diese Inhalte vermittelt, wie die Geschichte, so dubios sie auch erstmal klingen mag, umgesetzt wird.

„Fremdes Licht“ ist in dieser Hinsicht ein durchaus anspruchsvoller Roman, denn Stavarič erzählt mit einer Langsamkeit und Intensität, die zwar atmosphärisch den Welten entsprechen, die er beschreibt – und auch dem Zustand, der existenziellen Lage der Protagonistin (*innen) – trotzdem sorgt diese stilistische Entscheidung in einigen Passagen für etwas, das manche Leser*innen wohl als „Längen“ empfinden könnten. Auch ich habe hin und wieder ein bisschen gehadert mit diesem Stil – und bewundere umso mehr, was er letztendlich, auf seine meditative und zugleich erbarmungslose Art, herausarbeitet, hervorbringt: einen sehr tiefen Ein/Abdruck von Menschlichkeit, in einem Universum, dass abseits des Menschlichen, jenseits der dünnen Haut mit allen Träumen, Illusionen und Empfindungen darin, sehr lebensfeindlich ist, ohne Entsprechung für all das, was wir darin suchen – und doch ist diese Suche vielleicht das Einzige, was das Menschliche letztendlich ausmacht.

Man könnte hier noch einige Bezüge einflechten, zu Sci-Fi Filmen wie Kubricks „2001: A Space Odyssey“, „Eden Log“, etc. oder auch zu dem Inuit-Film „Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer“. In dieser Rezension werde ich es aber bei einer Empfehlung belassen, einer eingeschränkten wohlgemerkt, denn auch wenn das Buch keineswegs langweilig oder manieriert ist, so ist es doch, in meinen Augen, keine Unterhaltungsliteratur und wer nach einer solchen sucht, der/die ist mit „Fremdes Licht“ nicht gut beraten. Wer aber mit Literatur einzigartige Erfahrungen machen möchte, wer es mag, dass Inhalte auch über sich hinausweisen, dem/der kann ich das Buch bedenkenlos empfehlen. Es ist mythenreich, philosophisch, abenteuerlich und hinterlässt viele bleibende Eindrücke.

Offener Brief an Michael Kretschmer


Lieber Herr Kretschmer,

mit großem Interesse habe ich gestern die Diskussion in der Fernsehsendung Anne Will zum CO²-Gesetz verfolgt. Ich stimme Ihnen zu, dass es Kräfte braucht, die mit Vernunft und Augenmaß an den Problemen unserer Zeit arbeiten.

Dennoch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass ich zutiefst verstört bin wegen der Art, mit der Sie Kevin Kühnert vorwarfen, er habe bei seinen Vorschlägen zur neuen Gesellschaft eine neue DDR (oder gleich Nordkorea) im Sinn gehabt. Sozialismus, das können sie überall nachschlagen, meint nicht unbedingt den historischen Kommunismus, der mehr totalitär/faschistisch als wahrhaft sozialistisch war und viel mehr plutokratische als kommunistische Elemente beinhaltete. Statt auf seine Argumente einzugehen, haben Sie einfach den Begriff, wie Sie ihn verstehen, gegen Ihn verwendet. Das nennt man Unterstellten und nicht Argumentieren.

Es ist mir ganz wichtig, dass Sie nicht glauben, ich wolle Ihre Wahrnehmung der DDR in Zweifel ziehen, ich stimme nur Ihrer Definition von Sozialismus nicht zu und glaube, dass Sie (um die Klage gegen Kühnert umzudrehen) mit solch Klitterungen von Begriffen das Klima anheizen und den vernünftigen Diskurs über Gesellschaftsmodelle eklatant schwächen – und tun damit genau das, was Sie ihm vorwerfen.

Zudem fürchte ich, dass viele Menschen den Eindruck bekommen werden, Sie glaubten wirklich, dass wir bereits in dem besten aller Systeme lebten. Sie erwähnten gestern “Die Weber” von Gerhart Hauptmann, ein grandioses Stück. Wie aber ein Bekannter von mir richtig erläuterte (Dank an dieser Stelle an Jan Kuhlbrodt, den ich hier zitiere): Die Weberei in dem Stück war verlagstechnisch organisiert, die Weber waren ähnlich wie selbstständige Paketzusteller heute, gewissermaßen Subunternehmer. Und Subunternehmer*innen werden nach wie vor unterbezahlt (und damit: ausgebeutet), das ist ein Fakt.

Wir leben nach wie vor im Kapitalismus, noch ist so etwas wie eine soziale Markwirtschaft Utopie, auch wenn der Begriff noch so oft für das verwendet wird, was derzeit als Wirtschaftsform in Deutschland etabliert ist. Anders kann ich mir nicht erklären, warum Menschen von ihrem Einkommen allenfalls überleben, nicht aber am Gemeinschaftsleben teilhaben können (#sozial1). Oder warum es Menschen mit sehr viel Geld und Menschen mit sehr wenig Geld gibt, obwohl beide im gleichen Maß zum Erhalt unserer Gesellschaft beitragen, nur an verschiedenen Stellen (#sozial2), etc.

Ein Begriff muss auch einlösen, was er verspricht, sonst ist er unzulässig.

Lieber Herr Kretschmer, ich mag nur ein Wähler sein, aber ich bin einer, der Ihnen sagt: ich halte Sie nicht für einen Populisten, aber gestern, in dieser Sendung, haben Sie sich streckenweise wie ein Populist und nicht wie ein vernünftiger Politiker geäußert. Ich hoffe sehr, dass meine Argumentation Ihnen an einigen Stellen einleuchten wird. Wenn Sie, wie Sie sagen, kleine Kinder haben, die in einer guten Welt leben sollen, dann, bitte, legen Sie doch nicht über jedes Denken Ihr Schema, sondern Denken Sie flexibel – dafür werden Sie als Politiker schließlich u.a. bezahlt.

Mit hochachtungsvollen Grüßen
Timo Brandt

Zu Michael Endes “Das Gauklermärchen”


Gauklermärchen “WILMA:
Die Leut’ sind abgebrüht durch größ’re Sensationen.
Wer bei uns lacht, lacht uns im Grund nur aus.
LOLA:
Wo alles nützlich sein muss und sich lohnen,
Gibt’s für bescheid’ne Wunder nicht Applaus.”

Die Reste einer Zirkustruppe, auf einem Feld vor einer Chemiefabrik, umgeben von Baggern und Kränen, die morgen hier eine neue Fabrikhalle errichten sollen, ganz egal, was dann noch im Weg steht.

Der Clown der Truppe kommt mit einem Angebot der Chemiefirma: sie werden angestellt als Werbeattraktion, müssen sich aber dafür von dem kleinen Mädchen Eli trennen, das sie einst nach einem Chemieunfall in einer anderen Stadt aufgelesen und aufgepäppelt haben. Die Truppe hadert: Sollen sie den Vertrag unterschreiben? Während das Angebot, das zugleich ein Ultimatum ist, überdacht wird, erzählt der Clown Jojo Eli ein Märchen, in dem sowohl sie als auch er und am Ende die ganze Zirkustruppe vorkommen …

1982 hat Michael Ende dieses kleine Märchenspiel zum ersten Mal veröffentlicht, also bald vor 40 Jahren. Die Motive der Gaukler- und Traumerzählung haben über die Zeit nichts von ihrer Bedeutsamkeit verloren. Geschickt beschwört Ende die Nostalgie der harmlos-freudigen Zirkusunterhaltung, um dann Bild für Bild eine noch größere Geschichte über die Macht der Phantasie und das Glück des Einanderfindens und -habens aufzuziehen.

Ich muss zugeben, dass mir Endes Märchen bei aller Begeisterung in einigen Momenten etwas plakativ vorkam, vielleicht wegen der Kürze, aber wohl auch, weil die Botschaft zwar wichtig und schön ist, aber sehr einfach dargestellt wird; andererseits: es ist ja immer so eine Frage, ob man einen Theatertext liest oder ihn aufgeführt sieht. Gelungen finde ich, wie die Dialoge, sobald in die Traumwelt gewechselt wird, nur noch aus Reimen bestehen, das bringt immer wieder einen guten Schwung in den Text und stellenweise hat er dadurch einen angenehmen Witz.

Letztlich ist dies ein Stück, das jeder/m, der/die gerne träumt und an bessere Zeiten und Welten glaubt, etwas bedeuten wird. Es ist kein Plädoyer, hat aber durchaus etwas von einem Aufruf zu Solidarität, Vorstellungsvermögen und Widerstand. Im Kern ist es weniger große Literatur als vielmehr eine gelungene Herzensangelegenheit – was manchmal vielleicht noch wichtiger ist als große Literatur (das eine schließt das andere selbstverständlich auch nicht aus).

“Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten?
Du meinst, dass Phantasie nicht wirklich sei?
Aus ihr allein erwachsen künftige Welten:
In dem, was wir erschaffen, sind wir frei.
[…]
Weißt du dich selber nur von Zwang getrieben?
Nur wo wir frei sind, können wir auch lieben!”

“Das Gefängnis der Freiheit” – Über Michael Ende’s Erzählband


“Wenn es sich aber so verhält, wenn Zeit nichts anderes ist als die Art und Weise, wie unser Bewusstsein eine Welt wahrnimmt, die ohne Zeit ist, warum sollte es dann nicht auch Erinnerungen geben an etwas, das uns erst in naher oder ferner Zukunft widerfahren wird?”
(S. 64)

Ein Geleit durch unerreichbare Länder sind jene Geschichten, die wir phantastisch nennen, und die heute meist dem Science-Fiction oder der Fantasy zuzuordnen sind; doch es gibt auch jenseits dieser Genres phantastische Literatur: Geschichten, die Randphänomene menschlicher Lebenswirklichkeit, wie Träume oder Mystik, unerklärliche Geschehnisse und Zaubertricks, mit einer gewohnten Erzählstruktur verbinden und daraus eine phantastische Erfahrung kombinieren, die nicht allein unsere Vorstellungskraft anspricht, sondern vor allem unser Staunen über die möglichen Untiefen der Wirklichkeit belebt.

Michael Ende, der die phantastischen Welten seiner Kinderbücher immer wieder auf besondere Art mit Facetten unserer wunderlichen und wunderbaren Wirklichkeit zu durchdringen vermochte (indem er z.B. die Realität mit einem phantastischen Element kontrastiere und so nicht nur die Macht der Fantasie, sondern auch die Schönheit der Realität hervorhob, ohne die seine fantasiereiche, gesteigerte Variante ja gar nicht denkbar gewesen wäre – oder indem er seinen Welten trotz ihrer phantastischen Weiten die menschlichen Gefühle und Sehnsüchte zur Seite stellte). Neben seinen Kinderbüchern hat sich Ende auch in einigen Erzählungen, Märchen, Aphorismen und Betrachtungen der Faszination von Wirklichkeit, Wünschen, Spirituellem und Träumen gewidmet.

“dass nämlich zur Erfahrung der Wirklichkeit außer dem Nur-Faktischen auch ein erkennendes Bewusstsein gehört, das dieses Faktische erst realisiert, dann ist es wohl nicht allzu gewagt zu folgern, dass also die Beschaffenheit der jeweiligen Wirklichkeit von der Beschaffenheit des jeweiligen Bewusstsein abhängt. Da letzteres jedoch, wie man weiß, keineswegs bei allen Menschen und in allen Völkern gleich ist, kann man mit Recht annehmen, dass es an verschiedenen Orten der Erde verschiedenen Wirklichkeiten gibt, ja dass an ein- und demselben Ort durchaus mehrere Wirklichkeiten vorhanden sein können.”
(S. 81)

Die Erzählungen in diesem Band sind allesamt der Tradition von erzählten Geschichten verpflichtet, es geht nicht um Zwischenmenschliches, es geht um Lebenswege und Gleichnisse, die sich um das Suchen und Entdecken drehen. Der Protagonist der ersten Geschichte ist ein Mann, der in Hotels rund um die Welt unter der Obhut des Vaters und ein-zwei Dienern aufwächst und ein gedämpftes, unwirkliches Leben fristet, bis er zum ersten Mal zufällig auf jemanden trifft, der Heimweh hat. Heimweh, Heimat, ein Zuhause? – etwas, das er nicht kennt. Aber alle bekommen diese wehmütige Art wenn sie davon reden. Auch wer will so etwas haben und sucht von da an sein ganzes Leben nach diesem Ort…
Während diese erste Erzählung noch in das Gewand einer gewöhnlichen, profanen Lebensgeschichte gehüllt ist, wird der Leser in einer anderen Erzählung in eine geradezu kafkaesk anmutende, totalitäre Schattenwelt geworfen, in der die Lebewesen in unveränderlichen Tagesrhythmen in einem unveränderlichen, unendlichen Tunnelsystem leben; wiederum in einer weiteren Erzählung, befindet er sich in den spirituellen Gleichniswelten des Korans, in denen ein dem Glauben entfallener sich mit dem Gefängnis der Freiheit auseinandersetzen muss. Und dann ist da noch jener Korridor in Rom, der ein physisch gewordenes mathematisches Problem darstellt …

Gute phantastische Literatur bezieht ihre größte Faszination nicht allein aus der reinen Fabulierkunst. Es ist die verschwimmende Grenze, das Abtasten der Wirklichkeit, das die erstaunlichsten phantastischen Erzählungen ausmacht, von Borges über Cortazar, von Lovecraft über Kehlmann bis zu diesen Geschichten Michael Ende. Denn die Wirklichkeit eines phantastischen Textes, einer phantastischen Welt, ist ein eigener Bereich, der aus Elementen der realen Wirklichkeit und der denkbaren Wirklichkeit erschaffen wird und wo die realen Elemente von der phantastischen Wirklichkeit in Beschlag genommen werden, aber umgekehrt auch die phantastischen von den realen. So entsteht eine Ebene, die man geheimnisvoll, rätselhaft nennen würde. Sie grenzt sich von der Realität nur dadurch ab, dass sie erdacht wurde, trägt aber Teile in sich, die durchaus in Bereichen unserer Lebenswirklichkeit greifen könnten, darin präsent sind.

Das ist natürlich mehr die interpretative Seite. Der Leser kann diese Seite ebenso gut mit Genuss ignorieren und diese Erzählungen so lesen, wie Ende sie sicherlich verstanden sehen wollte: als Geschichten mit fantasievollen Zügen, mit Ideen, die eine übergreifende Vorstellung erzeugen können, von der Bedeutung des Glücks, der Vorstellungskraft und vielem anderen. Ende war ein Geschichtenerzähler und er war sicherlich noch mehr als das. Aber allein wegen ersterem lohnt es sich schon, ihn zu lesen – die eigene Fantasie seinen kleinen Welten, Lebensläufen und Parabeln anzuvertrauen.

Zu Köhlmeiers “Der Liebhaber bald nach dem Frühstück”


“Drüben, am Schweizer Ufer des Rheins,
Saß eine Katze, frei und reich. Sie tauchte

Die Pfote ins Schweizer Wasser. Wir hätten es
Uns leicht machen können, wir beide,

Katze im schwarzweißen Fell, Mann in
Khakihosen und Lumberjack: Ein Spaziergang

Bis zur Eisenbrücke und dann über die Böschung
Hinauf und fünfzig Meter hin ich

Und fünfzig Meter her du, und in der Mitte
Hätten wir uns getroffen.”

Die deutsche Gegenwartslyrik ist nicht frei von Selbstbezüglichkeiten und Luftbauten, von einer kargen Verzierung von Sprache mit Wirklichkeit und manchmal auch einer Sprachlosigkeit, die keine Hintergründe, ja nicht mal Gründe kennt.

Doch da ist auch die andere Seite, abseits der Experimente, wo das Dichterische aus der Assoziation, aus der uneinholbaren Natürlichkeit und Persönlichkeit entspringen mag, aber aus dieser Tatsache und der Sprache eine kosmische Konstante webt, die uns verblüffen, erfreuen und auf den Ebenen der Wirklichkeit herum teleportieren kann und uns erfahren, erdenken und erkennen lässt.

“Die Zeit, sage ich, ist nur ein anderer Lügner,
Sie spricht wie ein Knabe spricht
Mit dem gefühllosen Geiz eines Mannes.”

Michael Köhlmeier, ein sehr feinsinniger Romancier und ein bemerkenswerter Prosaist, schreibt Gedichte, die wie Leiter des Zufalls wirken, wie Eingebungen aus der Ferne. Lyrische Kurznotationen die einem plötzlich und kurz in Fleisch und Blut übergehen und dann in eben diesem Sog des Bluts wieder verschwinden – und doch einen Eindruck hinterlassen, der in seinem stillen Dasein unwillkürlich scheint, wie ein Bild, das man aus dem Fenster sah, aber nicht ganz wahrnahm: auf der Innenseite irgendeiner Erinnerungsmünze eingeprägt.

Zwischen Alltag und Metaphysik, Krumen und Planeten wachsen seine Verse wie Farnkraut, Tautropfen des Sinns auf ihren Blättern. Dabei fällt vor allem auf, wie neutral sie gehalten sind, mit Balance, genau in der Mitte und wie versöhnlich einen ihre Lektüre dennoch stimmt, mit all ihrer Lakonie. Denn da ist eine kleine Regung, die man selbst aus ihnen zieht, die einem selbst geschieht.

“Die Schönheit des Seins und der Dinge wird sich
Zeigen, wenn Sein und Ding
Frei von Metaphysik und Bedeutung

Und Metaphysik und Bedeutung
Als Zubereitung des Rohen erkannt
Sein werden.”

Dieser Ausschnitt kann sehr gut als Eingrenzung der Wirkung dienen, die Köhlmeier in der Lyrik zu erreichen sucht. Schönheit, die nicht als Schönheit auftritt, mit schönen Kleidern, Wortakrobatik, aushängender Metaphorik – nein, wenn überhaupt nur mit der kleinen Tätowierung “Gedicht” irgendwo am Körper und sonst ganz unscheinbar, aber eingebend.

Viele der Verse wirken zunächst unerreichbar, wie in Schneekugeln, Photos, entfernten Plakaten verloren, aber doch nicht wirklich distanziert, vielmehr ganz nah abgewandt, auf den zweiten Blick, als wäre es eine Täuschung gewesen – oder ist das jetzt die Täuschung?

“Bücher, sagte er, wiegen schwer,
Gedanke und Gedächtnis dagegen passen tausendfach
Auf eine Nadelspitze.”

Gedichte aber, wenn sie gut sind, imitieren diese tausendfache Präsenz auf einer Nadelspitze. Beeindruckend, das ist ein Wort, was man sicher sehr häufig bei Gedichten fallen lassen kann, aber hier passt es irgendwie besonders, auf eine stille Art und Weise. Vielleicht weil die Gedichte so einfach sind und doch in ihren Imitationen, Geschichten und Bildern das Einfache zu dem Erheben, was zählt, was zentral liegt, egal wo man lebt. In diesem Sinne sind sie wieder etwas Besonderes. Wieder einmal gebührt der Edition des Lyrik Kabinetts Dank für einen wirklich einzigartigen Gedichtband.

Link zum Band

“Das Michael Ende Lesebuch” – Für Michael Ende, einen wirklich großen Autor. “Denn die großen Geheimnisse sind keine Rätsel…”


“Nur wer von einer besseren Welt wenigstens träumen kann, gewinnt die Kraft für ihre Verwirklichung.”

Michael Ende gehörte für mich schon immer zu den innovativsten, schönsten und auch größten Schriftstellern Deutschlands. Jetzt, nach der Lektüre dieses Lesebuches, bin ich auch davon überzeugt, dass meine Empfindung nicht allein dem Zauber seiner Prosa entspringt, sondern allgemein in der Intelligenz und Phantasie dieses Mannes zu verorten ist.

Ende wäre heute 83 Jahre alt, er starb jedoch bereits 1995. Mich quälte nach der Lektüre seiner bekanntesten Bücher Momo, Jim Knopf und der Unendlichen Geschichte, die Frage, was für wunderbare Bücher dieser Mann noch hätte schreiben können. Nach und nach stieß ich dann auf weitere Werke, die zwar eine etwas andere, aber nicht minder faszinierende Seite seiner literarischen Produktion offenbarte.

Im Prinzip finden sich in diesem Lesebuch größtenteils Texte aus diesen “anderen” Büchern versammelt – Essays, Erzählungen, Ideen. So auch die 44 Fragen an den Leser, die Ende anstatt eines Vorworts an den Anfang dieser Sammlung stellte und die einen mit ihrer kleinen Genialität sofort für diese gewinnen.

“Liegt die Kraft, die eine Kompassnadel dazu veranlasst, immer nach Norden zu zeigen, in der Nadel oder im Erdball?”

Denn in diesen Fragen ist auch direkt das angedeutet, was Endes Werk durchzieht: Ein Umschiffen abstrakter Philosophie und ein Ablassen von der Glätte eines deterministischen  Realismus, um zu wirklich phantastischen und trotzdem authentischen Fiktionen zu gelangen, in denen die Faszination der Welt sich gleichsam spiegelt und erweitert wird. Leicht kommen die Ergebnisse daher, in jeder Faser inspirierend-unterhaltsam, wie sie mit dem Wesen von Darstellung und Erzählung spielen – umso schwerer muss es gewesen sein, dies ohne Ballast oder Bodenlosigkeit zu schreiben.

Oft denkt man, dass solche Geschichten gut für Kinder sind, weil sie die Phantasie und Freude beflügeln, ohne das etwas anderes als das Erleben der den Geschichten innewohnenden Ideen und Abenteuer vollzogen werden muss – aber genau darum sind solche Erzählungen (Märchen, phantastische Geschichten und dergleichen) auch bei Erwachsenen sehr beliebt – weil sie uns erweitern, ohne für diese Erweiterung neue Regeln aufzustellen.

“Wenn Wirklichkeit etwas mit Wirken zu tun hat, welche Wirklichkeit hat dann ein Traum?”

In diesem Buch kann man Ende ganz neu kennen lernen, man wird aber auch einige bekannte Texte wieder lesen. Viel stammt aus dem Band Der Spiegel im Spiegel: Ein Labyrinth und viele kleine Sachen aus Zettelkasten: Skizzen und Notizen. Wirklich exklusive Sachen gibt es nicht, aber es wurden noch sehr viele andere Werke hinzugezogen; es finden sich Stellen aus Momo, der Unendlichen Geschichte, dem Gauklermärchen – immer noch eines der wunderbarsten Stücke in Endes Werk – und Jim Knopf. Des Weiteren auch Auszüge aus dem Buch mit Gesprächen über seinen Vater, den Maler Edgar Ende (Die Archäologie der Dunkelheit) und aus dem schlichten, aber nichtsdestotrotz sehr guten Gedichtband Trödelmarkt der Träume. Im Buch selbst befindet sich hinten eine ganze Auflistung von Werken, die man von Ende kennen sollte, auch mit 1-2 Geheimtipps.

“Was treibt wohl einen Nihilisten dazu, andere Menschen von seiner Absicht, dass alles sinnlos sei, zu überzeugen?”

Einen erwarten phantastische Erzählungen (von denen eine Jorge Luis Borges gewidmet ist), kleine Aphorismen, interessante Essays über die Kindlichkeit, ein Brief an eine besorgte Leserin, Entwürfe für Romane und Erzählungen, ein unveröffentlichtes, fragmentarisches Kapitel aus der Unendlichen Geschichte und noch vieles mehr. Das Ganze ergibt eine Art von Leseabenteuerreise durch ein fiktives Land, mit all seinen Legenden und Weisheiten.

Michael Ende war, um es klar zu sagen, ein unheimlich bedeutender und genialer Autor; und gerade weil er sich nie intellektuell oder gar liebreizend gegeben hat, sind seine Bücher und Texte so wahr und einzigartig. Jeder ist eine Geschichte für sich, wie Ende es ja wünschte und jeder ist ein Symbol dafür, dass nie alle Geschichten geschrieben sein werden, weil jedem Menschen unzählige Bilder innewohnen und er unzählige Bilder aus der Sprache erhalten kann.

In dem Fragment des Kapitels der Unendlichen Geschichte, gibt es einen Satz, der sehr gut beschreibt, wieso wir die Phantasie brauchen, wieso sie kein Trugschluss oder gar eine Illusion ist. Dort sagt die Zauberin zu Bastian: “vielleicht möchtest du manchmal anders sein, aber du möchtest dich nicht ändern”.
Ich denke es geht vielen so. Aber erreichen kann man so etwas nur in seinen ganz eigenen Träumen und Vorstellungen – die Ende steht’s für das Wichtigste hielt. Und in Erzählungen und Geschichten.

“Ist der Mond den Goethe duzte und der Klumpen aus Schlacke und Staub, auf dem die beiden Astronauten herumtaumelten, ein und derselbe Himmelskörper?”

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Aber-das-eine-andere-Geschichte/dp/3492244440/ref=tmm_pap_title_0

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen