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Ein Abstieg in die dunklen Tiefen der Manipulation


370e89085a36280e7bffcfc250ecfcf77739bdad-00-00 1955 veröffentlichte Vladimir Nabokov einen Roman, der bis heute von einigen als (sprachliches) Meisterwerk gepriesen wird, während andere ihn für seinen problematischen Umgang mit dem Thema Kindesmissbrauch kritisierten und kritisieren. In “Lolita” verfällt der Protagonist Humbert Humbert der 12jährigen Dolores Haze und entführt sie, nach dem Unfalltod ihrer Mutter, auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten, auf der er sie systematisch sexuell missbrauchen will.

Schockierend, abgesehen von der generellen Natur ihrer Beziehung, ist, dass nicht etwa Humbert Lolita im weiteren Verlauf der Handlung manipuliert, vielmehr ist es umgekehrt: Lolita, die bereits Erfahrung mit Sex hat, lässt sich auf Humberts Wünsche ein, allerdings nur um sein Begehren und seine Verliebtheit ausnutzen; sie verlangt Geschenke von ihm und setzt ihren Willen bei verschiedenen Punkten durch, entzieht sich Stück für Stück – und verlässt ihn schließlich für jemand anderen. So zumindest die Darstellung bei Nabokov.

Natürlich ist dies die Darstellung der Ereignisse aus der Sicht Humbert Humberts. Und er sieht sich als großen Liebenden, als jemanden mit einer verbotenen, aber reinen Passion. In dieser verqueren Logik könnte das, was er bei Lolita als Manipulation, als ein Ausnutzen wahrnimmt, auch schlicht ihr Versuch sein, zu überleben, irgendwie die Kontrolle über ihre Situation zu behalten.

Es ist diese Frage, dich mich bei “Lolita” immer am meisten beschäftigt hat: Inwieweit ist der Verbrecher Humbert gefangen in seiner eigenen Logik und Wahrnehmung der Welt? Oder anders gesagt: inwieweit verbiegt er seine Wahrnehmung und seine Logik, um sein Begehren als etwas Mögliches, etwas Gutes und Reines vor sich selbst darstellen zu können. Man kann gegen Nabokovs Roman viel vorbringen, aber diese Ambivalenz ist meiner Ansicht nach in dem Buch angelegt.

Kate Elizabeth Russell zieht die Geschichte von der anderen Seite auf (allerdings insofern entschärft, als ihre Protagonistin immerhin bereits fünfzehn ist und ihr Englischlehrer, mit dem sie schläft, eine wichtige, aber nicht die einzige Bezugsperson ist) und insofern war für mich bei Meine dunkle Vanessa ein Punkt besonders interessant: Inwieweit stellt sie das Opfer als gefangen in der Logik und Wahrnehmung des Täters dar? Ist ihre Protagonistin in den Bann dieser Logik/Wahrnehmung geraten und handelt deshalb so, wie sie handelt?

Ich wurde nicht enttäuscht. Meine dunkle Vanesse entpuppte sich als gründlicher und mitunter heftiger Abstieg in die Tiefen der Manipulation und zeigt auf erschreckende Weise, wie sehr Machtverhältnisse/-gefälle unsere Einschätzung von Situationen verzerren können und wie Menschen (in solchen Fällen meist Männer) durch Manipulation eine ganz eigene, für sie vorteilhafte Form von Wahrnehmung und Erinnerung kreieren können.

2013 schrieb die Autorin Alissa Nutting mit ihrem Roman Tampa ebenfalls eine Art Gegenstück zu Nabkovos “Lolita”, aber auf andere Weise. Ihre Protagonistin, eine Lehrerin, wird sexuell angezogen von Jungen an der Schwelle zur Pubertät. Obgleich sie sich weniger vormacht als Humbert Humbert und ihr Verlangen nicht in irgendeine Form von Überhöhung kleidet, ist sie wie er geradezu besessen davon, einige Jungen ihrer Schule zu verführen und geht immense Risiken ein.

Allerdings ging Tampa in meinen Augen, im Gegensatz zu Meine dunkle Vanessa, als Geschichte nicht ganz auf. Wohl auch deswegen, weil es schwerer ist, wenn der Täter eine Täterin ist und die Jungen, die sie begehrt, als sehr willens dargestellt werden, ihr Begehren zu erwidern; die klassischen Geschlechterstereotype machen den Missbrauch schwerer greifbar und die expliziten Sexszenen tun ihr übriges. Aber die größte Schwäche von Tampa würde ich, nach der Lektüre von Meine dunkle Vanessa, in der Psychologie der Figuren verorten.

Denn gerade die ist hier gelungen und macht dieses Buch so stark und besonders: es wird die Geschichte nicht nur aus der Opferperspektive erzählt, sondern sowohl die Psychologie des Opfers als auch die des Täters behutsam und trotzdem konsequent und umfassend herausgearbeitet. Wo Nabokovs Fokus eher auf Humberts Schwärmerei und Passion liegt und Nutting sich kaum um die Psychologie schert, sondern vielmehr auf Voyeurismus und Drastik setzt, gelingt es Russell fulminant zum Kern der eigentlichen Frage vorzustoßen: Was ist das für eine Beziehung, wie entsteht sie, was macht sie aus, was für Schäden richtet sie an?

Eine Frage, die natürlich in Abgründe führt, aber dergleichen vermag gute Literatur: uns in Abgründe führen, die Tiefen erforschen, ohne dass wir uns hinabstürzen, uns darin verlieren müssen. Meine dunkle Vanessa schont die Leser*innen sicher nicht, aber in dieser Schonungslosigkeit liegt auch die große Kraft dieses Buches. Dennoch: Triggerwarnung. Nur lesen, wenn man auf einen Abstieg gefasst ist.

P.S.: Nicht nur der Vollständigkeit halber will ich hier auch noch das Buch “The cat came back/Die Katze kam zurück” von Hilary Mullins erwähnen, ein Jugendroman, allerdings ein sehr reifer (und das einzige Werk der Autorin). Er hat die Form eines Tagebuchs, geschrieben aus Sicht der 17jährigen Stevie, die ebenfalls eine schon länger andauernde Beziehung zu ihrem Lehrer hat, die sie erst im Nachhinein als missbräuchlich begreifen kann. Bei Mullins geht die Selbstverleugnung der Protagonistin so weit, dass sie anfangs ihre Gefühle für ihre neue Teamkollegin Andrea verdrängt.

“Die Katze kam zurück” ist insofern besonders, als die Befreiung von der missbräuchlichen Beziehung darin mit der Entdeckung der eigenen Sexualität einhergeht. Erst im Nachhinein stellt Stevie fest, dass es in der Beziehung zum Lehrer nicht um Intimität oder Gefühle ging, sondern vor allem um Macht, besser gesagt: sein Vergnügen an der Machtausübung und ihrer Bereitschaft, Macht über sich ausüben zu lassen.

Im Übergang


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Ich muss zugeben, dass ich Mareike Fallwickls zweiten Roman mit einer gewissen Skepsis zu lesen begann. Zwar gefiel mir von Anfang an die Art, mit der sie ihren Plot aufzog, aber ich wurde nicht so recht warm mit den Passagen, die anfangs wie der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Story wirkten.

Aber zunächst kurz zum Aufbau: der Roman ist in drei Erzählstränge geteilt, die sich nach einem festen Prinzip abwechseln. Zum einen sind da die elf Kapitel, die von 10 auf 0 in den Überschriften heruntergezählt werden, geschildert aus der Sicht von Maximilian Wenger (oder einfach “der Wenger”, wie ihn alle nennen), einem ehemaligen Skandalautor und Krawallmacher, der sich nach der Trennung von seiner Frau in seinem neuen Leben nicht zurechtfindet und vor allem: nicht mehr schreiben kann.

Im zweiten Erzählstrang folgen wir der Geschichte von Zoey, Wengers Tochter, mit der er allerdings wenig Berührungspunkte hat. Sie steht kurz vor dem Schulabschluss und ihre Passionen sind die Fotografie und ihr ehemals bester Freund, zu dem sie nun in einem sehr unklaren Verhältnis steht. Sie fühlt sich aufgerieben zwischen ihrer Suche nach einer eigenen Idee für die Zukunft und den vielen, vielen Altlasten, allen voran der Versuch ihrer Mutter, sie zu einer Person zu machen, die sie nicht sein will. Die Überschriften ihrer Kapitel sind Hashtags.

Der dritte Erzählstrang ist jeweils zwischen den Kapiteln von Wenger und Zoey platziert (aber nicht zwischen denen von Zoey und Wenger). Er besteht aus Briefen, die an Wengers Adresse geliefert werden und an den alten Mieter seiner neuen Wohnung gerichtet sind. In ihnen erzählt eine Frau von einer großen Liebe und einem großen Schmerz und wie es dazu kam, dass sie erstere verlor und ihr letzterer zugefügt wurde.

Es ist dieser dritte Strang, mit dem ich am Anfang sehr zu kämpfen hatte. Nicht nur erschienen mir die Briefe bei aller Sprachgewalt wenig substantiell, es erschien mir auch nicht glaubwürdig, dass jemand so peu à peu seine Geschichte erzählt, anders gesagt: dieser ganze dritte Strang erschien mir auffällig konstruiert.

Ich habe diese Vorbehalte dann aber schnell hinter mir gelassen. Denn abseits dieser Briefe (und zum Teil auch in ihnen, was sich aber erst im Lichte der abgeschlossenen Lektüre fassen lässt) ist Fallwickl ein bestechender und beeindruckend realistischer Roman geglückt, in dem das Themenfeld um MeToo, sexuelle Gewalt und den ambivalenten Umgang mit beidem in vielen Facetten abgebildet wird.

Sehr schnell ist auch klar, dass die Briefe nicht Dreh- und Angelpunkt, sondern eher eine Art MacGuffin sind, also ein Katalysator, der die Handlung vorantreibt und an einem bestimmten Punkt der Story den entscheidenden Spin geben. Bis dahin ist etwas Geduld vonnöten, das Buch baut sein Setting langsam auf, dafür nachhaltig, wie man im späteren Verlauf merkt.

Letztlich ist “Das Licht ist hier viel heller” eine Geschichte des Übergangs. Es thematisiert, wie oben bereits angesprochen, sexuelle Übergriffe, aber lotet darüber hinaus auch sehr gut die Konzeption von Lebensentwürfen aus. Beide Protagonist*innen und auch einige andere Figuren befinden sich am Scheideweg und die Art, wie sie mit ihren jeweiligen Rückschlägen und Problemen umgehen, was sie motiviert, bildet sehr gut die gesellschaftlichen Tendenzen unserer Zeit ab.

Insofern ist der Roman beides: Eine Geschichte zweier (dreier) Menschen im Übergang und ein profunder Blick auf unsere Welt im Wandel (und Stillstand). Aber vor allem ist dieser Roman ein sehr lesenswertes Buch.

Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zum Film “The red pill”


The red pill Nur selten geschieht es in Zeiten, die ihren Fokus und ihre Dynamiken so sehr auf Extreme verlagert haben wie unsere – zusätzlich forciert von Faktoren wie Sensation und Unterhaltung –, dass man eine wirklich differenzierte Studie zu sehen/zu lesen bekommt. Kontroversen sind heute meist ein Euphemismus für den Austausch von Beleidigungen; im besten Fall sind es Gefechte, in denen die Fronten so klar gezogen sind, dass man sich auch klar positionieren muss, ansonsten nimmt man nicht teil. Kontroversen, die Weltsichten tatsächlich infrage stellen und nicht dazu führen, sie zu verhärten, gibt es kaum noch; Kontroversen, die Erschütterungen sind, Anregungen; die Gebiete sind, in denen man sich nicht sofort positionieren kann oder sich in vielen Positionen wiederfindet.

Der Film der amerikanischen Filmemacherin Cassie Jaye enthält genügend Stoff für eine solche produktive Form der Kontroverse.

Worum geht es in „The red pill“?
Die zuvor vor allem in feministischen Kreisen tätige Filmregisseurin Jaye stößt im Zuge einer Recherche auf die Website von men‘s-right-Aktivist*innen. Fasziniert von dieser, ihrem feministischen Weltbild scheinbar diametral gegenüberstehenden Bewegung, will sich ein genaueres Bild machen: wie ticken diese Menschen, die davon überzeugt sind, dass Männerrechte nicht genug gewürdigt werden. Sie besucht einige Aktivist*innen, führt Gespräche mit ihnen, hört sich an, was sie bewegt und wie sie dazu kamen, Männerrechtsbewegungen zu gründen – und dokumentiert alles mit der Kamera, schneidet zusätzlich Live-Berichterstattungen, Bilder, Atmosphärisches mit ein. Sie besucht auch Feminist*innen, Genderaktivist*innen und -forscher*innen und hört sich ihre Meinungen zu den Motivationen und Aussagen der Männerrechtsbewegung an. Bald beginnt sie zwischen all den Motivationen und Kritikpunkten die Orientierung zu verlieren – und stellt sich selbst ungewohnte Fragen: inwiefern kann Feminismus als Ideologie gesehen werden? Was lässt man außen vor, wenn man die Männerrechtsbewegung und ihre Themen ignoriert? Zwischen diesen Fragen und ihren eigenen Überzeugungen werfen sich Grauzonen auf …

Direkt vorweg: man darf sich die Aktivist*innen der men‘s-right-Bewegungen nicht wie Al Bundys „No Ma’am“-Männer-Haufen, eine Gruppe Stammtisch-Misogyniker oder eine Horde Machotypen, Verherrlicher von männlichen Tugenden vorstellen. Sie proklamieren (in der Mehrzahl) nicht, dass Männer ihre Männlichkeit wiederfinden/darauf stolz sein sollen oder etwas in der Richtung, noch sind sie eine schlichte Kontrabewegung, deren Ziel die Aufweichung von feministischen Aussagen und Ideen ist. Es sind Aktivist*innen, denen es darum geht, die andere Seite sichtbar zu machen. Es sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die sich in Feldern bewegen, in denen Männerrechte nach wie vor vernachlässigt werden und die, von ihrer Warte aus, mit einer Gesellschaft ringen, in der zu wenig Räume für eine differenzierte Betrachtung von Männern als Opfer, als Leidtragende, als des Mitgefühls für wert erachtete Individuen existieren.

Mir ist bewusst, dass das alles erstmal empörend klingt. Warum beschweren sich diese Menschen – von denen man weiß (oder annimmt?), dass sie auf Grund ihres Geschlechts zu den Privilegierten zu zählen sind – über irgendetwas, das sie betrifft, während sie sich für die Rechte von Menschen einsetzen könnten, die über Jahrhunderte unterdrückt wurden und nicht die Rechte und Privilegien besaßen, die Männer aufgrund ihres Geschlechts seit jeher hatten (teilweise wohlgemerkt nur, wenn sie in die richtigen Verhältnisse hineingeboren wurden)? Im Großen und Ganzen ist diese Empörung natürlich berechtigt. Aber wie sieht es auf der Mikroebene aus? Wie, wenn man den Blick auf einen bestimmten Aspekt wirft?

Männer, die dasselbe Verbrechen begangen haben, bekommen bis zu 60% längere Gefängnisstrafen als Frauen (in den vereinigten Staaten, in Europa gibt es keine Studien zu dem Thema, zumindest habe ich keine gefunden). In Sachen Vaterschaftsrecht und Mutterschaftsrecht gibt es gravierende Diskrepanzen (was, wiederum, teilweise auf patriarchale Denkweisen zurückzuführen ist). Männer verrichten nach wie vor einen Großteil der schweren Arbeiten und 97% der Arbeitstodesfälle in den Vereinigten Staaten entfallen auf Männer (in der EU entfallen 66% der nichttödlichen Arbeitsunfälle auf Männer) (auch hier ist natürlich die hohe Zahl teilweise auf die männliche Vormachtstellung in diesen Berufen zurückzuführen; aber würde sich, wenn sich das ändern würde, wirklich eine große Anzahl Frauen dazu entscheiden in Bergwerken zu arbeiten, auf dem Bau oder auf Ölplattform? Zurecht haben die feministischen Bewegungen früh für einen Zugang zu höherer Bildung, höheren Posten in Unternehmen und gleiche Gehälter gekämpft, eine Forderung, der man sich nur anschließen kann und die unbestritten umgesetzt werden muss. Aber wie steht es mit der Beteiligung an den gefährlichen Arbeiten? Gehören sie gewürdigt, gehört auch hier die Gleichberechtigung, zugunsten der Männer, umgesetzt?)

Ich glaube nicht, dass diese Themen in irgendeiner Weise mehr oder dringendere Beschäftigung verdienen als andere. Sie sind nicht komplett aus der Luft gegriffen, das ist alles. Und ich glaube, dass es wichtig ist, auf sie einzugehen, denn wenn wir über neue Formen von reflektierter Männlichkeit diskutieren und ihnen den Weg bereiten wollen, dann werden diese Aspekte eine Rolle spielen. Wenn Männer als Opfer nicht wahrgenommen werden, wenn ihnen dieser Status kategorisch abgesprochen wird oder als zweitrangig gewertet wird, dann wird das den Prozess eines solchen Diskurses, eines Neudenkens hemmen. Ich will gar nicht leugnen, dass es trotzdem schwerfällt, den Gedanken der Unverhältnismäßigkeit im Hinblick auf diese Vergleiche und Forderungen, auf die ganze Idee von Männerrechtsbewegungen, auszublenden. Ich glaube, er sollte auch nicht ausgeblendet werden, denn er ist berechtigt; aber er berechtigt nicht dazu, diese Bewegungen wiederum als unberechtigt oder nicht erwähnenswert zu betrachten.

Viele werden jetzt sagen: da hab ich eh nichts dagegen und der Feminismus hat sicher auch nichts dagegen. Das stimmt. Es gibt Überschneidungspunkte zwischen den Männerrechtsbewegungen und den Frauenrechtsbewegungen – beide wollen Gleichberechtigung und haben natürlicherweise jeweils jene Themen, bei denen dies für ihre Seite noch nicht erreicht ist, mehr auf dem Zettel als jene, bei denen sie in der privilegierten Position sind. Wer das Privileg innehat, kann sich leisten zu leugnen, dass es ein solches gibt, um Carolin Emcke zu paraphrasieren. Der Film zeigt auf, wo die blinden Flecken in einer ansonsten richtigen Denkweise liegen könnten; diese Flecken, einmal entdeckt, entstellen die Denkweise nicht; aber sie entstellen sie möglicherweise, wenn man sie nicht entdeckt.

Ja, der Film spielt in Amerika und ist auf europäische Verhältnisse nur bedingt anwendbar; überhaupt ist er vermutlich gar nicht auf irgendwelche Verhältnisse anwendbar. Er stürzt keine gesellschaftlichen Paradigmen, bringt keine revolutionäre Ideen an den Mann/die Frau, auch wenn manche Redner*innen dies implizieren. Aber er verschafft eine breitere Perspektive, beleuchtet Ränder, erweitert ohne Frage das Spektrum.

Letztlich war ich am Ende, nach viel Widerstand und viel Unbehagen, noch mehr von meiner feministischen Perspektive überzeugt – aber ebenso davon, dass sie modifiziert gehört. 90% der Morde in der Welt werden von Männern begangen – es gibt ganz klar einen engeren Zusammenhang zwischen tödlicher Gewalt und dem männlichen Geschlecht. 1 von 3 Frauen erfährt in intimen Beziehungen regelmäßig Gewalt, man(n) kann es nicht oft genug sagen. Aber ich hätte vor diesem Film nicht gewusst, dass 1 von 4 Männern ebenfalls in intimen Beziehungen Gewalt erfährt. Gewalt ist kein rein männliches Phänomen und sollte nicht als ein solches bezeichnet und besetzt werden, auch wenn seine offensichtlichsten Auswüchse meist männlich geprägt sind und zu dieser Sicht verleiten (diese Auswüchse sollen auch nicht kaschiert werden). Und ja, es gibt viele Männer in Machtposition, die ihre Macht zu Unterdrückung von Frauen missbrauchen; trotzdem berechtigt das nicht zu allgemeinen Aussagen über Männer, was Macht und Gewalt angeht. Eine männliche Geste, die einem missfällt, sollte, auch wenn wir uns in patriarchalen Strukturen befinden, nicht automatisch als Machtgeste gedeutet werden. Wir alle sind Ausdruck der Strukturen, in denen wir uns bewegen – aber genauso Ausdruck unser selbst. Diese Unterscheidung zu vergessen oder gar aufzuheben wäre fatal.

„The red pill“ ist von einigen Stellen als Propaganda-Film bezeichnet und ihm ist vieles vorgeworfen worden, einiges davon zu Unrecht (und wohl ohne die genaue Kenntnis des Inhalts), so wie manches, das in Teilen durchaus greift (bspw. ist ein Teil des Einstiegs durchaus heftig und sehr problematisch und viel zu lang, bis fast zum Schluss, bleibt der Hintergrund unaufgelöst). Es liegt mir auch fern, die darin geäußerten Meinungen allesamt als gut zu bezeichnen oder ihnen zuzustimmen (es gibt auch hier Meinungen, die einfach an jeglichem vernünftigen Diskurs vorbeigehen, Argumente, die einfach nicht ins Gewicht fallen, Themen wie rape-culture, die zwar angeschnitten, aber nicht integriert werden). Aber in der Art wie dieser Film Menschen unterschiedlichster Hintergründe und Motivationen zu Wort kommen lässt und sich nicht auf die polemischen, sondern die produktiven Aussagen und Ideen konzentriert und sie verfolgt, in seiner Art, die Dinge und Stimmen einfach zu zeigen, leistet er etwas, das ich schon lange nicht mehr erlebt habe: er diktiert keine Sicht, er wirft die Zuschauer*innen ultimativ auf sich selbst zurück. Und zwingt sie dazu, sich mit den eigenen Ansichten – die vielleicht teilweise im Gehirn nur noch reproduziert, aber nicht mehr mit Umsicht zusammengesetzt werden – auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung mag letztlich wiederum dazu führen, dass man viele der im Film geäußerten Meinungen als verfehlt betrachtet, Positionen findet und definieren kann, von denen aus sie angreifbar sind. Aber die Auseinandersetzungen mit den eigenen Überzeugungen schaden nie – und dazu lädt dieser Film auf vielschichtige Weise ein. Und allein deshalb ist er sehenswert. Weil er hadert, weil er sich vielem aussetzt. Wie schrieb eine kanadische Autorin unlängst: „Wir müssen aufhören, Kunstwerke nur danach zu bewerten, ob man ihnen zustimmen kann oder nicht. Wenn es je einen Holzweg gab, dann ist es dieser. Die Frage ist nicht, wie wir sie bewerten, was also wir mit ihnen machen. Sondern wie sie auf uns wirken.“

Zu Rebecca Solnits “Wenn Männer mir die Welt erklären”.


Wenn Männer mir die Welt erklären „das Syndrom, von dem ich spreche, ist ein Krieg, dem sich fast jede Frau Tag für Tag ausgesetzt sieht, ein Krieg, der auch in ihrem Innern stattfindet, die Überzeugung, überflüssig zu sein, die Verlockung zu schweigen, und selbst eine Karriere als Schriftstellerin (die ausgiebig recherchiert und korrekte Fakten liefert) hat mich von all dem nicht gänzlich befreien können.“

Es beginnt mit einer Geschichte, die mittlerweile vermutlich hinlänglich bekannt ist, zumal sie auch anekdotischen Charakter hat: auf einer relativ unspektakulären Dinner-Party fragt ein älterer Herr Rebecca Solnit nach ihren Büchern. Sie will gerade anfangen von ihrem neusten Buch über Eadweard Muybridge zu erzählen, da fällt er ihr auch schon, kaum dass sie den Namen erwähnt, ins Wort und beginnt, selbst von einem Buch über Muybridge zu erzählen, das im selben Jahr erschienen ist.

Schnell wird Rebecca Solnit klar, dass es ihr Buch ist – eine Möglichkeit, die dem Gastgeber nicht in den Sinn zu kommen scheint und auch Hinweise bringen ihn zunächst nicht aus dem Konzept, er doziert frohgemut weiter. Als die Information dann doch zu ihm durchdringt, kommt heraus: er hat das Buch gar nicht gelesen, sondern nur eine Besprechung im New York Review.
Eine hübsche Gegebenheit mit einer guten Pointe, wäre da nicht der symptomatische Kern – ein Kern, der sogar noch ein bisschen über das hinausgeht, was in den letzten Jahren, anhand von Begriffen wie „mansplaining“, kritisch verhandelt wurde.

„Falls ich es in meinem Essay nicht klar genug zum Ausdruck gebracht habe: Ich finde es wunderbar, wenn mir jemand etwas erklärt, was mich interessiert und womit er oder sie sich auskennt, ich mich hingegen nicht; die Unterhaltung gerät erst dann in eine Schieflage, wenn man mir etwas erklärt, womit ich mich auskenne, der oder die Erklärende jedoch nicht.“
(Aus dem Nachsatz, vier Jahre nach dem Essay entstanden)

Mansplaining klingt nämlich zunächst einmal nervig, unnötig, arrogant, ignorant und paternalistisch, aber nicht unbedingt schwerwiegend. Das Problem reicht aber noch tiefer, wie Solnit im Verlauf des Essays und im Verlauf des ganzen Buches, in verschiedenen Texten, ausführt; es ist im Prinzip dasselbe Problem, das Ingeborg Bachmann in der Erzählung „Simultan“, Karen Blixen in ihren Briefen oder Virigina Woolf in ihrem Essay „A room of one‘s one“ beschreiben: die Schwierigkeit, als Frau ernstgenommen, und, noch grundsätzlicher, als selbstbestimmt wahrgenommen zu werden.

„es muss auf diesem Planeten mit seinen sieben Milliarden Bewohnern Milliarden von Frauen geben, denen immer wieder erzählt wird, dass sie keine verlässlichen Zeuginnen ihres eigenen Lebens seien, dass ihnen die Wahrheit nicht gehöre, weder jetzt noch jemals sonst.“

Die Anekdote verdeutlicht also nicht nur das Problem des bevormundenden Mannes, es verdeutlicht einen Teil, wenn nicht sogar die ganze Struktur des Patriachats. Und das besteht nicht nur aus erklärungswütigen Männern. Es besteht aus Männern, die meinen, sie könnten entscheiden, was Frauen mit ihrem Körper tun sollten und was nicht; es besteht aus Männern, die meinen, sie hätten das Recht, an Frauen sexuelle Handlungen zu vollziehen oder mit ihnen in eine sexuelle Beziehung zu treten, ohne vorher ihr Einverständnis eingeholt zu haben; es besteht aus Männern, die Frauen zum Schweigen bringen, wenn sie gegen sie aufbegehren, mit Mitteln wie Verleumdung, Banalisierung, Hysterie-Vorwürfen etc., aber auch mit Mitteln der Gewalt bis hin zu Demütigung und Mord.

„gibt es ein weitverbreitetes, tiefgreifendes, schreckliches Muster der Gewalt gegen Frauen, das permanent übersehen wird. Hin und wieder erfahren Fälle, an denen prominente Persönlichkeiten beteiligt sind, oder die schauerlichen Einzelheiten eines Geschehens ein großes Medienecho, doch diese Fälle werden als Anomalien behandelt, während die Flut beiläufiger Pressemeldungen über Gewalt gegen Frauen hier bei uns wie in jedem anderen Land der Erde […] eine Art Hintergrundtapete für die Nachrichten darstellt.“

Und darum geht es in diesem Buch. Es wäre schade, würde man dieses Buch mit einem Nicken und dem Gedanken abtun: ja, kenne die Anekdote, kenne das Problem. Denn Solnit fächert hier in mehreren Essays eine ganze Palette von Problemen auf, die mit patriarchalen Strukturen und dem Rollenbild der Frau in unseren Gesellschaften zu tun haben.

Der zweite Text beispielsweise beschäftigt sich mit dem Themenkomplex Gewalt und Männlichkeit.

„Gewalt hat keine Rasse und keine Klasse, keine Religion und keine Nationalität, aber sie hat ein Geschlecht.
An dieser Stelle möchte ich eines betonen: Auch wenn so gut wie alle diese Verbrechen von Männern begangen werden, bedeutet das nicht, dass alle Männer gewalttätig wären. Die meisten sind es nicht. Zudem erfahren offenkundig auch Männer Gewalt, zum großen Teil durch andere Männer, und jeder gewaltsame Tod, jeder Angriff ist schrecklich.“

Natürlich ist es den meisten Menschen irgendwie klar. Man muss ja nur in die Geschichtsbücher schauen: die meisten Kriege wurden von männlichen Anführern mithilfe der männlichen Bevölkerung ausgefochten (wobei natürlich nicht nur die männlichen Bevölkerungsmitglieder unter Kriegen zu leiden hatten!). Die meisten Mörder, die die Geschichtsbücher nennen, sind Männer.
Aber auch ein Blick in die Zeitung von heute reicht aus: die Anzahl der Verbrechen gegen Frauen ist gewaltig. Nur wird jedes Verbrechen als Einzelfall behandelt und mit allem möglichen in Verbindung gebracht, nur nicht mit dem generellen Problem, dass es auch in unseren Gesellschaften nicht selten vorkommt, dass ein Geschlecht dem anderen in vielen Situationen ausgeliefert ist – und das nicht, weil Frauen hilflose Wesen sind, sondern weil Männer öfter gewalttätig sind und ihre Gewaltbereitschaft sie zu einer ständigen Gefahr macht.

Auch Frauen begehen Verbrechen. Auch Frauen üben Gewalt in Beziehungen aus – aber das endet erstens selten tödlich und zweitens sind diese Taten in einem hohen Prozentsatz der Fälle Akte der Notwehr oder der Angst oder der Verzweiflung.

„Die Verfügbarkeit von Waffen ist in den Vereinigten Staaten offenkundig ein Problem. Dennoch werden neunzig Prozent der Morde an Männer begangen, obwohl Waffen für alle verfügbar sind. […] Alle neun Sekunden wird in unserem Land eine Frau geschlagen. […] Die Haupttodesursache von schwangeren Frauen sind in den USA die Ehemänner. […] Unter den amerikanischen Ureinwohnerinnen wird jede dritte Frau vergewaltigt, wobei achtundachtzig Prozent der Täter in den Reservaten nicht-indianischer Herkunft sind […] Nach Informationen des Theaterprojekts Ferite a morte der Schauspielerin Serena Dandini und ihrer Kolleginnen werden weltweit jedes Jahr rund sechsundsechzigtausend Frauen von Männern unter bestimmten Umständen getötet, für die die Gruppe den Begriff femminicidio, Feminizid, geprägt hat. Meist werden diese Frauen von Liebhabern, Ehemännern, ehemaligen Partnern umgebracht, die damit die extremste Form von Beherrschung ausüben, die endgültige Form der Auslöschens, des Zum-Schweigen-Bringens, des Verschwindenlassens. […] Die üblichen Ratschläge [für die Verhinderung von Vergewaltigungen beispielsweise] bürden die gesamte Last der Prävention den potenziellen Opfern auf, während sie die Gewalt als gegeben voraussetzen.“

Nicht nur die Gewalt, was schlimm genug ist, sondern auch die damit verbundene Idee von Männlichkeit wird als gegeben hingenommen. Unterbewusst scheint unser System andauernd zu verkünden: Männer sind halt so, Frauen sind halt so. Die Phrase schwingt mit: wenn der Präsident im Fernsehen eine selbstgefällige Rede hält; wenn sich ein Freund aus Frustration in eine misogyne Bemerkung versteigt; wenn der eigene Vater beim Weihnachtsessen eine witzig gemeinte sexistische Bemerkung macht und die eigene Mutter nur müde lächelt; oder wenn man mal wieder auf fadenscheinige Art ein sexueller Übergriff kleingeredet wird.

„Wenn wir über Verbrechen wie diese reden würden und darüber, warum sie so häufig geschehen, müssten wir auch darüber reden, welche tiefgreifenden Veränderungen unsere Gesellschaft, dieses Land und so gut wie alle anderen Länder brauchen. Täten wir es, müssten wir über Männlichkeit oder männliche Rollenbilder reden und vielleicht auch über das Patriachat, und darüber reden wir nicht gerade oft.“

Das Problem ist: wenn sich dieses Denken nicht ändert, sehe ich nicht nur ein Problem für unsere Gesellschaften, sondern überhaupt für unsere Welt. Denn sehen wir uns doch mal um: wenn es stimmt, dass diese Welt lange Zeit eine „man’s world“ war, dann (bei allen großartigen Erfindungen und Errungenschaften, Erfolgen und Ideen, die auch nicht ohne die unsichtbare Mitarbeit, Hilfe und Unterstützung des weiblichen Teils der Bevölkerung möglich gewesen wären) sollte sie es in Zukunft nicht mehr sein, denn dann hat sie keine Zukunft. Vielleicht bin ich da pessimistisch, sogar hysterisch, aber ich glaube, dass es schon einen (wenn auch nicht alleinigen) Zusammenhang gibt zwischen überholten Männlichkeitsbildern und den Kriegen und sonstigen Konflikten, mit denen die Welt von jeher überzogen wird. Und da hilft es nicht zu sagen: Männer sind halt so. Es existiert in unseren Gesellschaften die Idee eines Menschen, der sich aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten zu seinen eigenen tierischen Instinkten und auch zu seinen eigenen bisherigen geistigen Erzeugnissen und Wahrheiten verhalten und sie reflektieren kann. Ohne diese Idee keine Zivilisation. Und diese Idee sollte nicht vor veralteten Geschlechterrollen halt machen.

Als ich mich anhand dieses Buches (und anderer Bücher) und natürlich auch in Gesprächen mit Freund*innen mit der Problematik des Patriachats auseinanderzusetzen begann, war ich anfangs oft erschüttert, verunsichert, wie ich mich nun positionieren sollte; diese Verunsicherung hat sich bisher nicht geklärt und mittlerweile glaube ich, dass diese Verunsicherung eine Form von Achtsamkeit/Aufmerksamkeit/Bewusstsein ist, die ich nicht überwinden, sondern erstmal beibehalten sollte.
Natürlich werde ich die ganze Wucht der Problematik nie nachvollziehen können, denn mir fehlt das Gefühl unmittelbar betroffen zu sein; ich habe nie die Konsequenz erfahren, mit der eine so geartete Wirklichkeit mein Handeln bedingt, bedrängt und einschränkt; ich kann nicht wissen, was das mit einem macht, körperlich, psychisch. Ich kann es nur erahnen, aber diese Ahnung reicht mir, um zu wissen, dass etwas grundlegend falsch läuft.

„Oder wie eine gewisse Jenny Chiu twitterte: »Klar, #NichtAlleMänner sind Vergewaltiger und Frauenfeinde. Aber darum geht es nicht. Der springende Punkt ist: #JaAlleFrauen leben in der Angst vor denjenigen, die es sind.«“

Ich muss zugeben, seitdem ich Rebecca Solnits Buch gelesen habe, habe auch ich Angst. Nicht vor anderen Menschen, aber vor mir selbst. Ich denke nicht, dass ich dazu in der Lage wäre jemandem Gewalt anzutun, jemanden sexuell zu nötigen. Ich will es nicht und ich bin außerdem überzeugt davon (auch wenn das abgeschmackt pathetisch klingt), dass ich damit einen unermesslichen Schaden in meiner eigenen Seele anrichten würde. Aber ich habe Angst davor, jemandem Angst zu machen.

Ich lief einmal mit einem Freund spätnachts durch die Wien. An einer Ampel fragte er eine junge Frau, die uns allein entgegenkam, nach einer Zigarette und Feuer. Wir gingen weiter und nach einer Weile sagte er (in etwa): „Dieser Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht, als sie merkte, dass ich nur nach einer Zigarette fragen wollte.“ Auch ich hatte den Ausdruck gesehen. Erst den kurzen Schreck, als er sie ansprach, und dann die Veränderung in ihrem Gesicht, das erleichterte Lächeln, als er etwas ungelenk und entschuldigend seine Bitte vorbrachte: Er wisse, Schnorren sei irgendwie uncool, aber wir hätten noch einen langen Heimweg, etc.

Ich kenne meinen Freund und weiß, er ist nett und keineswegs gefährlich. Aber allein die Tatsache, dass er ein Mann ist und sie nachts auf offener Straße anspricht, während nur ein anderer Mann anwesend ist, bringt diese Frau kurz aus dem Gleichgewicht. Nicht, weil wir über die Maßen bedrohlich wirkten und vermutlich auch nicht, weil sie eine schreckhafte Person ist. Sondern weil wir in einer Welt leben, in der Frauen ständig Angst vor sexuellen Übergriffen und Gewalt haben müssen – sie wachsen in dieser Gewissheit auf, sie erleben es immer wieder, die permanente Möglichkeit wird ihnen eingetrichtert.

„Die Vorstellung, Frauen schuldeten Männern Sex, existiert praktisch überall. Genau wie mir damals, wird vielen Frauen schon im Mädchenalter eingeredet, dass wir mit Dingen, die wir getan, gesagt oder getragen hätten, oder einfach nur durch unser Aussehen beziehungsweise durch die Tatsache, dass wir Frauen sind, Begierden ausgelöst hätten, daher seien wir vertraglich verpflichtet, diese zu befriedigen. Wir seien es ihnen schuldig. Sie hätten ein Recht darauf. Auf uns.“

Ich glaube nicht, dass irgendein vernünftiger, emotional ausgeglichener Mensch laut sagen würde, dass sexuelle Gewalt eine prima Sache sei, die in unseren modernen Gesellschaften noch einen Platz haben sollte (dieser Glaube ist zugegebenermaßen schon oft erschüttert worden, wenn mir Freund*innen von ihren Erlebnissen berichtet haben oder auch durch dieses Buch von Solnit; im Moment halte ich noch an diesem Glauben, an dieser Hoffnung fest, zumindest, was unsere Generation betrifft.).

Dass sexuelle Gewalt schon bei einfachsten Übergriffen, physischer und psychischer Natur, beginnt, ist leider ein Aspekt, der noch nicht bei allen Leuten, die diese Aussage treffen würden, angekommen ist. Und selbst wenn doch: es ist leider immer noch gang und gäbe, dass zu wenig getan wird, um den Mechanismen und Rollenbildern, die dieses Verhalten bestärken, entgegenzuwirken. Wenn wir eine Gesellschaft ohne diese Form der Gewalt, der Unterdrückung haben wollen, müssen wir dieser Gewalt jeden Zentimeter Boden nehmen, den wir ihr nehmen können! Denn, wie Solnit scheibt, es ist klar,

„dass Gewalt in erster Linie autoritär ist. Ihre Ausgangsprämisse lautet: Ich habe das Recht, über dich zu bestimmen. […] Jeder sexuelle Übergriff ist ein Akt der Gewalt – die Weigerung, jemanden als Menschen zu behandeln, die Verletzung eines der grundlegendsten Menschenrechte, nämlich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.“

Auch mit dem Themenkomplex Männlichkeit/sexuelle Gewalt ist die Bandbreite dieser Essaysammlung noch nicht ausgereizt. Es gibt z.B. noch Kapitel über das Kassandra-Syndrom (das systematische Untergraben weiblicher Glaubwürdigkeit) und auch einen sehr gelungenen Text über das Denken und Schreiben von Virginia Woolf. Darin zitiert sie unter anderem aus Woolfs Essay „Die Berufe der Frauen“, in welchem Woolf sinnbildlich den „Engel im Haus“ (und mit ihm die Vorstellung, die jahrhundertelange mit der Rolle der Frau verbunden war) umbringt und schreibt:

„Mit anderen Worten, nun, da sie sich von der Verlogenheit befreit hatte, brauchte sie nur noch sie selbst zu sein. Ah, aber was ist »sie selbst«? Ich meine, was ist eine Frau? Ich versichere ihnen, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Sie es wissen.“

Die meisten Männer begreifen glaube ich immer noch nicht, dass ihre Geschlechtsgenossen diese Frage nach der weiblichen Identität, dem weiblichen Selbst und dessen Entfaltung, über Jahrhunderte, bis nah an unsere Gegenwart heran, bestimmt, unterdrückt, übervorteilt, verdrängt, enggezogen, kleingeredet etc. haben. Geradezu systematisch.

Man kann die Augen davor wirklich nicht mehr verschließen, unsere eigenen (vor allem männlich geprägten) Geschichtsbücher erzählen davon, wie auch unsere literarischen Kanons, in jeder Faser. In „a room of one’s own“ schreibt Virginia Woolf über all die Professoren, die ich im viktorianischen England zum Wesen der Frau geäußert haben, in zig Publikationen – eine Obsession, die furchtbare Stilblüten und noch furchtbarere Vorstellungen und Klischees des Weiblichen zur Folge hatten. Es sind Werke, die Frauen nahezu alles absprachen (und teilweise immer noch absprechen, es gibt diese Bücher ja immer noch): Integrität, Verstand, Talent, Eignung, Objektivität, Vorstellungskraft und, ja, sogar schlicht Bewusstsein in Bezug auf das eigene Wesen.

„Ich habe eine Freundin, deren Familienstammbaum über tausend Jahre zurückreicht, doch er umfasst keine Frauen. Sie musste feststellen, dass sie, im Gegensatz zu ihren Brüdern, nicht existiert. Auch ihre Mutter existiert nicht, genauso wenig wie die Mutter ihres Vaters. Oder auch der Vater ihrer Mutter.“

Rebecca Solnit erzählt in diesen Essays, geschrieben im Zeitraum zwischen 2008 und 2014, alles in allem nicht viel Neues – aber nicht davon ist alt, weil nichts davon vorbei ist, nichts davon erledigt. Und allein die schiere Ansammlung an Problematiken rund um die Themen Patriachat und Geschlechterrollen, systematische Unterdrückung und Benachteiligung, etc. ist schon bemerkenswert. Keiner der Texte ist ein großer theoretischer Wurf, aber sie sind alle ungeheuer bewusstseinsbildend – und genau das braucht es meiner Ansicht nach: dass ein Bewusstsein in die Gesellschaft getragen wird, geschmissen meinetwegen. Ein Bewusstsein bzgl. der Dimensionen, der Ausmaße, der Mechanismen, der schieren Tatsachen. Ein Bewusstsein dahingehend, dass wir es hier mit einem grundsätzlichen und richtungsweisenden Problem zu tun haben, genauso wichtige wie jene, die den Postkolonialismus oder dem Klimawandel betreffen.

Also, bitte, auch wenn es zunächst so klingt, als könnte man dieses Buch auch subsummieren und müsste es nicht lesen: lest es! Leiht es euch aus. Redet mit jemandem, der es gelesen hat. Lest zumindest einen der anderen Essays. Kritisiert sie, überholt sie! Führt die Diskussionen, die sich aus diesen Texten ergeben. Es wäre so, so, so wichtig.

„Wie soll ich diese Geschichte erzählen, die wir schon allzu gut kennen? Ihr Name war Afrika. Sein Name war Frankreich. Er kolonisierte sie, beutete sie aus, brachte sie zum Schweigen, und noch Jahrzehnte nachdem das angeblich vorbei war, griff er willkürlich in ihre Angelegenheiten ein, an Orten wie der Elfenbeinküste, die ihren Namen nicht ihrer Identität, sondern ihren Exportgütern zu verdanken hat.
Ihr Name war Asien. Seiner war Europa. Ihr Name war Schweigen. Seiner war Macht. Ihr Name war Armut. Seiner war Reichtum. Ihr Name war SIE, aber was gehörte ihr? Sein Name war ER, und er ging davon aus, dass alles ihm gehörte und er sie nehmen konnte, ohne zu fragen und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.“

 

Sex & de Maniac. Alissa Nuttings “Tampa”


Celeste Price ist eine junge Lehrerin. Sie sieht blendend aus. Hat einen Ehemann, fängt an einer neuen Schule an. Aber eigentlich ist es so:

Celeste Price ist süchtig. Süchtig nach Sex. Nach Sex mit Minderjährigen, gerade in die Pubertät einsteigenden 14jährigen Jungen. Es ist ihre einzige Droge. Es ist die einzige Gravitation in ihrem Leben, die alles zu sich hinzieht. Es gibt kein anderes Thema für Celeste, das Buch, seine Sprache und den Leser. Im Kopf von Celeste bewegen wir uns durch eine Welt, deren Bildqualität nur an der Schnittstelle zwischen ihrer Vagina und ihrem besessenen Verstand ungestört ist.

Schilderungen von weiblicher Sexualität in Romanen sind ja seit jeher mit Vorsicht zu genießen, wird an eine solche Darstellung doch immer die Erwartung gestellt, entweder kritisch-gehemmt-neurotisch zu sein oder zügellos und bahnbrechend. Was nicht heißen soll, dass es immer so geschieht (aber doch noch allzu häufig). Es gibt gute, differenzierte Schilderungen von weiblicher Sexualität (und auch von weiblichen Ausschweifungen), in Werken von Virginia Woolf, D.H. Lawrence, Wolfgang Koeppen, Anne Sexton, um nur einige zu nennen. Weibliche Sexualität ist auch komplexer als männliche und wird bisher dennoch oftmals von dieser Warte aus beschrieben und definiert.

Aber das sind grundsätzliche Probleme und es ist natürlich auch nicht die Absicht dieses Buches das differenzierte Bild einer (Achtung: schwierig zu fassendes Adjektiv) gesunden Sexualität zu zeigen. Nicht umsonst wird es als Mischung zwischen American Psycho und Lolita angepriesen, zwei nicht gerade zimperliche Romane, die sich ebenfalls mit zwei pathologischen Extremen beschäftigen.

Trotz der ganzen Aberei bleibt ein fieser Nachgeschmack zurück, zumindest wenn einem vor lauter Vorfreude auf ein durchkomponiertes Portrait der Psychose und ihrem Innenleben das Wasser bereits im Mund zusammenlief und dann nur die sexuellen Brachialien dazu führten, dass einem ein bisschen die Spucke wegbleibt, während die Charakterzeichnung nicht so schön serviert wurde wie die großaufgetischte Gelegenheit, eine Frau und einen Pubertierenden möglichst häufig beim Geschlechtsakt zu beschreiben.

Es gibt durchaus Ansätze zu einem gelungenen Psychogramm, doch am Ende hat Celeste zu einfache Bewältigungsmechanismen, die die Problematiken zugunsten der Saturnalien überspringen, und die nicht nur im Hirn der Protagonistin, sondern auch im Verlauf der Handlung greifen. Der (im doppelten Sinne) Fall von Celeste böte viele Gelegenheiten zur Selbstbetrachtung und (Selbst-)Irritation, zu Wünschen nach Heilung oder kurzen Abschweifungen – stattdessen bekommt man einen Porno, der sich eine Rundumgeschichte aus exquisiten und bewährten Requisiten baut: eine Ehe, einige andere Beziehungen, einen Weltekel bei der Protagonistin und ein paar Spannungsbögen und Ereignisse, die auf unterschwellige Weise bedingen, dass noch mehr über Sex geschrieben wird.

Für diejenigen Leser, für die Sexualität nicht nur interessant ist, weil sie ein Reiz ist, sondern weil sie (gerade in Kombination mit Neurose) ein interessantes und wichtiges Thema der Lebenswirklichkeit sein kann, wird das Buch höchstwahrscheinlich enttäuschend verlaufen. Es ist weder schlecht geschrieben, noch total misslungen, stemmt sich aber zu wenig gegen sein eigenes Klischee und in seine eigene Problematik (ganz im Gegensatz zu z.B. Lolita) und weigert sich seiner Protagonistin mehr als ihre Lust an die Hand zu geben (mehr als eine obligatorisch-kurze Vergangenheitsbeschreibung wäre zum Beispiel gut gewesen).

Es bietet vor allem: Sex. Und Ausführungen über den Wunsch nach Sex. Die Rahmenhandlung mit Schule, Ehe und Figuren rahmt ganz schön, mehr nicht, und ansonsten muss der Leser viel gedankliche Neurose ertragen, deren Ziel nur eines ist: sich möglichst schnell dahin zu bewegen, wo es zur Sache geht. In diesem letzten Zug nähert sich Nuttings Buch fast schon wieder einer Wahrheit über Sex: dem Wunsch, dass er geschehen möge, weil er etwas ist, auf das man nicht warten kann. Aber selbst das ist am Ende zu wenig.

Ein runder Roman, der sich Mühe gibt, seine Protagonistin und ihren Sex in eine Handlung zu integrieren, was am Ende auf etwas nicht ganz zusammengehörendes hinausläuft …