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Ein Meisterwerk langsam anschwellender Ungeheuerlichkeit


Der Schrei der Eule

Am 19. Januar dieses Jahres hätte die große Erzählerin Patricia Highsmith ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sehr zu meiner Freude hat der Diogenes Verlag anlässlich dieses runden Jubeljahres einige Roman ihrer Stammautorin neu aufgelegt, darunter auch meinen persönlichen Favoriten “Der Schrei der Eule”.

Es ist schwierig, über Lieblingsromane zu reden, zu schreiben. Allzu oft neigt man (zumindest ich) aus Begeisterung dazu, die Vorzüge des Romans zu überzeichen und provoziert damit Widerspruch und Enttäuschungen. Ich werde also versuchen, das Buch und seine Vorzüge etwas sachlicher, als ich eigentlich will, zu beschreiben.

Gleich die erste Szene ist schon ungeheuerlich und eigentümlich beruhigend, ein Sinnbild für die Atmosphäre des ganzen Buches: Ein Mann beobachtet durchs Fenster eine junge Frau bei ihren Abendverrichtungen in der Küche. Schnell ist klar, dass der Mann die Frau nicht kennt, aber nicht die Absicht hat, ihr etwas anzutun. Auch sexuelle Motive hat er nicht, er will sie nicht nackt sehen oder sich ihr in irgendeiner Weise nähern. Ihr unkompliziertes, allem Anschein nach frohes Dasein beruhigt ihn einfach; es geht ihm besser, wenn er ihr zusieht und sich vorstellt, wie glücklich sie ist in ihrem Haus, mit ihrem Freund, mit ihrem Leben.

Robert, der Mann, ist schon öfter bei dem Haus gewesen, seitdem er einmal per Zufall aus der Ferne auf die Frau aufmerksam wurde. Jetzt zieht es ihn regelmäßig hin, auch wenn er sich jedes Mal schwört, dass es das letzte Mal ist. Die Frau und ihr Freund haben schon den Verdacht, dass manchmal jemand ums Haus schleicht, aber bisher ist er immer davongekommen. Dann, eines Abends, entdeckt sie ihn doch, reagiert aber völlig anders, als er erwartet hat …

Manche würden Highsmit Werke als pyschologische Romane, manche vielleicht sogar als Thriller bezeichnen, aber ihre besten Bücher sind vor allem eines: mustergültige Tragödien, nach antikem Vorbild. Ein paar kleine Vorzeichen und dann ein einziger Augenblick, ein Initialmoment, und schon ist etwas ins Rollen geraten, dass die Leser*innen über hunderte von Seiten in Atem hält. Die Schicksalhaftigkeit die den Wendungen und Zuspitzungen des Plots dabei anhaftet, hat gleichsam etwas Absolutes und etwas Ungeheuerliches – eine Kombination, in welcher der Ambivalenz des freien Willens, seiner Getriebenheit und Machtlosigkeit wunderbar Ausdruck verliehen wird.

Highsmith gelingt es immer wieder greifbare und doch nicht bis ins letzte durchschaubare Charaktere zu zeichnen, die einen mit ihren Entscheidungen und Denkmustern in den Wahnsinn treiben und zu denen man doch ein enges Band knüpft, um deren Entscheidungen man bangt und von deren Schicksal man sich schwer distanzieren kann. Tom Ripley ist der bekannteste dieser Charaktere, aber in “Der Schrei der Eule” warten auch mindestens drei von ähnlichem Kaliber.

Dabei ist der Roman eigentlich sehr unscheinbar, in vielen Bereichen, und läuft so langsam an, dass man glauben könnte, es werde zum Schluss vielleicht eine Eskalation geben, einen Turn, einen Kniff und das sei der ganze Plan. Stattdessen nimmt der Roman plötzlich nach einem Viertel des Textes Fahrt auf und auf einmal weiß man gar nicht mehr, wie es dazu kommen konnte, dass die Situation so zugespitzt ist und man fast genauso angespannt auf jede neue Entwicklung wartet, wie die Hauptfiguren.

In “Der Schrei der Eule” kann man einer großen Ungeheuerlichkeit beiwohnen, die mit einer ganz kleinen Ungeheuerlichkeit beginnt. Vielleicht nicht anders beginnen kann. Es beginnt mit einer Unschuld im Gewande eines Verbrechens und endet mit Verbrechen im Gewande der Unschuld. Es geht um die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes und um die fatalen Ideen, die sich der Mensch zurechtlegt, um die Einsamkeit zu überwinden. In jedem Fall: für mich ein Meisterwerk. So, jetzt ist der Überschwang doch durchgebrochen.

 

Zu Brautigans letztem Roman “Ende einer Kindheit”


Ende einer Kindheit

Ich wusste an diesem Nachmittag noch nicht, dass die Erde darauf wartete, in nur ein paar Tagen wieder zum Grab zu werden. Es ist schlimm, dass ich die Kugel nicht mehr in der Luft packen und sie wieder in den Lauf der 22er Flinte zurückstecken konnte, damit sie sich wieder den ganzen Lauf hinunter bis in die Kammer zurückschraubte und sich von selber wieder an der Hülse befestigte, so als wäre sie nie abgefeuert, noch nicht einmal ins Gewehr geschoben worden.

Mit diesem unheilschwangeren Bekenntnis beginnt der letzte abgeschlossene Roman Richard Brautigans. Im Englischen trägt er den Titel „So the wind won’t blow it all away“, eine Wendung, die immer wieder, am Ende von längeren Abschnitten, gleich einer Phrase, wiederholt wird.

„Ende einer Kindheit“ markiert noch einmal eine leichte Veränderung in Brautigans Romanästhetik und es ist reizvoll sich vorzustellen, welche Richtung sein Schreiben eingeschlagen hätte – doch sein Freitod 1984 beschloss dies Werk, eines der schillerndsten unter den Oeuvres des 20. Jahrhunderts.

Das anarchische Element, das in diesem Werk immer präsent gewesen war und zusammen mit einer unaufhaltsamen Poesie und einer leichten Albernheit ein Pendant zu dem schwermütigen Frohsinn, Brautigans Grundstimmung, geboten hatte, löst sich in diesem letzten Buch fast vollständig auf. Eine Art von Liebe und ein noch so banales Streben nach Glück, das Brautigans Protagonisten zumeist für sich zu beanspruchen versuchen, trotz aller Widrigkeiten, hier schrumpft beides auf ein paar fast schon makabre Kleinigkeiten.

Die Sonne hatte sich verändert, sie war nicht mehr langweilig, sondern war jetzt, während sie tiefer sank, interessant geworden, und sie würde bald im Sinken die ersten Türen des Abends öffnen, und der Wind hatte sich gelegt, so dass der Teich ruhig und still dalag wie schlafendes Glas.

Trotzdem ist „Ende der Kindheit“ kein bitteres Buch. Es ist eine melancholische Suche nach der verlorenen Kindheit und eine unverstellte Auseinandersetzung mit dem Tod. Der Ich-Erzähler hat schon als Fünfjähriger von seinem Kinderzimmer aus auf das Bestattungsinstitut gegenüber geblickt und die vielen Beerdigungskolonnen beobachtet, die Trauergäste und die Särge. Auch ansonsten erzählt er im Rückblick vor allem von den Begegnungen aus seiner Kindheit, die aus unterschiedlichen Gründen mit dem Tod endeten. Bis zu dem Tag im Apfelhain, an dem er den Tod noch unmittelbarer erlebt hat.

„Ende der Kindheit“ ist ein trauriges Buch, keine Frage, und jedes kleine Funkeln Witz und Irritation darin erinnert nur von fern an den ausgelassenen, ideensprühenden Autor von „Ein konföderierter General aus Big Sur“ oder der genialen Erzählsammlung „Der Tokio-Montana-Express“. Nachdem er u.a. den Western, den erotischen Roman und die Gothic-Novel, sowie das Detektivheft durch den Kakao gezogen und gleichsam wunderbar adaptiert hatte, zog sich Brautigan in seinem letzten Buch auf eine sehr einfache, autobiographisch wirkende Ebene zurück und versuchte die verstörende Dichte der Kindheit und die verstörende Dichte des Lebens festzuhalten. Ein Schimmer der alten Genialität blieb und floss in solche Betrachtungen ein:

Der Mann hielt eine Flasche Bier in der Hand, die er ganz sachte in einer klaren Linie zum Mund führte, um einen Schluck zu trinken. Rembrandts Linienführung hätte nicht sparsamer und nicht direkter sein können.

Für solche Bilder lernte ich Brautigan zu lieben. Während der Lektüre seines letzten Buches begriff ich aber auch wieder, was mich zusätzlich zu ihm hinzog: seine hoffnungslose, geradezu närrische, aber auch sehr feinfühlige Suche nach Wundern, nach Harmonie und Erfüllung, in allem, in jeder Kleinigkeit, jedem Ereignis, das uns widerfährt, jedem Moment, der uns betrifft, egal ob banaler oder phantastischer Natur. Brautigan versuchte stets den Dingen Euphorie, Schönheit und Bedeutung beizumessen, einzuimpfen, die oftmals eine solche Behandlung gar nicht verdient zu haben schienen.

Doch dieser Eindruck trog und trügt uns weiterhin. Denn die ganze Wirklichkeit ist ein einziges Wunder, das wir nicht auf uns hinunterplätschern oder in uns hinein- und durch uns hindurchziehen lassen – es muss auf uns einstürzen oder flach und unbewegt vor uns liegen, sonst nehmen wir es nicht wahr.

In den Zwischenräumen und an den Scheitelpunkten all unserer Leben wird uns die Frage begegnen: Was hätten wir anderes machen können, was können wir anders machen? Diese Fage wird uns die Gegenwart dehnen, über die wir sonst so leichtfüßig, auf dem Weg in die Zukunft hinwegsteigen. Für Brautigans Protagonist ist ein Weg in die Zukunft versperrt durch die eine Sekunde im Apfelhain, in der er die Kugel nicht mehr in den Lauf drücken konnte, derweil der Abgrund der Vergangenheit überall liegt. Er hätte damals einen Hamburger kaufen können, aber er tat es nicht.

Stattdessen ging ich über die Straße in das Waffengeschäft und kaufte mir eine Schachtel 22er Munition. Der Hamburger hatte verloren. Das Geräusch, das bei der Produktion von faulem Apfelmus entstand, hatte gewonnen.

 

Zu Amélie Nothombs neustem Streich “Töte mich”


Es ist, und dies sei vorweg festgehalten, nahezu immer ein Vergnügen für mich, Amélie Nothomb zu lesen. All diese Novellen und kleinen Romane, die sie über die Jahre herausgebracht hat, reihen sich in meinem Bücherschrank. Für ihre stärksten Werke halte ich noch immer die autobiographischen wie z.B. “Der japanische Verlobte” oder die großartige “Biographie des Hungers” oder das bekannte “Mit Staunen und Zittern”. Sie haben etwas Lebendiges an sich, das mich immer wieder heiter stimmt und es gibt nur wenige Bücher, die das wahrlich vermögen; das meiste, was an Literatur fröhlich und heiter stimmen soll, deprimiert mich eher maßlos.

Was nun die anderen Bücher angeht, die erwähnten Novellen und Romane, so haben sie eins gemeinsam, und das ist ein Zug zum Ungeheuerlichen, in verschiedenen Dimensionen und Varianten. Bei “Töte mich” beginnt diese Ungeheuerlichkeit schon mit dem ersten Satz:

“Wäre ihm prophezeit, dass er einmal zu einer Wahrsagerin gehen würde, Graf Neville hätte es nicht geglaubt.”

Ein gekonnter Start, verheißungsvoll, außerdem mit einem inhärenten Witz garniert und schon der Anfang eines Persönlichkeitsbildes, famos. Die wirkliche Ungeheuerlichkeit kommt aber noch: die Wahrsagerin prophezeit dem Grafen, dass er bei dem alljährlichen Fest auf seinem Schloss einen Gast töten wird. Dabei wollte der Adelige doch nur seine entlaufende 17-jährige Tochter bei ihr abholen, die nachts davongelaufen war und von der Wahrsagerin aufgelesen wurde. Und nun, völlig aus dem Nichts, ruiniert sie sein großes Fest!

“Nicht umsonst war die Garden Party auf Le Pluvier seit so langer Zeit das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis in den belgischen Ardennen. Hier durfte man sich für einen Sonntagnachmittag als Mitglied eines phantastischen Zirkels fühlen, den man zurecht als nobel bezeichnete, hier ergab der erhabene Vers “O Zeiten, o Schlösser!” und das Leben wurde zu einem graziösen Tanz mit geheimnisvollen schönen Damen, deren winzige Füße kaum den Rasen der Gärten berührten.”

Dem Grafen liegt sehr viel an diesem Ereignis, er ist sehr stolz darauf es in der Gastgeberschaft zur Meisterschaft gebracht zu haben. Nach und nach breitet Nothomb seine Erinnerungen und seinen Seelenzustand vor uns aus, seine Vergangenheit, die Familie, die Geschichte der Partys im Garten des Schlosses von Le Pluvier. Es ist schließlich die Tochter des Grafen, die dem Vater mit einem unorthodoxen Vorschlag einen Ausweg weisen will: Töte (doch) mich. Das ist nun die vollendete Ungeheuerlichkeit und das in einer Welt, in der doch alles voller schöner Oberflächen ist …

Es ist eine der ungeschriebenen Regeln der Prosaliteratur, dass es irgendeine Form von Konflikt geben muss, weil ansonsten das Erzählen auf nichts hinauslaufen kann als auf Beschreibungen. Es ist das Bezeichnende bei Nothomb, dass sie rund um den Kern ihrer Bücher oft Landschaften der Harmonie, Eleganz und Schönheit entwirft, nicht selten Prunk und Pracht und eine wahre Freude an kleinen und ausufernden Beschreibungen jeglicher Art hat, und doch die größten Ungeheuerlichkeiten zum Kernkonflikt macht.

Mord in allen Varianten, exzessive psychologische Gewalt, Verderbtheit, Deformationen, ungewollte Übergriffe, das alles hat in ihren Büchern schon mal im Mittelpunkt gestanden. „Wenn schon Krise und Konflikt, dann richtig und mitten aus der heilen Welt heraus“, scheinen ihre Werke zu sagen. Es muss immer um große Fallhöhen gehen, die leichthändig von ihr auf dem Finger balanciert werden und in langen Dialogen auf ihre Ungeheuerlichkeit hin abgeklopft werden (lange Dialoge, in denen die Gesprächspartner*innen um die Hoheit ringen, ein weiteres Steckenpferd von Nothomb). Und fast immer gibt es eine Figur mit Manien und Anwandlungen, mit einer krummen Psyche. Immer wieder: Menschliche Abgründe, anzutreffen in zauberhaften, auf ihre Weise idyllischen Arrangements.

Dieses Spiel mit Schein und Sein, mit Perfektion und Perfidie, mit Oberfläche und Abgrund, ist ein Markenzeichen ihrer Bücher – aber selbstverständlich deshalb noch kein Gütesiegel. Und so gekonnt diese Werke auch daherkommen, so rund und genau, so glatt sind sie auch auf den ersten Blick und es bedarf wohl oft der Lektüre mehrerer Werke, um das Spiel dieser Motive vollends zu begreifen; ihre Bücher können sich daher oft nur in Nuancen und durch ihre sprachliche Wohlgefeiltheit von belangloser oder oberflächlicher Literatur abheben.

Dennoch bin ich ein starker Verfechter dieser Nuancen und sehr dafür, dass man Nothomb als Schriftstellerin mit feinem Witz und eigenem Stil begreifen kann und sie als solche würdigt. “Töte mich” stellt diese Qualitäten wieder unter Beweis: Eine Art morbides Märchen, so salopp und fein zugleich, unwillkürlich wie folgenlos. Und doch ein Buch, das inmitten seines unverfänglichen, fließenden Narratives am Abgrund segelt, Fragen nach Glück, Vertrauen und Konventionen aufwirft, und die Lesenden dabei auch noch bittersüß und spritzig unterhält.

Spurwechsel Nr. 3, besprochen


Das Thema der dritten Ausgabe der Zeitschrift „Spurwechsel“, die sich der jungen (wobei sich „jung“ nicht auf das Alter der Autor*innen bezieht, so heißt es auf der Website) Literatur verschrieben hat, lautet: „Das Tier in mir“.

Als erster Text ist ein Prosastück von Hartwig Abshagen abgedruckt, der auf ficition-writing.de schreibt und dort bei einer Ausschreibung zum Thema der Ausgabe den 1. Platz erlangte. In seiner Geschichte geht es um Krafttiere und innere Schweinehunde. Der Protagonist begibt sich seiner Freundin zuliebe, mit ihr und zehn anderen Teilnehmenden zu einer schamanischen Zusammenkunft im Wald. Nicht nur tierisch geht es dort zu, sondern auch satirisch, nicht unbedingt goutierlich.

An einer von Kalkuttas Eichen
hängt heut noch meiner Mutter Leichen.
Meinen lieben alten Vater
stieß ich in den Ätnakrater.
Im schönen Lande Liechtenstein,
da hackte ich drei Nichten klein.

Und satirisch geht es weiter, wenn Horst Reindl in seinem Gedicht eine Reise um die Welt durch mehrfachen Sippenmord würzt. Was man von dieser Verwandtschaftsreduzierung in Form einer1 Ballade halten soll, ist die eine Sache, Spaß macht das Gedicht durchaus.

Ein klassischer Topos: die vergängliche Schönheit, die nicht vergehen soll, darf. Aufbereitet in der Geschichte eines Physiotherapeuten, der sich eine junge Braut auf den Philippinen gesucht hat und nun in ihrer körperlichen Vollkommenheit schwelgt. Bis dann … nun ja, das sei nicht verraten, aber man kann dem Text von Ortrud Battenberg durchaus ein paar Geschmacklosigkeiten ankreiden. Andererseits: es geht ja nicht darum, die Welt so darzustellen, wie sie sein sollte, sondern so wie sie ist, mit den seltsamen Tieren bevölkert, die wir sind und mit dem Tierischen, das wir in uns haben. Oder so ähnlich, in jedem Fall: der Text wirkt etwas zu selbstverständlich.

Ulli B. Laimers Werwolfblues ist eigentlich kein Blues, vielmehr eine tragische Notenfolge, die versucht spitz zu sein, aber eher flach ist; ein Heulen Richtung Mondsüchtigkeit. Danach kann man sich auch nicht besser in einen Werwolf hineinversetzen. Ich muss wohl wieder zu Christian Morgenstern greifen.

Am oberen Rand der Seite sind immer die jeweiligen Textkategorien angegeben, meistens steht dort „Prosa“ oder „Lyrik“ aber es gibt auch andere Rubriken, zum Beispiel den „Warentest“, wo ein Buch rezensiert wird. Die erste Rezension des Bandes gilt dem Autoren-Handbuch von Sylvia Englert, über das die Rezensentin Beate Loddenkötter u.a. schreibt:

Selten habe ich ein Sachbuch mit so viel Freude und Interesse gelesen. Und selten so schnell.

Ein Biedermeiersofa als Verkuppler – das glauben sie nicht? Probieren sie es vielleicht mal mit etwas mehr Gemütlichkeit. Oder mit Olga Baumfels Erzählung. Da tobt der Mensch und steppt das Sofa, bevor es dann zum glühend-glucksenden Happy End kommt. Die beiden kriegen sich! (also: nicht das Sofa und der Wüterich). Etwas abgewetzt, das Ganze.

Ich warte auf dich, denn du bist für mich all mein Glück, so heißt es in einem alten Schlager. Auch die Protagonistin von Dörte Müllers Text wartet; heute regnet es auch noch und bei so einem Sauwetter muss man herumstehen und warten. Auf was eigentlich? Auf eine etwas dürfte Pointe, wie der Lesende findet.

Ein Vergewaltiger, der tagsüber als Maler arbeitet und sich bei seinen Arbeitsplätzen seine Opfer sucht. Ein Tier, voller Gelüste, aber berechnend, vorsichtig, sorgfältig planend, von Kerstin Brichzin ohne Pardon gezeichnet. Und dann tritt diese rothaarige Schönheit auf. Erst wird ihr grapschender Kollege überfahren, dann die Tat selbst geplant. Aber, Moment, was sagt sie da, als sie dann bei ihm im Auto sitzt!! Sie ist eigentlich ein … oh, da ist der Vergewaltiger durchaus verblüfft und bestürzt – und ich als Lesender auch, allerdings aus anderen Gründen. Ich will mich ja nicht als Moralapostel hervortun, aber all das nur für diese eine Pointe?! Das find ich schon irgendwie daneben.

Es folgt ein Gespräch mit der Comiczeichnerin Dagmar Gosejacob. Die hat einen spannenden Lebenslauf mit verschiedenen Karrierewendungen hinter sich, Chapeau! Ich bin kein Riesenfan von Kurzcomics (außer Garfield!), aber wer mag, der schaue mal auf pinkmuetzchen.de vorbei.

In dem sympathischen Text von Olaf Lahayne braucht man eine Weile, bis man begreift, dass sich dort nicht die Tiere, sondern die Käfige des Tierparks unterhalten. Eine schöne Gaudi, nicht ohne manchen cleveren Witz, ein bisschen zu verulkt hier und da, aber im Großen und Ganzen fabelhaft und mal was anderes in diesem Wust an Mörder- und Monstergeschichten.

Klaus Gottheiner greift das Thema des Heftes allegorisch auf und schreibt über das letzte Zimmer, das im eigenen Innern noch ungeöffnet ist und in dem vielleicht eine tierähnliche Gestalt umhergeht. Ein bisschen Gänsehaut kommt auf.

Deshalb liebe ich dieses postmaterialistische Zeitalter. Es geht nicht mehr um so profane Dinge wie Macht, Geld, Maschinen. Dienstleistungen sind jetzt das Wichtigste.

Was kann ein Vollmondmonster fürs Big Business tun? Eine ganze Menge, Mörder werden doch immer gesucht! Und wenn Grauen eine Rolle spielen soll … Peter Schwendeles Schilderung ist dramaturgisch optimiert und hat durchaus Biss.

Eine weitere Kategorie in den Spurwechsel-Heften ist die Blitzaktion, ein kurzfristig angefragter Kurztext zu bestimmten Themen, in diesem Heft „Gier“, „Schlaf ohne a“ und „Wildwuchs“.
Der Text zu Gier, ein knapper Dialog von Helga Strehl, ist nicht so berauschend, vor allem weil er sich früh auf eine Pointe einschießt. Der Text zum Schlaf von Ruth Gaidas kommt nicht ohne einen Alkoholismus-Witz aus. Der letzte Text von Albrecht Bothner warnt mit erhobenem, realem Finger vor den Gefahren des übermäßigen Internetkonsums, wirkt darin etwas steif.

Die Tiere in uns und den anderen, welches kommt welchem zuvor? Bis dass der Tod uns scheidet, heißt es. Bei Astra-Birgitta Heesen ist die Ehe allerdings zur Unerträglichkeit geworden. Also: ein Bootsausflug, der all die Pein verfliegen lassen soll und wird, sobald die Partnerin im Wasser dümpelt. Doch manche Demütigung reicht bis in den Tod hinein …

Monika Kühns wunderbarer Streifzug durch die Märchenwelt anhand eines magischen Museums hat mir sehr gefallen, vielleicht weil ich selber märchenaffin bin. Es ist auch deswegen ein guter Text, weil man seiner Belustigung freien Lauf lassen kann.

Dr. Silke Vogts Text über die innere Schweinehundeschule basiert auf einer netten Idee, die knappe Ausführung ist dann irgendwie vorhersehbar. Die Pointe am Ende ist allerdings ganz cool!

Amokphantasien, ausgelebt im Kopf, um die innere Bestie zu befriedigen. Der Text von Lena Obscuritas hat etwas Kompromissloses, dass schon wieder bewundernswert wäre, wenn nicht hier und da ein paar zu glatte Formulierungen und ein paar allzu inszenierte Szenen vorkommen würden. Dennoch: der Text filtert aus dem nebulösen Thema eine heftige Geschichte und begibt sich in die Welten von pubertärer Depression und Verzweiflung und auch die Problematik der Ego-Shooter-und-Action-Heldenfilm-Gesellschaft lauert darin. Aber letztlich ist das schon ziemlich Splatter und wenig anderes.

Hoffnungen, die sich einstellen, wenn eine Frau bei einem Mann Hilfe mit ihrem Exfreund erfragt. Alte Geschichte, bei Dirk Alt spielt sie an Weihnachten. Eine Story, die vor allem eines klar macht: sieh immer hinter die Fassade.

Im zweiten Warenstest geht es um Karin Peschkas „FanniPold“, die Geschichte einer Frau, die behauptet, sie habe Krebs, und in der Folge ihrem eintönigen Leben entfliehen kann. Margit Heumann beginnt die Besprechung mit dem Satz:

Eigentlich lese ich nicht gern Romane über frustrierte Frauen. Ehrlich gesagt, nervt es mich, wenn sie ihren Alltag als banal oder unbefriedigend oder langweilig bezeichnen und trotzdem jeden Tag aufs Neue ihre sogenannte Pflicht erfüllen. Von einer solchen Frau handelt dieses Buch.

Und bei Dagmar Möhring haben wir einen weiteren heimlichen Mörder, diesmal einen, der sich von der Frauenwelt verlacht und gedemütigt fühlt. Dass auch dieser Text auf eine nette Pointe hinausläuft, hätte ich wohl ahnen müssen …

Stefan Müsers ekstatische, feucht-fröhliche Odyssee, die seine Charaktere Felizian und Melody in die großen Städte der Welt und die Freuden verschiedenster sexueller Akte führt, hat einen gewissen rauschenden Reiz und eine ebensolch rauschende Albernheit. Von allen Texten in diesem Heft ist es sicher der phantasievollste, der sprachlich erquicklichste.

Den Schlusspunkt setzt ein sehr unappetitliches Gedicht von Gerhard Dick, worin einer seine Körperteile zum Verzehr feilbietet. Nicht wirklich ein Spaß.

Fazit: Viele Geschichten in dieser Spurwechsel Ausgabe laufen auf mehr oder weniger vorauszuahnende Pointen hinaus, was ich irgendwann ein bisschen leid war. Anscheinend wird das Thema „Tier in mir“ vor allem mit den düsteren Seiten der menschlichen Seele zusammengebracht, es gibt aber auch einige phantasievolle Ausnahmen. Auffällig ist, dass die Redaktion wohl eher den reißerischen Erzählungen und Szenen gewogen ist.

Ich bin nicht wirklich warm geworden mit der Zeitschrift, allerdings bot sie mir eine Abwechslung in Sachen literarischer Erfahrung und literarischer Auseinandersetzung. Wer sich für heftigere, solide geplottete Geschichte interessiert, könnte an diesem Heft seine Freude haben. Wobei ich behaupte, dass man solche Geschichten auch in einschlägigen Kurzgeschichtenforen und auf Websites von Hobby-Autoren lesen kann. Diese Einschätzung will ich nicht als eine generelle qualitative Bewertung verstanden wissen.

Zu Ferdinand von Schirachs “Der Fall Collini”


Direkt vorweg: Ich gehöre zu den Bewunderern von Schirachs Kurzgeschichten und habe mich sehr gefreut, als ich es jetzt endlich geschafft habe, einen Roman von ihm zu lesen. Meine Erwartung: ein einfaches, aber schnörkelloses Werk, mit nicht viel Aufhebens, aber einem schönen doppelten Boden, einem Fingerzeig vielleicht, aber vor allem freute ich mich auf die Eindrücklichkeit, wie ich sie von Schirach bisher gewöhnt war.

Diese Erwartungen wurden nur teilweise erfüllt. Das liegt zum einen daran, dass das Buch, der “Roman” (es ist kein Roman – eine Novelle, allerhöchstens), sich nicht entscheiden kann zwischen einem neutralen Erzählton und einer sehr stark emotional eingefärbten Geschichte. Muss er ja auch nicht, könnte man denken, und ja: aus so einer Diskrepanz kann Spannung, kann Stil entstehen, aber es ist beileibe kein Patentrezept, keine einfache Gleichung, vor allem nicht für eine längere, nicht dicht-verwobene, sondern weitläufigere Erzählform, die über eine Kurzgeschichte hinausgeht. So wirkt das Buch mit der Zeit sehr um seinen Ton bemüht; es wird ihm eng in seinem Stil, aber es formt trotzdem alles damit aus, was dann manches etwas unförmig wirken lässt, konsequent zwar und teilweise folgerichtig, aber stellenweise mehr wie eine Musterschreiben, fern jeder Erzählhaltung.

Zum anderen ist da der Aspekt des Inhalts und hier betrete ich endgültig das Land meiner eigenen Ansichten, die ich nicht mehr objektiv nennen kann, trotzdem aber für wichtig halte, wenn es um dieses Buch geht. Es stört mich wenig, das Schirach sich dem Thema des 2. Weltkriegs zugewandt und noch weniger, dass er es an einem Rechtsfall aufgehängt hat; ebenso finde ich die Verknüpfung mit der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik interessant.

Aber was mich wirklich aufregt ist sein geringes Bemühen um eine Annäherung an irgendeinen seiner Protagonisten. Da kann ihn auch der Verweis auf seinen Stil, seine Art zu schreiben nicht retten oder der Verweis auf Leute wie Carver oder Hemingway, Eisberg und so weiter. Gerade Carver, um ein Beispiel zu nennen, schrieb zwar auch karg und knapp, aber trotzdem drehte sich bei ihm alles um seine Protagonisten.

Bei Schirach geht es gar nicht um die Protagonisten. Sie sind Zweck für seine, sehr beeindruckende und schön aufgemachte, Lehrstunde in Sachen Recht und Unrecht. So blass wie die Figuren auftreten, treten sie auch wieder ab, angereichert mit Halbklischees, die so nah und knapp neben das Klischee gesetzt wurden, dass sie noch mehr den Eindruck des Pflichtschuldigen hinterlassen. Ich will diesem Buch wirklich nicht Unrecht tun, aber wie ich es auch lese, drehe und wende: hinter den Figuren steckt nicht annähernd so viel, wie hinter dem, was sie vor Gericht und in ihren Leben verhandeln. Die Profanisierung, die bei Schirachs Kurzgeschichten das Echte betonen und das Namenlose sich auftun ließ, schiebt sich hier als szenisches Ordnen vor alles, kaum zu durchdringen.

Von all diesen Anmerkungen unbeeindruckt, bleibt “Der Fall Collini” ein nicht uninteressantes Buch, eine spannende Lektion in Rechtsalltag und -geschichte allemal. Man sollte meiner Ansicht nach nicht zu viel erwarten. Der Kniff der Story ist gut, der Rest ist zu leicht ineinander zu stülpen, lässt sich allzu schnell weglesen.

Je suis Charlie


09.01.2015

Blut klebt an unseren Händen, in unseren Haaren, streicht dünn
Ränder um unseren Mund. Wie tauchten in, wir umkreisten uns
für so wenig Blut, ein paar Herzspritzer, in der Ferne schmerzt
eine Wunde ohne uns; noch zu wenig Kraft
uns mit zu zerfetzen
hat der freilaufende Tod.

Wir haben einen freilaufenden Tod.

Gestern war er in Paris,
aber ich war nicht dort.
Ist das jetzt die Scham des Überlebenden, die Trauer
oder die Wut?

Wird man sich in ein paar Jahren noch an diesen Tag erinnern
oder wird es dieser Tragödie gehen wie den Tragödien
der alten Griechen, den Opfern vergessener
Völkermorde, den vergewaltigen Frauen, die sich nicht wehren konnten, können,
was schon immer der wichtigste Grund dafür war, übrigens,
jemand anderem NICHTS anzutun;

(ohnehin, wenn wir weiter von
„der Menschheit“ sprechen wollen.)

Jeder geht mit dem Schicksal, das die Welt gerad bewegt,
anders um.
Wir können nicht alle trauern,
mit einer Faust in der Brust
und einem Boxsack in den Augen.
Wir sind nicht alle voller Leid, wenn auch unser Vertrauen
von Neuem in die Zerstörung fiel und wir
es eine Weile nicht mehr finden werden.

Doch was da Trauer in uns ist, das will uns sehen lassen,
wo wir sonst blind sind: Justitia in uns
hört auf die Waagschalen zu halten und fast sich
mit der uralten Geste jedes Menschen auf der Erde
an den Kopf und bedeckt danach die Augen.
Wut zittert wie Espenlaub, das auf dem kalten See treibt, im Wind.
Die Frequenz der Liebe wandert schuldig durch die Brust,
umher.
Wir sahen schon so vieles, aber dies sehen wir nun.

Ohnmacht und gleich im Anschluss unverheilte
Versuche von Rührung und Solidarität
umgeben uns, durchdringen die Anmut, die wir sein woll‘n,
die uns aber unmöglich halten kann
in dieser Flut, die man das Leben nennt
und auch die Freiheit der anderen. Die Freiheit, mit der
niemand mithalten kann,
nicht du, nicht das Gesetz, keine Kapazität.

Die Verbindung zwischen dem Punkt im Kopf, mit dem wir leben
und dem Gefühl allein zu sein.
Wir füllen diese Verbindung mit Glauben, mit Zynismus,
mit Lethargie und Illusionen,
mit jedem Hang, den wir noch spüren können,
dann und wann mit Liebe, Hoffnung,
ein Leben lang geht es
nur so.

Jetzt im Moment spür ich nur die Verbundenheit,
wenn ich „Je suis Charlie“ lese;
die Tränen, mit denen ich kämpfe, das sind
Tränen die ich vergießen will,
weil ich weiß, dass jeder Leben möchte
und die ich nicht vergießen kann, weil ich nicht weiß
und nicht verstehe,
warum irgendjemand töten will.

(Achtung: dieses Gedicht will keine umfangreiche, allgemeine Bewertung der Ereignisse sein; das oft gewählte “wir” soll keine besitzergreifende Tendenz oder Deutungshoheit implizieren; dieses Gedicht ist eine Auseinandersetzung und will auf gar keinen Fall ein tragisches Ereignis selbstbezogen stilisieren; dennoch kann es hier und da so wirken, als würde einer dieser drei möglichen Vorwürfe zutreffen. Wichtig ist mir, dass man diesen Text als ein Gedicht und keine Wortmeldung im eigentlichen Sinne begreift. Nichts darin verlangt nach Zustimmung, auch wenn, wie bei jedem Gedicht, der Versuch gemacht wird, diese Zustimmung, die Berührung mit dem Leser, möglich zu machen; sie ist erhofft und erwünscht, aber wird nicht verlangt, denn ein Gedicht kann und darf nichts verlangen.)