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Zu Florian Freistetters “Eine Geschichte des Universums in 100 Sternen”


100 Sterne “Am Anfang wurde das Universum erschaffen – das machte viele Leute sehr wütend und wurde allgemein als Schritt in die falsche Richtung angesehen“, heißt es in Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“. Aber jetzt ist es nun mal da und wir mittendrin. Und auch wenn Douglas Adams opus magnum durchaus noch einige Vorschläge bereithalten würde, wie wir mit diesem Universum umgehen können und sollen, werde ich mich jetzt doch lieber dem Buch von Florian Freistetter zuwenden, das uns in Sachen Universum vor allem zweierlei vermittelt: Staunen und Dimensionen.

Auf der Erde und unter Menschen ist die Idee des Daseins unauflösbar verknüpft mit dem Begriff des Himmels (sowohl in seiner profanen, als auch in allen metaphysischen Bedeutungen), unter dem (noch) alle Menschen ihr Leben beginnen, zum großen Teil führen und (soweit mir bekannt) bisher auch immer beendet haben. Er begrenzt unsere „Welt“ – alles jenseits des Himmels (seit wir wissen, dass es ein jenseits davon gibt) ist das Universum (wobei auch wir eben eigentlich im Universum leben). Dieses Universum haben wir schon immer wahrgenommen, lange Zeit allerdings weniger im Detail, sondern vor allem als Sternenhimmel.

Es liegt also nah, Geschichten über das Universum (und unsere Beziehung zu diesem) am Beispiel von 100 Sternen zu erzählen – nicht nur, weil sie die Himmelskörper sind, die diese Beziehung schon am längsten prägen und begleiten, von frühen Mythen bis zur Quantenphysik, nein, man kann sie durchaus auch als Dreh- und Angelpunkt des Universums, wie wir es bisher sehen und verstehen, bezeichnen. Was meint: in Geschichten und Entdeckungen, die mit Sternen zusammenhängen, kann man auch die meisten anderen Phänomene schildern, die das Universum ausmachen. Und genau das tut Freistetter.

Und er tut es mit einem großen Gespür für Anschaulichkeit und beweist, das will ich unbedingt positiv hervorheben, trotz seines Fokus auf physikalische und astronomische Themen immer wieder ein sehr sensibles Bewusstsein für das Einbringen von kulturellen Kontexten und aktuellen wie historischen Bezügen (darunter auch Ungerechtigkeiten und Fragwürdigkeiten), mal explizit, mal inhärent, wodurch das ganze Buch zu einer sehr angenehmen und auch erfreulich diversen Lektüre wird; dazu gesellt sich noch ein feiner, lockerer, unaufdringlicher Humor, der allerdings nie ins Kraut schießt, stets nur den Stil abrundet. Allerhöchstens die Kapitelenden sind mitunter etwas zu betont versöhnlich, lieblich.

Die 100-Sterne-Geschichten haben zwar nicht alle dieselbe faszinierende Wirkung, alles in allem liefert das Buch aber durchweg spannende und interessante Einblicke in unseren Kosmos und in die Verfahren der Astronomie. Viele Themen wiederholen sich (was dem geschuldet ist, dass Freistetter die Kapitel möglichst autonom gestalten wollte), aber das stört eigentlich nicht, sondern bringt im Gegenteil einen Lerneffekt mit sich – mit jeder Geschichte findet man sich also schon ein bisschen besser in der Materie zurecht.

Die Themenkomplexe in Freistetters Sternengeschichten reichen von theoretischen Überlegungen bis zu praktischen Entdeckungen, von dunkler Materie bis zu schwarzen Löchern, von Methodenbeschreibungen bis zum Erzählen von mythischen Geschichten. Im Zentrum steht immer die Beschaffenheit des jeweiligen Sterns und warum er in einem oder mehreren Kontexten spannend für die Wissenschaft und/oder bedeutend für die Historie ist/war. Manche Sternen tragen Namen, viele nur Katalogbezeichnungen, einige sind bekannte Himmelslichter, einige sind selbst von der Wissenschaft nur auf Umwegen verzeichnet worden.

Man lernt eine Menge über den Kosmos und die Menschen und Instituten und Maschinen, die ihn untersuchen und erforschen, und mir kam es nie mühsam vor, dieses Wissen zu begreifen oder zumindest aufzunehmen. „Eine Geschichte des Universums in 100 Sternen“ gehört zu jenen wunderbaren Büchern, die irgendwo zwischen Populärwissenschaft und Fachlektüre stehen, und einen zwar in fremde Welten entführen, aber dabei auch eine Vorstellung von realen Gegebenheiten und jede Menge Informationen vermitteln. Auch sehr schön: hinten im Buch befindet sich ein ganzes Verzeichnis mit weiteren Büchern, also Möglichkeiten, die Lektüre zu vertiefen! Fazit: ein tolles, tolles Buch!

Zu Eduardo Galeanos Vermächtnis: “Geschichtenjäger”. Großartig!


Geschichtenjäger „Die Erde segelt dahin.
Sie trägt mehr Schiffbrüchige als Passagiere.“

Eduardo Galeano war einer der umtriebigsten linken Autoren des 20. Jahrhunderts. Fußballfan und Feminist, anprangernder Journalist und Geschichtenerzähler, Mythensammler, Aktivist und Herausgeber – die Breite seiner Interessen, die Größe seines Augenmerks und seines Bewusstseins für Ungerechtigkeiten, Verschüttetes und Tröstendes war enorm.

Diesem besonderen Gespür bot sich in Südamerika und seinem Heimatland Uruguay genügend Stoff dar. In einem seiner bekanntesten Bücher, „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (das in vielen der südamerikanischen Militärdiktaturen verboten war), zeichnete Galeano minutiös und akribisch die einstigen und derzeitigen Ausbeutungen und Zerstörungen des Kontinents und seiner indigenen und derzeitigen Bevölkerung nach. Auch in vielen seiner anderen Bücher war ihm vor allem daran gelegen, den Reichtum und die Grausamkeit des Daseins nebeneinander zu stellen und auch aus der kleinsten Perspektive heraus sichtbar zu machen.

Eduard Galeano, Ausländer (Lutz Kliche)

„Geschichtenjäger“ ist das letzte von Galeano noch abgeschlossene Buch (in der deutschen Ausgabe befinden sich aber auch noch einige Stücke aus seinem vor dem Tod begonnenen Buch „Kritzeleien“). Es ist, dies will ich direkt sagen, eines der schönsten, mannigfaltigsten, reichsten, aufrechtesten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe. Es ist ein Schatz, ein Buch für alle Zeiten und Tage.

Wie soll man die zumeist nur eine Seite langen Kurzprosastücke dieses Büchleins beschreiben? Begebenheiten? Erinnerungen aus der Unzahl der Leben und Tode? Spuren der Ungerechtigkeit und der Schönheit? Verbrechen und Wunder? Phänomene? Nadelstiche, stechend und gleichsam ein großes Panorama nähend? Anekdoten und Fabeln? Zerschlagenes und Utopisches? Berichte von Courage und Ignoranz?

Eduard Galeano, Yucatan (Lutz Kliche)

Das alles deckt einen Teil der Texte ab und vernachlässigt manch anderes, eigensinniges oder plötzlich aus einer ganz anderen Richtung herbeiwanderndes Kleinod. Über Galeanos Buch kann man sagen, was man über die Erzählbände Julio Cortázars oft sagt: es sind keine Bücher, es sind Welten.

Bei Galeano bestehen diese Welten zu gleichen Teilen aus scheinender Transzendenz und harter Realität. Die Adjektive sind wichtig. Denn auf der einen Seite breitet er Mythenkosmen und Sagenstoffe aus, spielt sie an wie Melodien und es scheint daraus ein Glaube an den ewigen Kreislauf von Überwindung und Fehlschlag hervor, an die Kraft der Ideen und gleichzeitig Zerrissenheit der Existenz.

Eduard Galeano, Sonne und Mond (Lutz Kliche)

Auf der anderen Seite legt er ohne Ende die Verfehlungen, die ganze Ignoranz der menschlichen (und vor allem männlich dominierten) Gesellschaften bloß: Prüderie und Körperfeindlichkeit, Bigotterie und mangelnde Vorstellungskraft, Rassismus und Unterdrückung, Misogynie und Vorurteil – seine Geschichten aus der Realität handeln von all diesen Verbrechen und wie Menschen und Völker ihnen erliegen, sie verfechten und wie einzelne und viele sich ihnen entgegenstellen.

Eduard Galeano, Kleine Gaucho Gil (Lutz Kliche)

Ca. 250 dieser anekdotischen Fundstücke, erjagten und erinnerten Geschichten sind hier versammelt. Sie machen Mut, berühren, erschüttern, faszinieren und stimmen nachdenklich. Galeano liefert ein Panorama der Niedertracht und erzählt dazwischen von den Momenten des unbeirrbaren Widerstands, Fortschritts und von kleinen leuchtenden Beispielen, die sich wie Wunder aus dem Getümmel der sonstigen harten Fakten emporheben, die über den Globus wuseln, zusammenstoßen und sich vermehren, sodass man gar nicht glauben mag, dass ihnen jemand entgehen kann.

Hier und dort kann man dieser Härte entgehen, wenn man sich dem Ewigen zuwendet oder gegen den Sog der Härte ankämpft, für und für andere einen kleinen Flecken erstreitet, auf dem Ideen des Guten und des Wandels gedeihen können. Galeano erzählt von diesen Versuchen, vom Scheitern, vom Untergang und schafft es, dass man als Lesende/r, in diesen Darstellungen nicht bloß Ereignisse sieht, sondern Lektionen fürs Leben, Flammen, die bewahrt werden sollten, weil noch viel in ihrem Schein bewerkstelligt werden kann.

Ich kann wirklich nur jedem empfehlen, sich dieses Buch zuzulegen. Es ist ein Schatz fürs Leben. Ein Vermächtnis, ein glühendes, funkenschlagendes, strahlendes. Danke Eduardo Galeano. Für so vieles.

Eduard Galeano, Neugier (Lutz Kliche)

Und dank auch an den Peter Hammer Verlag, dafür, dass er seit vielen Jahren die Werke von wichtigen südamerikanischen Autor*innen wie Eduardo Galeano oder auch Ernesto Cardenal herausgibt.

Zu dem komisch-kosmisch-lehrreichen Werk “Warum landen Asteroiden immer in Kratern?”


Warum landen Asteroiden Wie soll man aus dem Universum noch schlau werden! Es ist nicht nur mega-unübersichtlich (im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man gerade kein Hubble-Teleskop zur Hand, bzw. zum Auge hat), diese Unübersichtlichkeit wird durch Betrachtungsweisen, Gerüchte, Mythen, Fakes, Widerrufe, Missverständnisse, Definitionen etc. dermaßen gemehrt, dass es an ein Wunder grenzt (wenn man denn an Wunder glaubt – und wie groß sind eigentlich Wunder? Kann etwas an sie grenzen?) wenn man als Laie überhaupt noch etwas Gesichertes darüber verlautbaren kann, wenn es um komplexere Zusammenhänge als Schwerkraft, den Urknall und Katzen, denen man ein Marmeladenbrot auf den Rücken bindet, geht.

Die österreichischen Science-Busters Puntigam, Freistetter und Jungwirth hat sich dazu entschieden, dem ganzen Chaos auch noch Humor beizumengen, wohl in der Hoffnung, dass er eine klärende, katalysatorhafte Wirkung hat. Eine berechtigte Hoffnung! Zwar entfernt sich das Team ein ums andere Mal von ihren skurril auftrumpfenden Kapitelüberschriften, um doch etwas bodenständigere Wissenschaft zu betreiben, aber diese Lehrstunden sind nicht nur in sich oft verblüffend, sondern mit vielen Unterhaltungseinlagen garniert, vom Slapstick bis zum subtil-philosophischen Haken, den manche Aussage dann doch, sprachlich oder sachlich, an sich hat. Wenn es beispielsweise um die Frage: “Wie lang ist ein Meter geht”, heißt es einleitend:

“Wenn sie einmal in Ihren Spamordner schauen, werden Sie feststellen, dass es vielen Menschen nicht egal ist, wie lang etwas ist.”

Und egal ob es um Mythen über Mücken (Pardon: Gelsen!) und Licht geht, darum wie der Mars sich vielleicht noch ein bisschen gemütlicher machen lässt, wenn man ihn nur ein bisschen mit Asteroiden umschmeichelt, oder um das, was Viren so beim Wirt besprechen: man wird prächtig informiert und unterhalten, auch über neuste wissenschaftliche Errungenschaften und Erkenntnisse. Auch die Ehre des Weizenklebstoffes wird ein bisschen wieder hergestellt, damit am Ende gesagt werden kann: es hat sich doch noch alles zum Gluten gewendet!

P.S.: Es muss doch nicht immer auf die alternative Medizin eingedroschen werden, oder? Wie sagte der Barde: Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden als die Schulbuchweisheit (und sei sie auch witzig) sich träumen lässt.

Zu Daniel Kehlmanns “Tyll”


Tyll Romane können unseren Horizont sprengen und im besten Fall setzen sie ihn dann auch wieder neu zusammen, bis wir gebannt sind von der “anderen” Wirklichkeit. Die letzten beiden Romane von Daniel Kehlmann, “Ruhm” und “F”, schienen sich bedenklich weit ins Postmoderne und in die Eigenreflexion zu neigen und sich gleichzeitig mit Zeitgeist schmücken zu wollen. In “Tyll” hat er meiner Meinung nach wieder zu dem Modus zurückgefunden, der seine stärksten Romane (für mich “Beerholms Vorstellung”, “Mahlers Zeit” und “Die Vermessung der Welt”) auszeichnet: die nahtlose Verknüpfung von Wirklichkeit und Phantastik, in deren Grauzone die ganze Palette von menschlichem Fehl und Fatum anzutreffen ist.

“Tyll” ist ein Eulenspiegelroman, ein Schelmenstück, formal wie inhaltlich, aber zugleich ist das Buch auch ein Zeitdokument. Und doch wieder nicht. Das lässt sich schwer verifizieren und auseinander differenzieren. Zu gekonnt spielt Kehlmann mit Sein und Schein, mit Fakten und Phantasmen, mit brutaler Realität und irrealem doppeltem Boden.

Den Rahmen für das Buch bildet im Wesentlichen die Zeit des dreißigjährigen Krieges von 1618-1648, allgemein eine Zeit der Unruhen und Umwälzungen, des Übergangs, auch vom Spätmittelalter in die Moderne (großartig beleuchtet wird diese Umbruchszeit in Philipp Bloms [[ASIN:3446254587 Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700]]).

Protagonist ist nicht nur Tyll, wichtige Figur ist auch Friedrich der V., Winterkönig von Böhmen und eine der unglücklichsten Gestalten der deutschen Geschichte, und seine Frau Elisabeth aus dem englisch-schottischen Hause Stuart, sowie Athanasius Kircher, eine schillernde Gelehrtenexistenz. Kehlmann schlüpft im Verlauf des Buches nicht nur in ihre Haut, sondern auch in die einiger Nebencharaktere, die den Krieg und die Zeit auf ihre Art erleben, wahrnehmen. “In die Haut” ist hier nicht nur eine rhetorische Floskel: Kehlmann entfaltet hier wieder einmal eines seiner bestechenden Talente, nämlich die authentische Intonierung der Geisteswelten, in denen sich seine Charaktere bewegen, in all ihrer Profanität und Eigenständigkeit. Ich habe schon oft gehört, dass diese Art des inneren Monologs, der detaillierten Sezierung, Leuten auf die Nerven geht, was ich wirklich nicht verstehen kann. Ich bin immer wieder fasziniert wie kompromisslos Kehlmann seine Figuren nicht nur typisiert, sondern ganz tief in ihren jeweiligen Horizonten verankert, ja, einkerkert, auch in Relation mit den Gegebenheiten, die sie umgeben, in denen sie leben müssen. Er unterwirft sie quasi vollends den Realien.

Und doch wieder nicht. Denn da ist natürlich immer mehr zwischen Himmel und Erde, als die Geschichtsbuchweisheit aufzeichnen kann; hinter der Geschichte liegen die Geschichten von unzähligen Individuen und durch sie lebt die Geschichte, aber an ihnen bricht sie auch auseinander. Das “mehr” ist nicht nur die artistische und teilweise magische Kunst des Tyll Eulenspiegel, sondern die allgemeine Unschärfe der Wirklichkeit, die Kehlmann immer wieder herausstreicht, dann wieder zerstreut, die aber nie ganz verschwindet. In dieser Unschärfe tritt nicht nur der Aberglaube, das Mystische und Mythische zutage, sondern auch die Ungeheuerlichkeit des menschlichen Geistes, der menschlichen Vorstellung: Was kann der Verstand ertragen, was kann er erdenken, wie sind Erinnerungen gebaut und erzählen wir uns nicht selbst immer Geschichten, wenn wir erinnern, gibt es Erinnerung denn überhaupt, gibt es nicht nur Narrative, die wir erdenken und über unser Leben legen? Und ist nicht Geschichte oder sogar Wirklichkeit ein Narrativ, das, ebenso erfunden, nur im größeren Stil, unser aller Erinnerung und Wahrnehmung bestimmt?

Diese Fragen tun sich auf, mitten in einem scheinbar historisch akkuraten Szenario, das auf der Mikro- und Makroebene ausgelotet wird. Und in all dem offenbart sich das Übergreifende, Unfassbare und entzieht sich gleichsam. Die Kunst der Fiktion: ein Spiel mit Möglichkeiten, die so schmerzlich nah an der Gewissheit, am Ausweg, an der Sehnsuchtserfüllung und -verdrängung liegen, dass daraus ein tiefer Spiegel wird, so tief, dass man das, was gespiegelt wird, fast nicht mehr erkennen kann.

Es gibt allerhand Gründe, Tyll zu lesen. Es ist, alle Metaphysik und Meta-Textualität beiseite lassend, auch ein recht unterhaltsames Buch, finde ich. Man muss an Kehlmanns profan-phantastischer Art der Darstellung und seiner schnörkelosen Erzählhaltung gefallen finden, sonst wird einem das Ganze ungenießbar und wenig reizvoll erscheinen. Ich plädiere aber dafür, sich genau auf dieses Ungenießbare einzulassen: denn obwohl sein Schreiben Fiktion durch und durch ist und sich nur in den entscheidenden Momenten vollkommen ernst nimmt (was dann umso deutlicher wird) – Kehlmann gelangt darin zu einer Erscheinung der Wirklichkeit, die die Profanität unseres Daseins eben nicht nur darstellt, sondern verkörpert. Das ist mitunter unbequem und unschön. Aber der Mantel der Seriosität, den die Menschen um die Historie, die Wissenschaft, die Vernunft, das Ideal, die Kunst und den guten Willen geworfen haben, er erweist sich oft als Verschleierung der darin liegenden Unseriosität. Das stellt Kehlmann immer wieder, augenzwinkernd, aber auch bezwingend, dar. Für mich: große Erzählkunst.

Zu Ali Smiths Erzählung “Girl meets Boy”


“Ich hatte – bevor es uns gab – noch nicht gewusst, das ich mit jeder Faser meines Leibes Licht mit mir führen konnte, so wie ein Fluss, den man von einem Zug aus sieht, ein Fluss, der einen Streifen Himmel in die Landschaft schneidet. Bisher hatte ich nicht gewusst, dass ich so viel mehr sein konnte als nur ich. Hatte nicht gewusst, dass ein anderer Körper dies bei meinem auslösen kann.”

Iphis, die Tochter des Ligdus, eine der schönsten Gestalten aus dem Metamorphosen-Zyklus des Ovid: Geboren als Frau, sollte sie eigentlich nach der Geburt getötet werden. Um sie zu retten, zieht ihre Mutter sie als Junge auf. Dann verliebt sie/er sich in eine Frau …

Doch da die Geschichte in einem Kapitel von Ali Smiths Buch eh noch einmal nacherzählt wird, lasse ich offen wie es weitergeht. “Girl meets boy” geht sowieso einen etwas anderen Weg: Es ist die Geschichte zweier Schwestern, die zu Anfang unterschiedlicher nicht sein könnten.
Anthea, die jüngere, lässt sich eher treiben, weiß nicht was sie wirklich machen soll, während die ältere, Midge, voll im Karriereleben aufgehen will. Beide leben sie im alten Haus ihrer Großeltern in Schottland und gerade hat Midge Anthea einen Job besorgt bei der Firma, in der auch sie gerade arbeitet. Gleich am ersten Tag wird das Gebäude des Unternehmens von einem Sprayer verunstaltet. Anthea sieht zu wie er herunterklettert, sie wendet sich um, und:

“Mein Kopf, in dem geschah irgendetwas. Es war, als erhebe sich ein Sturm auf hoher See, aber nur für einen Moment und nur in meinem Kopf.”

Die ganze Rahmenhandlung ist eher Kulisse, gute gemachte Kulisse, in der vieles, was von Interesse ist, aufgegriffen wird. Trotzdem liegt ein wichtiger Schwerpunkt der 5. Kapitel “Ich”, “Du”, “Wir”, “Die”, “Und jetzt alle zusammen” auf dem Innenleben und der Wahrnehmung der beiden Schwestern; im Blick unter ihre Haut.

Diese Erzählperspektive ist es, die das Buch, neben seiner Thematisierung von klischeehafter Sexualität, so wertvoll macht. Obwohl solche Dinge wie Liebe und Ideal sehr schön scheinend und eher unreflektiert dargestellt werden, obwohl die Rahmenhandlung in ihren Ausläufern etwas dürftig scheint – die Art wie Ali Smith erzählt, lässt Seite für Seite des schmalen Buches vergehen. Die Art wie sie Gespräche darstellt und Gedankengänge: vorzüglich. Ihr Humor: locker und nie überstrapaziert eingesetzt.

“und ich überlegte, ob alles, was ich sah, ob vielleichte jede Landschaft, die wir mit einem flüchtigen Blick bedachten, das Produkt einer Ekstase war, derer wir uns nicht einmal gewahr waren, das Produkt eines Liebesaktes, der sich so langsam und stetig vollzog, dass wir es fälschlicherweise für Alltagswirklichkeit hielten.”

“Girl meets Boy” ist ein schönes, kurzes Werk. Die Mythen-Reihe, in der es erschienen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mythen der Menschheit von aktuellen Autoren nacherzählen zu lassen. Ali Smith ist vielleicht nicht die Nacherzählung des Ipis Mythos gelungen; aber dieser hat sie zu einer Erzählung inspiriert, die wichtiger kaum sein könnte.

“Die Versuchung des heiligen Antonius” in Szene gesetzt von Gustave Flaubert


Der heilige Antonius (besser bekannt als Antonius der Große) soll von ca. 251 bis 356 n.Chr. gelebt haben. Er war ein bekannter und sehr strenger Büßer und Eremit, der sich über lange Zeit (manche behaupten gar sein ganzes Leben) nicht aus seiner Wüste bewegt hat. Hier war er ganz auf die Abtötung seiner Bedürfnisse fixiert.

Was aber gab dem berühmten Literaten Flaubert, der mit seinem bekanntesten Werk Madame Bovary, einen großen, aber nichts desto trotz eher konventionell-realistischen Roman geschrieben hat, den Anlass, sich in eine religiöse Welt der Glaubensprüfung zu begeben? Hat es etwas mit dem Gedanken einer “Glaubensprüfung” an sich zu tun? Faszinierte Flaubert die Vorstellung eines solchen Aktes?

Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben, wenngleich Flaubert durchaus einige Affinitäten zum Mythischen und Heiligen wie auch Archaischen hatte, wie einige andere Texte, Salambo oder auch das schwirrend, schwüle November, nahelegen. Gewiss, auch in -Madame Bovary- erleben wir einige Diskussionen und Anmerkungen über Kirche und Philosophie, ihre Konflikte und Inhalte – doch ist dieser “Roman in Szenen”, der wie ein Theaterstück aufgebaut ist, in so tiefstem Maße, theologisch, bunt und mythenschwer, dass man ihn nicht mehr als bloße Parabel auf einen Gedankengang abtun kann. Es ist eine breitangelegte Metaphysik der Versuchung.

Drei Mal schrieb Flaubert den Text um; über 25 Jahre arbeitet er immer wieder an dem Manuskript und konnte kurz vor seinem Tod noch die endgültige Version vorlegen; sein ganzes Leben hat ihn dieses Projekt begleitet.

Antonius steht in der Wüste vor seiner Hütte; es ist Nacht und er fühlt sich ausgeleert und zweifelt leis’ an seinem entrückten Dasein; wehmütig spielt er mögliche andere Existenzen durch. Doch bald schon plagen ihn Heimsuchungen (oder Visionen?) in denen der Teufel im Reichtum anbietet und ihn mit Gewissheiten und Widersprüchen konfrontiert.

Der eigentliche Romantext ist in 7 Kapitel aufgeteilt. Kapitel Eins ist eine Art Einführung, worauf in den folgenden Kapiteln allerhand mythische Motive aufgegriffen werden und sich verschiedene Themen herauskristallisieren.
In Kapitel II ist es die Versuchung des Überflusses, in Kapitel 6 schwingt der Teufel Antonius in die Lüfte und zeigt ihm die Lächerlichkeit seines Gottglaubens auf; in Kapitel 4 und 5 dagegen, sieht sich Antonius mit den unterschiedlichsten Auslegungen seiner Religion konfrontiert, mit Kulten und auch mit vielen fremden Göttern – stets ist Antonius entsetzt:

“ANTONIUS: Ich denke an all die Seelen, die durch die falschen Götter verloren sind.

HILARION: Findest du nicht, dass sie … manchmal… dem wahren gleichen?

ANTONIUS: Das ist eine List des Teufels, um die Gläubigen leichter zu verführen! Die Starken versucht er mit den Mitteln des Geistes, die Schwachen mit denen des Fleisches.

HILARION: Aber im Rasen der Wollust ist etwas von der Selbstaufopferung der Buße. Die wahnsinnige Liebe des Körpers treibt seine Zerstörung voran – und offenbart in ihrer Schwachheit die Größe des Unmöglichen.”
(Textausschnitt)

Ist alles nur eine Versuchung des Teufels? Es scheint so. Dabei will Antonius doch nur, was viele, vielleicht alle Gläubigen wollen: Ein Zeichen, dass ihnen den Zweifel nimmt. Am Ende wird es gerade die große Versuchung sein, die Antonius in seinem Glaubens bestärkt – wo soll man auch glauben, wo man nicht zweifelt? …

Der Reichtum, die Fülle, von Flauberts Werk ist Vorteil wie Nachteil zugleich. Selbst der erfahrenste Leser könnte sich in diesem mystisch-mythischen Spiel, das Bilder entwirft wie atemlose Monologe und Monologe wie atemlose Bilder – und in Teilen an die plastische Seligkeit der Märchentexte von Oscar Wilde, in anderen Momenten an barocke und antike Bombastik erinnert – verloren fühlen. Namen, Figuren, Personen tauchen zu Hauf auf und verschwinden schnell wieder, oft nur kurz erwähnt, und mir persönlich war nicht einmal die Hälfte von ihnen geläufig.

Die Schönheit der Darstellung und die kleinen wahren Zeilen im Sturm der Dramatik, erfüllen allerdings (und ist es im Theater anders? – 98% Show, 2% genau auf den stillen Punkt gebrachte Wahrheit) den Bedarf an Lesegenuss und Erkenntnis; man muss sich nur in einem Bilderrausch sanft an die Ufer jener wenigen Erkenntnisse tragen lassen … Eine Erkundung dieser alten und doch so neuen Welt, lohnt sich daher allemal.

Übrigens: Das zwar eher fachliche, trotzdessen interessante Nachwort lieferte Michael Foucault!