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“Zähle nach wie Noah gezählt hat” – Das dichterische Werk von Rainer Brambach


“So einfache Sachen wie Kühe melken,
Begonien begießen, damit sie nicht welken
[…]
beim Überqueren der Straße auf Autos achten

und nachts den Mond wie Klopstock ihn sah
und nachts den Mond wie Goethe ihn sah
und nachts den Mond wie Claudius ihn sah
und nachts den Mond wie Hebel ihn sah
betrachten.”

“Ich schreibe keine Geschäftsbriefe
ich beharre nicht auf dem Termin
und bitte nicht um Aufschub.
Ich schreibe Gedichte.”

Eine der schönsten Dinge, die man meiner Ansicht im Leben tun kann, ist, sich mit einem guten Gedichtband, der einen zu nichts nötigt, sondern jede Vorstellungspore öffnet, irgendwo hinzusetzen und zu lesen; zu lesen und wieder zu lesen, als wäre jedes Gedicht eine Flaschenpost zwischen Menschen, eine Lebensweisheit, eine Offenbarung erlebnishafter Natur. Als wäre jedes Gedicht die Reinkarnation eines Gefühls, eines Eindrucks. Als sei das Büchlein in der Hand ein Schatz voller einzelner Schätze namens Seiten, Titel, Zeilen.

Es ist der große Vorteil von Gedichten, dass sie nicht einfache ein Abbild sind, sondern eine Wirkungsmacht. Jedes Gedicht kann auf seine Weise beeindrucken und tief treffen, weil das Element der lyrischen Vermittlung einen dazu bringt, mit jedem noch so winzigen Eindruck Berge an Bedeutung zu versetzen, Goldadern in den eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu finden, einen Blick auf die Gründe vieler Dinge zu erhaschen. Gedichte sind schon ihrer Art nach ein Erlebnis, das zwar Bewegungen vorgibt, doch der Tanz, den man aufgrund von einzelnen oder dem Ablauf dieser Bewegungen beginnt, der liegt ganz beim Leser. Ein gutes Gedicht hat eine Form, die schon viel in sich trägt, auf die aber noch mehr und noch höher aufgebaut werden kann.

“Diese Welt, die ich nicht mehr verstehe,
besucht mich in Gestalt einer Zeitung
jede Woche einmal,
und mehrmals täglich
schwirrt eine Schar von Spatzen ans Fenster.”

Faszinierend ist, auf wie viele unterschiedliche Arten lyrische Beschwörung gelingen kann. Rainer Brambach (1917-1983) zum Beispiel hat kaum ein Gedicht geschrieben, was länger als eine großbedruckte Seite lang wäre. Sie gehen von einfachen Umständen aus und entfernen sich auch nicht wirklich in ihrer Sprache davon; es sind Beobachtungen, Erlebnisse, kurze Vertiefungen, die er, manchmal sinnig, manchmal spielerisch, auftauchen lässt, bevor das Gedicht dann schon wieder vorbei ist. Das bemerkenswerte ist: in der Zwischenzeit geschieht dennoch etwas: Die Auseinandersetzung mit dem Gedicht fördert etwas in einem zu Tage; man selbst fördert es mithilfe des Gedichts zu tage.

“Dem Tod keine Zeile bisher.
Ich wiege achtzig Kilo und das Leben ist mächtig.
Zu einer anderen Zeit wird er kommen und fragen,
wie es sei mit uns beiden.”

Es sind nur kleine Botschaften. Aber gerade das Schmale an ihnen, macht sie gleichzeitig fest, eindrücklich. Man kann ihnen nicht ausweichen, denn ihre Präsens ist für die Dauer der Lektüre unausweichlich, alles darin gehört zusammen; sie sind ein untrennbares Geflecht, gleich einem Schild, das dich auffordert, etwas zu dem zu sagen, was du gerade empfindest, was du gerade von Leben verstehst, was du sehen kannst

“Vom Querschläger Regen nassgeprügelt,
glänzt der Asphalt sammetschwarz satt,
schwankt die Allee herbstlaubbeflügelt.”

Kopfkino, musiziert nach lyrischem Wortschatz. Die teilweise harmlos-instinktiven Naturepisoden und -veranschaulichung machen einen nicht unerheblichen Teil des Bandes aus; in dieser Naturverbundenheit liegt dabei erstaunlicherweise nicht der Versuch, die Natur zu überwinden. Vielmehr ist diese ländlich-lebensgegerbte Note eine authentische Verknüpfung zwischen dem Schreiben des Autors und seinem Lebensgefühl.

Aber das Zentrale ist letztlich nicht das Überwiegen einer Thematik, sondern die Art, wie Brambach die Form des sehr kurzen Gedichtes auf viele verschiedene Themen erstrecken kann (auch wenn er meist beim Natur- oder Ichgedicht bleibt), was diesen Band so wertvoll macht. Es geht vieles, es geht auch anders – als Beispiel das Gedicht “Paul”:

“Neunzehnhundertsiebzehn
an einem Tag unter null geboren,

rannte er wild über den Kinderspielplatz,
fiel und rannte weiter

das Gewehr im Arm über das Übungsgelände,
fiel, und rannte weiter

an einem Tag unter Null
in ein russisches Sperrfeuer

und fiel.”

Im Ganzen ist dieses Gesamtwerk von 170 sehr großzügig bedruckten Seiten, ein kleines Geschenk für jeden Poesieliebhaber. Es enthält Ernstes und Heiteres, aber vor allem viel Natürliches. Man kann dieses Band mit einem unverfänglichen Genuss lesen, der einem dann und wann auch zu denken gibt. Berührend ist auch ein Wort, was für die Gedichte Brambachs stehen kann, auf eine sehr dezente Weise, die sich nie innerhalb dieses Begriffes ausverkaufen will.

“Außer Poesie und mir
war niemand im Park.

Wer sich gerne mit Gedichten beschäftigt, die keinen großes Tamtam um Verschleierung und Tricksereien machen, sondern vielmehr am Poetischen, dem Sinnspiel, dem Kopfkino, dem Einfangen der Welt als Wortgeste(n), interessiert sind, dem kann man dieses Werk ohne große Gefahr ans Herz legen. Es sind einfache Gedichte, die hier zu lesen sind. Aber einfache Gedichte sind immer noch Gedichte.

“Ein Gedicht schreiben
ohne Ballast
zum Beispiel Spätherbst
leeres Schneckenhaus Spinnenweben
lautlos Fallendes
im Geflüster der Bäume.”