Tag Archives: New York

Zu William Boyd “Eines Menschen Herz”


Eines Menschen Herz Man sollte vorsichtig sein mit Superlativen, aber “Eines Menschen Herz” ist eines der fesselndsten Bücher, die ich je gelesen habe. Dabei bin ich gar kein großer Freund von dicken Wälzern. Aber ähnlich wie in den besten Büchern von John Irving ergibt sich auch in diesem Buch aus dem Mix von Spannung und allmählicher Vertrautheit mit den Figuren ein Sog, ein epischer Bogen, der einen nach einer Weile nicht mehr loslässt und einen letztlich mit den simpelsten Wendungen und Szenen direkt ins Herz treffen kann, weil das Schicksal der Erzählung daran festgewachsen ist.

Auch ich habe mich, wie wohl manche/r, am Anfang mit der Form schwer getan – das fiktive Tagebuch eines Schriftstellers, das klingt schon ziemlich plakativ. Und in manchen Momenten, in denen Boyd seinen Protagonisten mit großen Namen zusammentreffen lässt (Hemingway, Picasso, Herzog von Windsor, Pollock, etc.) ist das Buch auch nah dran, plakativ zu sein.

Aber gerade in diesen Momenten zeigt sich auch Boyds Klasse, den meist wirken das Zusammentreffen und die Umstände ganz natürlich und klugerweise verlagert Boyd nie das Zentrum des Geschehens auf die populären Namen und Ereignisse, sie geben lediglich Gastspiele in dem Leben, das ansonsten hauptsächlich im Umfeld der Freund*innen & Beziehungen stattfindet. Es liegt ein Funken echter Eleganz in der Art, wie Boyd seine Erzählung immer wieder neu strukturiert, justiert und doch bei aller Weltgewandtheit, immer wieder auf das Wesentliche des einzelnen Lebens zurückkommt.

Es gibt ein paar schwächere Episoden in dem Buch, aber keine dauert sehr lange. Mit seinem langen Atem gelingt es Boyd, einem wirklich Tür und Tor zur Seele seines Protagonisten zu öffnen, ein paar geschickte Unterbrechungen und Zwischenspiele, Takt- und Ortswechsel sorgen für die nötige Authentizität und auch für die nötige Dynamik. Am Ende war ich atemlos, bewegt, erschüttert und zu gleichen Teilen entsetzt und beglückt davon, wie ein Leben im Zeitraffer vorbeiziehen kann, wie es sich füllt und doch immer kleiner wird. Für diese Erfahrung in Buchform bin ich William Boyd sehr dankbar.

 

Zu “Hellblazer – Original Sins/Erbsünde 1”


hellblazer - erbsünde Hellbrauner Trenchcoat, Krawatte, eine Zigarette im Mundwinkel oder in der Hand, blondes Haar, dazu eine leicht ignorante Lebenseinstellung, eine Mischung aus C’est la vie und Carpe diem, aus Scheiß-drauf und Muss-halt-sein.

Soweit die Markenzeichen von John Constantine, britischer Magier und Meister des Okkulten, der genau 300 Hefte lang seine eigene Serie Hellblazer bei Vertigo Comics hatte. Kreiert wurde die Figur ursprünglich (anscheinend war das Erscheinungsbild des Musikers Sting eine wichtige Inspirationsquelle) von Graphic-Novel-Legende Alan Moore (u.a. Autor von Watchmen) für the Swamp Thing, wo er in den Ausgaben #37-77 vorkommt (wer einen der wichtigsten ST-Auftritt von Constantine besitzen will, der auch in den ersten Comicnummern von Hellblazer eine Rolle spielt, der sollte sich Vol. 1 der Hellblazer-Sammlung besorgen, wo neben den Ausgaben #1-9 auch zwei Nummern von Swamp Thing enthalten sind, nämlich die Nummern #76-77. Das Cover der Vol. 1 ist unten abgebildet, ISBN 978-1401230067. Mehr zu Constantines ST-Auftritten findet man hier).

Jamie Delano, der erste Autor der Hellblazer-Serie, übernahm Moores Charakterprägung, ging aber eigene Wege bei der Story-Gestaltung und Entwicklung von J. C. In seinen Swamp Thing-Auftritten ist Constantine eine Figur mit viel Persönlichkeit, aber eher wenig Hintergrund. Delano hingegen macht aus ihm schon in der ersten Geschichte (bestehend aus #1-2) einen Person mit Vergangenheit – und schubst uns direkt in seine Welt.

Constantine kommt gerade aus Südamerika zurück und im verregneten London an. Wir wissen schon ein bisschen mehr als er, den auf den ersten Seiten haben wir einem Mann dabei zugesehen, wie er, von einem mehr als animalischen Hunger getrieben, immer mehr Essen in sich hineinstopft und schließlich in einem Restaurant zuerst die Gäste anfällt, dann zusammenbricht und kurz darauf als verhungerte, ausgedörrte Leiche endet.

Constantine wird zunächst von seiner Haushälterin damit konfrontiert, dass ein alter Freund ihn oben in der Wohnung erwartet. Der “Freund” stellt sich als der Junkie Garry Lester heraus, der in Nordafrika einen Dämon gebannt hat, ihm aber dann nicht gewachsen war, mit dem Behältnis nach London kam und es, als er Constantine – von dem er sich Hilfe erhofft hatte – nicht antraf, kurzerhand an eine Freundin in die USA verschickte.

Constantine muss nun also nach Nordafrika (um zu erfahren mit was für einem Dämon er es genau zu tun hat) und schließlich mit Lester in die Staaten, wo bereits einige weitere Menschen verhungert sind, kurz nachdem sie sich Massen von ihren Lieblingsgütern einverleibt haben…

Delano wirft uns in Constantines Leben und in eine Welt, in der rituelle Magie (egal ob für Schamanen oder für New Yorker bzw. Londonder-Autodidakten) etwas Greifbares ist und die Grenze zwischen irdischen und anderen (vor allem infernalischen) Sphären dünn und brüchig sind. Er (und John Ridgway) stellen gekonnt die Schrecken dar, die Besessenheit der Opfer, aber auch an einigen Stellen die Wesenheiten der Dämonen, in manchen Passagen erinnern diese Darstellungen gar an die Werke von H. P. Lovecraft (das Erscheinungsbild von Mnemoth, dem ersten größeren Dämon in Hellblazer, wäre ohne Lovecrafts Werk wohl generell undenkbar).

Hunger und A feast for friends sind Klassiker und wichtige Hellblazer-Figuren wie Papa Midnite und Constantines Freund Chas haben hier gleich ihre ersten Auftritte. Constantine geht auch sofort seiner bekanntesten Tätigkeit nach, auf die auch in der nicht ganz überzeugenden, aber auch nicht völlig misslungen Verfilmung von 2005 der Hauptfokus gelegt wurde: er schickt Dämonen, die in die reale Welt eingebrochen sind, ins Jenseits zurück – mit Risiko, Cleverness und Fatalismus.

Geschickt ist auch (ich habe es bereits erwähnt), wie Delano Constantine gleich in dieser ersten Geschichte als gezeichneten Menschen mit reichhaltiger Vergangenheit darstellt. Nicht nur mit Lester und Midnite verbindet ihn eine Vorgeschichte, die Leser*innen werden zusätzlich mit einigen anderen Geistern aus seiner Vergangenheit konfrontiert und es wird angedeutet, dass viele dieser Freund*innen bei Ereignissen umkamen, die mit Magie zu tun hatten und die Constantine knapp überlebte; das Newcastle-Ereignis hängt wie ein Damokles-Schwert über den ersten Constantine-Erzählungen. Schon diese ersten Geschichten zeigen ihn als Antihelden, der im hohen Maße Rauschmitteln wie Zigaretten und Alkohol zuspricht und der von seiner Tätigkeit elektrisiert ist, darin aufgeht, aber eigentlich durch sie ein Getriebener ist.

#3, Going for it, stellt ein kurzes Einzelstück dar, das vor allem noch einmal verdeutlicht, dass sich in der Welt von Hellblazer oft Dämonen auf der Erde tummeln und dort in vielen Gestalten und Gewändern auftreten und Einfluss nehmen. In diesem Kabinettstück lebte Delano außerdem seine Absicht aus, kritisch über England und das London der damaligen Gegenwart (1988) zu schreiben. So stehen im Zentrum der Geschichte Dämonen, die sich als reiche Yuppies ausgeben und mit den Seelen von Menschen handeln, das alles vor der Kulisse der Oberhaus-Wahlen von 1987. Alan Moore hätte diese scharfzüngig-bittere Satire wohl nicht besser hingekriegt.

#4, Waiting for the man, ist dann der Auftakt zu ersten längeren Storyline von Hellblazer, fortgeführt in den Nummern #5-9. Constantine lernt Zed kennen, eine junge Frau mit einer Frisur wie Cruella Deville, mit der anzubändeln beginnt. Kurz darauf wird seine Nichte entführt. Im Zuge dieser Entführung sieht er sich sowohl mit einer dämonischen als auch einer göttlichen Armee konfrontiert. Es scheint etwas Größeres im Gang zu sein und auch Zed, ebenfalls magisch und vielseitig begabt, sagt nicht alles, was sie weiß…

Der deutsche Verlag Schreiber & Leser hat einige Constantine-Nummern auf Deutsch herausgebracht. Davon wichtig, weil auf Deutsch sonst nicht zu bekommen, sind die ersten neun Hefte (in diesem und dem zweiten Erbsünde-Band zusammengefasst) und ein paar Hefte aus dem Run von Brian Azzarello, der in der Chronologie sehr viel später einzuordnen ist.

Leider sind Farbwahl und Druckqualität der deutschen Ausgabe sehr mangelhaft (teilweise sind dunkle Konturen komplett schwarz gehalten, als wären die entsprechenden Bereiche zensiert) und wer auch auf Englisch lesen kann und mag, dem würde ich die bereits erwähnte und unten abgebildete Vol. 1 empfehlen. John Ridgway ist eigentlich kein schlechter Zeichner, liefert zwar keinen Hochglanz, dafür aber jede Menge kleiner, wilder Innovationen und Ideen.

Leider hat auch die Vol. 1-Ausgabe einen Makel mit der deutschen Version gemeinsam: oft waren die Panels bei den Hellblazer-Originalausgaben so angelegt, dass sie quer über die ganze Doppelseite liefen. In den Buchausgaben wurde dem nur unzureichend Rechnung getragen, man muss die Bände förmlich platt drücken, wenn man das ganze graphische Erlebnis haben will.

Dennoch: Es war ein guter Einstand für John Constantine. Von Anfang an hat zumindest er als Hauptfigur eine Tiefe und Coolnes, die einen dranbleiben lässt.

original sins

Fazit:

Wichtigkeit im Hellblazer-Universum:
🌟 🌟 🌟 🌟 🌟
Grafik:
🌟 🌟 🌟 🌟
Story:
🌟 🌟 🌟 🌟
Aufmachung:
🌟 🌟 (schlechter Druck und im Buchformat problematisch wegen der Doppelseitennutzung der Originale. Ein Stern mehr für die englische Vol. 1 Ausgabe)

Alben, die ich sehr schätze – Dritter Eintrag: Live-Alben von Bruce Springsteen


Live 1975-1985 Bruce Springsteen hat mir schon mehr als einmal das Leben gerettet. Nicht er persönlich, aber seine Musik. Sie hat diese Fähigkeit, sämtliche Versteinerungen & Abschirmungen bei mir zu durchbrechen; steht direkt neben mir, sobald sie erklingt, als gäbe es keine Entfernungen zwischen ihr und mir zu überwinden. Ich liebe die Bandbreite der Stimmungen in dieser Musik, ihre vielen emotionalen Register.

Kurz eine Liste. Die zehn besten Live-Alben von Bruce Springsteen sind meiner Meinung nach:

10. Live & RARE (1992-95, nur MP3)
9. Max’s Kansas City (1973, mit E Street Band)
8. Acoustic Radio Broadcast Collect. (1973-74, nur MP3)
7. Chimes of freedom (1988)
6. Live in Dublin (2007, mit Session Band)
5. Live at the Main Point (1975, mit E Street Band)
4. Live in New York City (2001, mit E Street Band)
3. Hammersmith Odeon ’75 (1975, mit E Street Band)
2. In Concert/MTV Plugged (1993)
1. Live 1975-1985 (mit E Street Band)

Meine persönlichste Geschichte habe ich mit dem Springsteen-Song „The River“. Es gibt eine Live-Version davon, auf der dritten CD von „Live 1975-1985“. Es ist der erste Track, 11 Minuten und 39 Sekunden lang. Gleich zu Anfang setzt schon Musik ein, läuft aber dann nur sanft dahin und schließlich ist da Springsteens Stimme, die fragt: „How you doin out there tonight?“ Die Menge antwortet mit begeisterten Rufen, aber Springsteens Stimme scheint etwas verhalten als er sagt: „That‘s good. That‘s good.“

Dann beginnt er zu erzählen; die Musik fließt weiter dahin, schimmernd und still wie ein Fluss in der Nacht. Es geht um ihn und seinen Vater, die beiden streiten sich oft in seiner Jugendzeit; er hat lange Haare, läuft immer wieder von zu Hause weg, verbringt die Nacht draußen, hat das Gefühl seinen Vater zu hassen. Der sagt schließlich nur noch: „Man, I can’t wait till the army gets you. When the army gets you they’re gonna make a man out of you. They’re gonna cut all that hair off and they’ll make a man out of you.”

Ich hatte zwar keinen Vater, der mich zum Militär schicken wollte, aber auch einen Vater, mit dem ich nicht klarkam. Mir ging es als Teenager oft nicht gut, ich hatte Panikattacken, Depressionen, Zukunftsängste. Für ihn war mein Verhalten selbstzerstörerischer Nonsense, ich riss mich einfach nicht zusammen, meinte er.
Er wusste nicht, wie er mir helfen sollte, also schrie er mich an, machte mich fertig – kurzum: bei mir kam nicht an, dass er mich liebte. Für mich fühlte es sich an, als ob er mich nicht lieben konnte wie ich war, als ob er mich nicht verstehen wollte, mich und meinen Kampf mit diesen Gefühlen, die ich mir nicht ausgesucht hatte und denen ich so schwer gegenüber treten, die ich oft nicht bekämpfen konnte.

Springsteen erzählt weiter. Von 1968, seinem Abschlussjahr. Der Vietnamkrieg ist im Gange, viele von seinen Freunden werden eingezogen; es ist das Jahr, in dem die meisten amerikanischen Rekruten fallen; viele andere kommen mit schlimmen Versehrungen zurück. Auch Springsteen muss zur Musterung (dem physical).

„I remember the day I got my draft notice. I hid it from my folks. And three days before my physical me and my friends went out and we stayed up all night and we got on the bus to go that morning and man we were all so scared…“

Ich weiß noch, wie ich den Song das erste Mal hörte. Ich war 15, war gerade in meiner ersten depressiven Episode, verstand dieses Gefühl noch überhaupt nicht, konnte aber die ganze Angst und Wut und Trauer auch nicht wirklich herauslassen. Es war, als wären in mir alle Hähne abgedreht worden. Nichts floss mehr: keine Freude, keine anderen Gefühle, alles stockte und ich trieb mich fast nur noch in mir selbst herum, versuchte die Hähne aufzudrehen, mit aller Gewalt und hockte vor den leeren Becken, von denen mich nur die Spiegelung meines Gesichtes anstarrte.

Auch Tränen wollten nicht kommen. Geweint hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr. Es schien, als hätte ich es für immer verlernt. Es gab die Momente, in denen ich weinen wollte – und ständig war da diese Anspannung in mir, auf die ein Weinen normalerweise folgt, aber nichts passierte. Ich weiß noch, wie ich dasaß und mir wie der einzige Zuhörer vorkam; ich lauschte dem Ende von Springsteens Geschichte.

„And I went, and I failed. I came home [audience cheers], it’s nothing to applaud about…

I remember coming home after I’d been gone for three days and walking in the kitchen and my mother and father were sitting there and my dad said:
»Where you been?«
and I said, uh, »I went to take my physical.«
He said »What happened?«
I said »They didn’t take me.«
And he said: »…That’s good.«“

Und während das Saxophon und die Mundharmonika einsetzen, den Song spielen (dieser Einsatz ist wunderschön, wie ein Sprung, ein Hineingleiten in den Fluss) kommen mir die Tränen. Es ist, als könnte ich zum ersten Mal seit langer Zeit atmen. Sie kommen, ich weine und weine. Ich kann weinen.

Und es funktioniert bis heute. Ich muss nur dieser Geschichte lauschen, nur diesen Song hören, und beginne zu weinen. Und noch mehr als das: immer wenn ich seitdem auf meinen Vater wütend bin, gibt es da diesen Moment, wo ich an diesen Song, an diese Geschichte denke. Ich wusste damals augenblicklich, wider jeder Wut, dass mein Vater mich liebte; dass er mir nie würde helfen können, weil er so war wie er war – dass in ihm aber auch dieses „That’s good“ vorhanden war.

Wer wissen will, warum man Live-Stücke hören sollte und nicht nur Studio-Versionen, den kann ich an diesen ersten Track auf der dritten CD von „Live 1975-1985“ verweisen. Es gibt viele andere gute Live-Versionen von „The River“: Die von „Live in New York City“ hat ein wunderschönes Saxophon-Vorspiel, es ist im Ganzen eine großartig-sanfte Interpretation; es gibt eine Version, in der Springsteen den Song zusammen mit Sting performt und ein paar gute Versionen aus Live-Mitschnitten von Konzerten nach 2010. Es ist immer und überall ein ergreifendes Stück. Aber diese Version, die hat mir das Herz gebrochen, auf eine gute Art. Und wer oder was einem das Herz bricht, das vergisst man nicht, das bleibt einem; vor allem wenn das Herz an dieser Stelle nicht (nur) blutet, sondern der Spalt die Öffnung ist, durch die man atmen kann.

Es gibt ein heiteres, emotionales Gegenstück zu dieser Live-Version von „The River“. Es ist der siebte Track auf der ersten CD von „Live 1975-1985“, eine Version von „Growin up“ (Das Lied erschien ursprünglich auf dem ersten Album von Springsteen: „Greetings from Asbury Park, N.J.“.)

Am Anfang das Piano, erwartungsvoll. Man hört die Rufe der Menge so deutlich, als stünde man mit im Raum. Es ist eine kleinere Location: ein Keller, eine Kneipe. Die Aufnahme stammt vermutlich aus der Mitte der Siebzigerjahre, vielleicht von der „Born to Run“-Tour oder sogar von noch früher.

Springsteens Stimme: „There was one night … just a normal guy. … And than, there was a next night … goddamn I was still just a normal guy.“ Dann beginnt das Lied, wunderbar schwung-voll, ja, das Wort unbändig ist die einzig adäquate Beschreibung dieses Auftakts, des ganzen Stücks. Es ist ein Song, der das Schmerzhafte des Erwachsenwerdens einfängt und gleichsam eine wilde Phantasie ist, in der die ganze Suche nach einem Platz in der Welt und der ganze Wahnsinn dieser Welt steckt.

Nach zwei Minuten plötzlich wieder nur das Piano, die Rufe des Publikums. Springsteen: „I think … I’m not sure … But I think my mother and father and my sister, they’re here again tonight.“ Das Publikum jubelt, lacht. „For six years they been following me around California, tryin’ to get me come back home.“ Die Menge klatscht, lacht, als wäre Springsteen ein Comedian. „Hey Ma“, ruft er, „give it up, kay? Gimme a break. They still-“ Er muss Lachen und beteuert beim nachfragenden Publikum, dass sie hier bestimmt irgendwo sind. „You know, they still trying to get me go back to colleague. Every time I come in the house: »You kow: It’s not to late. You can still go back to colleague«, they tell me.“

Dann erzählt er wiederum von seiner Jugend. „When I was growin up, there were two things that were unpopular in my house. One was me“ Gelächter „and the over one was my guitar.“ Dann erzählt er, wie sein Vater immer wieder versucht, ihn vom Gitarre spielen abzuhalten. Der Vater will, dass er Anwalt wird und Springsteen erzählt mit großem Vergnügen eine Anekdote über einen Motorradunfall in seiner Jugend und wie er von dem Anwalt im Dorf wegen seiner Klamotten und seinen langen Haaren heruntergeputzt wurde. Sein Vater sagt trotzem: „You should be a lawyer. You know, you get a little something for yourself.“ Und seine Mutter sagt: „No, no, he should be an author, ride books. That’s a good life, you can get a little something for yourself.”
Eine minimale Pause.
„But what they didn’t understand was … was that I wanted everything.“ Die Menge jubelt und man hört eine Frauenstimme ganz deutlich rufen: „You got it!“ Die Musik steigt ganz langsam an und Springsteen: „So, you guys, one of you wanted a lawyer, and the other one wanted an author. Well, tonight, you are both just going to have to settle for rock ‘n roll…” Die Menge jubelt und das Stück setzt wieder mit seiner ganzen Energie ein, als wäre es nie unterbrochen worden. Wer glaubt, Springsteen sei nur der Stadionrocker von „Born in the USA“, der sollte sich diese Aufnahme anhören (und sich außerdem von den ersten drei, vier Alben umhauen lassen!)

Springsteens Umgang mit seinem Wunsch „nach allem“ hat mich nachhaltig inspiriert, mehr als mir lange Zeit klar war. Zwar möchte ich nicht mehr wirklich daran denken, mit welcher Naivität und Großtuerei ich als Jugendlicher (und manchmal noch danach …) meine literarischen Ambitionen vertreten habe, aber ich bin froh, dass ich immer zu meinem Wunsch stand, Schriftsteller werden zu wollen. Nicht weil es etwas Glamouröses ist oder etwas, auf das man übermäßig stolz sein kann. Sondern, weil es alles ist, was ich wollte und nach wie vor will (nicht alles in allen Belangen, aber auf einer bestimmten Ebene alles).

Schreiben war einer meiner Wege aus den Untiefen des Unglücklichseins – oder zumindest die gehaltene Verbindung zur Welt, wenn ich glaubte, mich nicht mehr in ihr aufhalten zu können. Menschen haben mir natürlich auch geholfen, meine Mutter insbesondere – und Musik. Es klingt pathetisch, aber … Bruce Springsteen hat mir dabei geholfen, mir mein Leben zu retten.

Es ist schwer, jetzt von diesem Einstieg wegzukommen. Vielleicht hätte ich nicht so persönlich werden sollen, aber ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich das alles aufschreiben konnte.

Einen guten Übergang stellt vielleicht der Song „No surrender“ dar, eine weitere unbändige Ode auf den Kampf mit dem Leben, ein Schrei und eine Liebeserklärung gleichermaßen.

“Now on the street tonight the lights grow dim
The walls of my room are closing in
There’s a war outside still raging
You say it ain’t ours anymore to win
I want to sleep beneath
Peaceful skies in my lover’s bed
With a wide open country in my eyes
And these romantic dreams in my head”

Veröffentlicht auf Springsteens populärstem Album “Born in the USA” (musikalisch teilweise ein harter Bruch mit den virtuosen Stilen der ersten Alben) ist „No surrender“ ein Stück, dass sich mit seinem Tempo und mit seinen Keyboard- und Synthesizerklängen weniger für Live-Aufritte eignet, denn es unterfordert die Virtuosität und Vielfalt der E Street Band eher. Folgerichtig ist die beste Live-Version (von Springsteen selbst) eine sparsame: Track elf auf der dritten CD von „Live 1975-1985“. Nur mit E-Gitarre, sehr eindringlich, ganz ohne das Tempo der Originalversion, aber genauso drängend.

Wer das Lied mit all seiner Power live erleben will, der kann sich auf Youtube (unter dem Stichwort „No Surrender Festival 2017“) ein Video anschauen, in dem eine Menge von etwa fünfhundert Leuten den Song spielt/singt, mit sehr vielen Gitarren, Schlagzeugen, Klavieren, Stimmen, Bässen.

Das Festival, auf dem diese großartige Aktion zustande kam, fand in Spanien statt, 2017 das erste, dieses Jahr zum zweiten Mal (die in diesem Jahr entstandene „Badlands“-Version ist leider nicht ganz so mitreißend und ergreifend). Es ist toll, wie diese Interpretation die ganze Schönheit von Springsteens Musik einfängt, ihre verbindende und begeisternde Energie, ihre Faszination. Da geht einem das Herz auf.

“The screen door slams, Mary’s dress waves
Like a vision she dances across the porch as the radio plays
Roy Orbison singing for the lonely
Hey, that’s me and I want you only
Don’t turn me home again, I just can’t face myself alone again”

Auf ganz andere Weise geht mir die, wie ich finde, beste Live-Version von „Thunder Road“ nah. Sie befindet sich auf dem Album „In Concert“. Eigentlich sollte dieses Album zur bekannten „MTV unplugged“-Reihe gehören, in der Künstler*innen ihre Stücke ohne elektronische Unterstützung spielen. Springsteen spielte aber nur den ersten Track unplugged und den Rest mit einer kleinen Band (die E Street Band lag zu dieser Zeit auf Eis).
Es ist natürlich schade, dass es kein MTV Unplugged Album von Springsteen gibt, aber die Entscheidung erwies sich als Glücksfall, denn auf „In Concert“ befinden sich ein paar tolle Live-Versionen, auch teilweise von Liedern, die Springsteen mit der E Street Band nie gespielt hätte (und heute sehr selten spielt).

„Thunder Road“ hat er natürlich unzählige Male mit ihnen gespielt und es gibt gute Versionen auf mindestens der Hälfte der Live-Alben, die ich oben aufgelistet habe. Aber die auf „In Concert“ ist meiner Ansicht nach die beste: souverän, liebevoll, unerbittlich, zärtlich, zerschlagen, hoffnungsvoll, all diese Dinge auf einmal. Wunderbar, wie die Gitarre und die Hammond Orgel den Song kleiden, heben und heben; wunderschön, wie die Mundharmonika den Song noch festhält, festhält und schließlich gehen lassen muss (Springsteen ist eh ein wunderbarer Mundharmonikaspieler).

Nicht entscheiden kann ich mich bis heute, ob ich die auf „In Concert“ vertretene Version von „Atlantic City“ der vorziehen soll, die auf dem Album „Live in New York City“ enthalten ist. Ursprünglich stammt der Track von Springsteens erstem Soloalbum „Nebraska“ (1982), ein düsteres, nur von rauen, unerbittlichen Gitarrenklängen (und Springsteens Stimme) zusammengehaltenes Werk, auf dem ursprünglich auch „Born in the USA“ enthalten sein sollte – in einer ganz anderen, das Martialische des Textes viel eher betonenden Version (Ronald Reagan, der die Stadionrockversion des Titels 1984 für seinen Wahlkampf verwenden wollte und entsprechend anfragte (Springsteen sagte natürlich nein), hätte das bei dieser Version sicher nicht getan; 1995 veröffentlichte Springsteen sie auf der Kompilation „Tracks“).

Live wird „Atlantic City“ meist umarrangiert zu einer spannungsgeladenen Zelebration, zwischen Ausgelassenheit und Unterschwelligkeit pendelnd. Auf „In Concert“ geschieht das sanft, auf „Live in New York City“ brodelnd, eruptiv. Zwischen beiden Inszenierungen liegen acht Jahre, aber man hat das Gefühl, dass Springsteen auf „In Concert“ eine besondere Gelassenheit ausstrahlt, auf „Live in New York“ mitunter eher eine Angespanntheit (die aber manchen Song auch befördert, mit Ecken und Kanten versieht).

Auf „In Concert“ gelingt ihm alles leichthändig, im Kleinen, bei „Live in New York“ will er, dass ihm und der Band alles gelingt, das alles ganz groß ist. Bei Songs wie „Prove it all night“, „Out on the street“ und ganz besonders „Lost in the flood“, dieser Anti-Hymne auf die Schattenseiten der USA, die wie „Growin up“ von dem ersten Album stammt, ungeheuerlich und zerreißend, gelingt das. Bei anderen Songs wirkt diese Rasanz, dieses Drängen überdreht, nicht gut ausbalanciert, z.B. bei der dortigen Version von „Born to run“

Bis heute bin ich noch auf der Suche nach einer guten Live-Version von „Born to Run“. Weder die Version von „Live in New York City“, noch die von den frühen Live-Alben können mich vollends überzeugen. Es gibt eine unplugged Version auf „Chimes of freedom“, die die Intensität des Textes am besten widerspiegelt; außerdem eine Version von Melissa Etheridge – anlässlich der Kennedy Center Honors für Springsteen – die die Lebendigkeit des Songs, seine irre Dynamik einfängt.

Die ganze, intensive Kraft des Songs wird für meinen Geschmack am besten (abseits von Springsteens Studio Version versteht sich) in der Live Version des Songs „Springsteen“ von Erich Church (auf dem Live-Album „Caught in the act“) angedeutet; ein cooles Lied, eine wunderbar rockige Liebeserklärung an die Musik von Springsteen. Man findet den Track auch auf Youtube. – wenn man direkt zu der Stelle vorspringen will, die ich meine: sie fängt bei 05:04 an. Um nicht zu weit von Springsteen abzukommen: die Live Version aus dem Hammersmith Odeon und vom Main Point sind durchaus hörenswert.

Überhaupt: das sind zwei Live-Alben, die sich weniger in Tops und Flops gliedern, sondern durchweg eine großartige Show bieten. „Live at the Main Point“ stellt dabei die ganze Ausgelassenheit, das Konzert im Odeon die ganze Versiertheit der frühen E Street Band unter Beweis. Und beide Alben kann man nur als elektrisierend bezeichnen, von ihnen geht, finde ich, die wahre Suchtgefahr aus (während die meisten anderen Alben die Sucht, mehr oder weniger, befriedigen.)

Auf dem Main Point Album gibt es eine, herrlich café-süßliche Version von Bob Dylans „I want you“, eine endlos coole, blues-rappige Version von „The E Street Shuffle“ und die rührendste Version von „Incident on 57th Street“, nicht zu vergessen eine Interpretation von „Mountain of Love“, die einem direkt in die Beine fährt. Vermutlich kann man Springsteen auf diesem Album (und den Acoustic Broadcast Sessions, hier kann einen Springsteen erleben, der viel erzählt, nicht nur über die Songs, sondern über sich) am unbelasteten erleben, eins mit seiner Musik, wie auch oft später (vor allem seit den 2010er Jahren), aber nie so sehr wie hier.

Das Main Point Album wurde im selben Jahr aufgezeichnet, in dem „Born to Run“ erschien (1975) – der lang ersehnte Durchbruch für Springsteen. Auf den ein böses Erwachen folgte, als sich herausstellte, dass ihm die Rechte an seiner Musik nicht gehörten. Sein Manager hatte ihm einen Vertrag angedreht, der fast durchgehend nachteilig für ihn war; er wollte daraufhin unbedingt den Manager wechseln, konnte keine neuen Songs mehr schreiben, keine neue Musik aufnehmen und hatte es schnell Satz, um die Rechte an seiner Musik prozessieren zu müssen. (Nachlesen kann man über diese Zeit in dem Buch „Vom Außenseiter zum Boss: Als Bruce Springsteen sich seine Songs zurückholte“ von Philipp Hacker-Walton).

“Talk about a dream
Try to make it real
You wake up in the night
With a fear so real
Spend your life waiting
For a moment that just don’t come
Well don’t waste your time waiting
[…]
I believe in the love that you gave me
I believe in the hope that can save me
I believe in the faith
And I pray that some day it may raise me
Above these badlands”

Er überwand dieses Tief schnell und es folgte die produktive Phase in seiner Biographie. 1978 erschien „The Darkness in the edge of town“, vielleicht das vielseitigste Album, das Springsteen je gemacht hat, auf jeden Fall eines der unbequemsten, klügsten. Das Eröffnungslied „Badlands“ gibt es gleich in zwei großartigen Live-Versionen, die minimal bessere davon auf „Live in New York“, die andere auf „Live 1975-1985“. Es ist einer dieser Springsteensongs, der eine Form von Überwindung zelebriert, fordert, erhofft, die ich seitdem mit Rockmusik an sich verbinde, immer suche (nicht als einzige Qualität, aber als eine Qualität).

“And I’m driving a stolen car
On a pitch black night
And I’m telling myself
I’m gonna be alright
But I ride by night
And I travel in fear
In this darkness I will disappear”

Es gibt eine Szene in dem Film Prozac Nation (eine Verfilmung von Elizabeth Wurtzels gleichnamigen Buch, sehr lesens-/sehenswert), wo die Protagonistin über Springsteen schreibt, er sei wie ein „dichtender Automechaniker … wenn ich seine Lieder höre, habe ich Dunst in regennassen Gassen vor Augen… Liebende, die sich an den Händen halten… Dreck unter seinen Fingernägeln und Klarsicht in seinen Augen…er erzählt wie nebenbei, seinen Gitarre und seine Stimme aber zielen direkt auf das Herz…“

Das Autofahren, überhaupt das Wegfahren, Ausreißen, ist ein wichtiges Motiv in Springsteens Musik (und überhaupt in der amerikanischen Musik, eh klar). Ich erinnere mich, wie ich das zum ersten Mal verstand, als der Song „Stolen Car“ (von dem Album „The River“) auf sehr eindringliche Weise in der TV-Serie „Cold Case“ verwendet wurde (die Handlung dieser ganzen 11. Episode aus der dritten Staffel ist aus Springsteen-Songs zusammengebaut und von den entsprechenden Liedern untermalt). Ich weiß noch, wie ich danach eine ganze Nacht damit verbrachte, mir die Texte von Springsteen-Songs näher anzusehen/-hören – und wie ich mich bei einigen davon an eine Parabel von Kafka erinnert fühlte:

„Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitet der Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel«, fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Eßvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.«“

Es erscheint ein wenig lachhaft, aber ich finde, hier berühren sich der Prager Schriftsteller Kafka und der US-amerikanische Rockstar Springsteen. Es gibt noch andere großartige Songs übers Wegfahren, übers Herumfahren – zwei wunderbare ruhige und meditative sind „Drive all night“ und „Racing in the streets“, zu letzterem gibt es eine wunderbare Live Version auf „Live 1975-1985.“

Oft wird auf die sozialkritischen Aspekte von Springsteens Musik hingewiesen. Die Tracks 9-12 auf der zweiten CD von „Live 1975-1985“ sind ein sehr gutes Beispiel dafür. Drei davon („Nebraska“, „Johnny 99“ & „Reason to believe“) stammen von „Nebraska“ – heftige, sich unter die Fingernägel schiebende, tieftraurige Dystopien, Anklagen und Trauergesänge.
Das andere ist ein Lied von dem großartigen amerikanischen Liedermacher Woody Guthrie mit dem Titel „This land is your land“. Springsteen erzählt vorweg dem Publikum, dass er gerade dessen Biographie (von Joe Klein) liest – ein Buch, das ich ebenfalls sehr empfehlen kann. Der Song selbst ist, so Springsteen „one of the most beautiful song ever written“ und seine Live-Version bewegt entsprechend (und macht seine eher schwächliche Interpretation von Bob Dylans „The times they’re changin‘“ wett, die er anlässlich von dessen Kennedy Honorations verzapfte …).

Ich könnte ewig so weitermachen, will aber langsam zu einem Ende kommen. Also nur noch ein paar Streiflichter:

1. Songs, die ich als Studiotracks eigentlich nicht so mag, die aber live gut inszeniert sind:
„Im goin down“ (meine Live-Version ist ein Mitschnitt, den ich mal bei einem Springsteen-Radiosender mitgeschnitten habe, sie stammt vom Hard Rock Calling 2013).
„Working on the Highway“ (auch dies ein Mitschnitt, stammend von der Wrecking Ball Tour, London 2013)
„Tenth Avenue Freeze-Out“ (auf „Live in New York City“, enthält eine der großartigsten Ansprachen von Springsteen an sein Publikum – mit dem er über die Jahre immer mehr zusammengewachsen ist – und eine großartige(!) Vorstellung der Mitglieder der E Street Band)
„Tougher than the rest“ (auf „Chimes of freedom”, einfach nur Gänsehaut in dieser Version)
„I’m on fire“ (auf „Live 1975-1985“)
„Born in the USA“ (auf „Live in New York City“ in der düsteren, schlichten Version von der Kompilation „Tracks“)
„Adam Raised a Cain“ (von „Live 1975-1985)

2. Songs, bei denen ich gute Live-Versionen vermisse. Es sind einige, aber am meisten schmerzt es bei den Tracks „Thundercrack“ (ein sehr frühes Stück, unglaublich tolle Komposition von über 8 Minuten, ein Juwel) und „Wrecking Ball“, diesem mitreißenden Stück, das erst 2014 rauskam. Bei einem meiner absoluten Lieblingssongs von Springsteen, der unscheinbaren Serenade „Meeting across the River“, stört es mich wiederum nicht, dass es keine gute Live-Version gibt.

3. Auf das Album „Live in Dublin“ bin ich kaum eingegangen, aber nicht, weil ich es geringschätzen wollte. Es erscheint mir so zusammenhängend, dass ich kein Stück wirklich herausgreifen kann. Man erlebt hier einige Interpretation von Springsteen-Stücken, die einzigartig sind; die Session-Band, die auf dem Album mitspielt, ist keine Rockband, sondern mehr so etwas wie eine Folk-Bigband. Entsprechend besticht das Album nicht durch Wumms, sondern durch schöne Turbulenz, seine Elemente aus vielen Stilrichtungen. Es gibt ein Konzertalbum von Sting mit dem Titel „All this time“, auf dem er die meisten seiner bekannten Stücke ganz neu arrangiert – mit diesem Album ist „Live in Dublin“ vergleichbar (nur, dass das Publikum bei Sting kleiner ist, wie auch der Rahmen und dass bei „Live in Dublin“ die Ausgelassenheit eine größere Rolle spielt).

4. Coversongs, Duette. Es gibt so, so viele. Es gibt Aufnahmen von Springsteen mit Bob Dylan, Billy Joel, John Fogerty, Chuck Berry, Melissa Etheridge, Sting, U2, u.v.a.
Und Springsteen covert auf Konzerten regelmäßig Lieder von anderen Bands (ein paar seiner Favoriten sind The Clash, CCR, The Beatles), besonders gerne Rock’n’Roll-Klassiker. Hier zeigt sich auch immer wieder die Klasse der E Street Band, die anscheinend alles spielen kann. Ein paar meiner Lieblingscovers sind:
„You never can tell“ (ein Mitschnitt von einem Konzert in Leipzig 2013)
„I saw her standing there & Twist and Shout“ (mit Paul McCartney, Mitschnitt vom Hard Rock Calling 2012)
Nochmal „Twist and Shout & La Bamba“ (enthalten auf der CD „Released! The Human Rights Concerts – 1988“)
„London Calling“ (Original The Clash, auch Mitschnitt vom Hard Rock Calling, 2009, auch enthalten auf der DVD „Live in Hyde Park“)

5. Drei wunderbare Songs muss ich noch nennen, die auf dem Album „In Concert“ zu finden sind. Das ganze Album ist gut, aber diese drei sind „outstanding“: „Human Touch“ (der Titel sagt, worum es geht), „I wish I were blind“ (eines der besten Lieder über Eifersucht) und „If I should fall behind wait for me“ (eines der schönsten, zartesten Liebeslieder, mit einem Mundharmonikasolo vom Feinsten).

6. Noch drei großartige frühe Stücke von Springsteen: „Rosalita (come out tonight)“ (ein Stück von bahnbrechender Lebensfreude, beste Version auf „Hammersmith Odeon ’75) und die beiden schönen Balladen „Sandy“ und „Jersey Girl“ (ersteres auf der Hammersmith CD, das andere auf „Live 1975-1985“)

7. Und noch drei letzte Erwähnungen, die einen guten Abschluss bilden. Zum einen „Because the night“, das Springsteen zusammen mit Patti Smith schrieb und von dem es eine Live-Version auf „Live 1975-1985“ gibt (leider ohne Smith). Dann „American Land“, ein Immigrant-Song, der auf dem Studio Album „We shall overcome“ enthalten ist. Und last but not least: eines der schönsten Stücke von Springsteen, eine heilsame Hymne: „Land of Hope and Dreams“ – beste Live-Version auf „Live in New York City“.

Ich habe einige Konzerte von Springsteen besuchen können – wer es sich leisten kann, der sollte es einmal in seinem Leben tun. Es ist wirklich magisch. Die Live-Alben können das einfangen und wiedergeben, aber nicht zur Gänze. Ich habe mit völlig fremden Menschen getanzt, in einem Kreis in der Menge. Fast jedes Stück hat uns einander näher gebracht. Bei den Zugaben am Ende hatte sich längst dieses Gefühl eingestellt, dass man hat, wenn man sich gut aufgehoben fühlt. Ich hätte mich wohl bei einigen dieser Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht so schnell (oder überhaupt) gut aufgehoben gefühlt. Aber Springsteens Musik hat etwas Verbindendes, besonders auf Konzerten. Nicht nur, weil alle hier zusammengekommen sind, um derselben Band zuzuhören. Nein, es scheint in diesen Momenten wirklich so, als würde die Musik zwischen den Menschen für die Dauer des Konzertes ein Band knüpfen und durch dieses Band fließt die ganze Energie jedes einzelnen Liedes.

… diese Dinge, an denen man nicht nur teilhat, sondern die man so sehr mit sich herumträgt, leidenschaftlich, dass man sie sofort zückt, anbringt, wenn das Thema in die Nähe kommt. Bruce Springsteen gehört bei mir zu diesen Dingen, die mich in der Welt verankern. Es ist wohl so: das gilt für mich und viele andere nicht. Aber wenn ihr wollt: hört euch mal was an?

Zu Lisa Hallidays “Asymmetrie”


Asymmetrie, Halliday Es ist symptomatisch, veranschaulicht zusätzlich die im Rahmen dieses Buch angelegte Diskrepanz (oder Asymmetrie): der Fokus der meisten angloamerikanischen Besprechungen zu Lisa Hallidays Debüt lag beinahe ausnahmslos auf dem ersten Abschnitt des Buches, seinen Hintergründen und Umständen. Immer wieder wurden diese Hintergründe und Zusammenhänge heruntergerattert (und auf gewisse Weise schließe ich micht mit meiner Kritik daran diesem Trend leider an): Der erste Abschnitt beschreibt die romantische Affäre zwischen einem alten jüdischen Schriftsteller, der alle höchsten literarischen Ehrungen erhalten hat (außer dem Nobelpreis), und einer jungen Verlagslektorin in New York; man weiß: Halliday und der amerikanische Autor Philipp Roth hatten eine Beziehung miteinander als sie jünger war; Roth gefiel das Buch, er lobte es; Halliday betont, dass der größte Teil Fiktion sei. Ring frei für wilde Spekulationen oder ebenmäßige Erläuterungen. Schon konnte man meinen, das Buch enthalte nur diese Geschichte.
Das deutsche Cover präsentiert uns dementsprechend eine Skyline und auf dem Umschlagrücken steht:

Es beginnt mit einer Eiswaffel, auf einer Bank im Central Park.

Zwar wird weiter unten auch auf den zweiten Teil des Buches hingewiesen, der am Londoner Flughafen Heathrow und, in Rückblenden, im Irak und in Kalifornien spielt, aber ein flüchtiger Blick könnte den Eindruck vermitteln, hier handle es sich um eine New York-Geschichte, einen von der anderen Seite erzählten Philipp Roth-Plot. Da ich aber diesen ersten Teil tatsächlich für weniger gelungen halte – sowohl was die Figuren als auch was die Inszenierung angeht – wende ich mich zunächst dem zweiten Teil zu.

Amar wurde in einem Flugzeug, das gerade die USA überquerte, als Kind irakischer Eltern geboren. Wegen diese besonderen (und symbolträchtigen) Umstände, hat er beide Staatsbürgerschaften, die irakische und die amerikanische. Für ihn bleiben die Vereinigten Staaten das Land der Wahl, obgleich er wegen seiner Familie, vor allem wegen seines dort lebenden Bruders, nie den Kontakt zu dem Land seiner Abstammung verliert. Doch die Geschichte der irakisch-amerikanischen Beziehung im späten 20. Jahrhunderts ist, wie alle wissen, eine wechselhafte, letztlich desaströse. Am Anfang noch wird Saddam Hussein von den Amerikanern als Gegenpol zu der iranischen Revolution aufgerüstet, doch mit seinem Einmarsch in Kuwait und mit dem ersten Golfkrieg ändern sich die Gegebenheiten; und sie ändern sich wiederum als Saddam Hussein stürzt und mit ihm das Land, nämlich in noch größeres Chaos.

Als wir Amar begegnen, wird er gerade am Flughafen Heathrow festgehalten, ohne greifbaren Grund, vermutlich schlicht, weil er aus den USA kommt, Amerikaner ist, aber zwei Pässe hat, und gerade über die Türkei in den Irak einreisen will. Ein langes Warten beginnt, in dessen Verlauf Amar – angeregt durch die aktuellen Ereignisse, den Punkt an dem er jetzt in seinem Leben steht – an die Stationen seiner Lebensgeschichte zurückdenkt und in welcher Beziehung sie zu seiner doppelten Nationalität standen. Lisa Halliday gelingt (obgleich ich bei den vielen Zeitsprüngen nicht ganz mitgekommen bin und eine genaue Chronologie nicht nachzeichnen könnte) ein gut aufgefächertes Panorama, in dem sich unwillkürlich die vielen Facetten der US-amerikanischen Mentalität und der Unterschiede zur Mentalität im Nahen Osten auftun.

Auch sehr zugute halten muss man Halliday, dass sie aus Amar keinen Amboss macht, auf dem sie eine große Theorie über den Irakkrieg, die US-amerikanische Außen- und Einmischungspolitik und die Gefahren des 21. Jahrhunderts schmiedet. Die Figur und ihre begrenzte Perspektive, Amars ganz eigene Erfahrungen, stehen im Mittelpunkt; in dieser Perspektive, diesen Erfahrungen, spiegeln sich natürlich allerlei Ansätze von größeren Themen und Realitäten, die von einem Bild des modernen Irak bis zu den Wurzeln von Donald Trumps Repressionen gegen muslimische Bürger*innen reichen. Amars Lebensweg erscheint authentisch, mit allen Wendungen; die Geschichte seiner Familie, das darin schwingende Pendel zwischen USA und Nahost, wirkt gleichsam exemplarisch und individuell. Auch an der Art, wie Halliday Rückblenden und Gedankengänge sprachlich inszeniert, ist wenig auszusetzen – klug lässt sie die Unsicherheit und die Anspannung von Amar einfließen in die Struktur und den Verlauf seiner Überlegungen, seiner Erzählung.

Kurzum: Würde in diesem Buch nur diese Geschichte erzählt, es wäre nur 110 Seiten lang, aber es wäre eine beeindruckende menschliche Studie, ein gelungenes Porträt. Aber alles beginnt ja auf einer Parkbank im Zentralpark.

Während ich die Beschaffenheit der asymmetrischen Komponente im zweiten Teil für sehr vielschichtig und komplex halte, wirkt sie im ersten Teil geradezu plump: hier wirkt nichts wirklich asymmetrisch. Was trennt die beiden „ungleichen“ Liebenden, den Starschriftsteller Ezra Blazer und die Juniorlektorin Alice, anderes als das Alter? Nun will ich keineswegs behaupten, dass eine Geschichte über Liebende grundverschiedenen Alters nicht interessant sein kann oder ein alter Hut ist. Nichts Menschliches ist ein alter Hut und wenn jemand (oder eine ganze Gesellschaft) von etwas übersättig ist, dann hat das ebenso viel mit der Nachfrage zu tun wie mit dem Angebot.

Mir geht es also in Bezug auf diesen ersten Abschnitt nicht nur um die mangelnde Innovation. Er wirkt einfach trocken und nicht gut inszeniert, uninspiriert, scheint sich von einer Szene zur nächsten zu hangeln, als müsste die Autorin die 150 Seiten-Marke erreichen. Als Einwand könnte geltend gemacht werden: aber vielleicht geht es ja genau darum, um eine ungeschönte Darstellung, das Unaufgeregte, den Alltag eines Paares, dessen Alter weit auseinander liegt. Mag sein. Aber ich möchte dann schon verstehen, wie dieses Paar emotional ineinander verwickelt ist. Ich möchte die Figuren im Spiegel ihres Umgangs kennenlernen. Beides passiert nicht. Stattdessen laviert das Buch vor sich hin, in Sätzen und Szenen, die wohl Symptomatisches, Doppelbödiges enthalten und Zwischenräume lassen sollen, aber einfach nur wie zu dünn aufgetragen, zu baufällig gezimmert wirken. Dialoge wie dieser sollen vielleicht knapp und gleichsam hintergründig wirken, sparsam und feingliedrig:

Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug die goldene Medaille vom Weißen Haus, die er an den Griff gebunden hatte, laut klappernd gegen die Tür. Alice ging wieder zum Bett.
„Liebling“, sagte er. „Ich kann kein Kondom tragen. Niemand kann das.“
„Okay.“
„Was machen wir dann wegen Krankheiten?“
„Na ja, also ich vertraue dir, wenn du …“
„Du solltest niemandem vertrauen. Was, wenn du schwanger wirst?“
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich würde abtreiben.“
Als sie sich später im Bad wusch, reichte er ihr ein Glas Weißwein durch die Tür.

 

Aber sie wirken stattdessen unausgereift, apathisch manchmal, wie ohne Hintergrund und Inhalt, wie eine Hülle. Ich erfahre zwar alles Mögliche über die beiden Figuren und was sie miteinander machen, wie sie leben – aber ich erfahre nichts über sie; es gibt keinen Moment, wo sie heraustreten aus ihren Beschreibungen, dreidimensional werden.

Ist das die Asymmetrie? Hier die Oberfläche einer Liebesgeschichte, die Neurose der amerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts adaptierend und glättend, und auf der anderen Seite die Tiefe einer menschlichen Psyche, zerrissen zwischen der Dominanz der US-amerikanischen Lebensweise auf der einen und den Auswirkungen dieser Dominanz auf der anderen Seite? Gut, das taugt was, als großes Bild, aber es macht diese erste Geschichte nicht besser, nicht lesenswerter. Vor allem nicht als Fiktion. Als autobiographischer Bericht (wie einst die Geschichte von Joyce Maynard über ihre Zeit mit J. D. Salinger) würde diese Story vielleicht noch etwas hergeben. So wirkt sie zahm, lahm, allzu glatt, ohne wirkliche Einfühlungsmöglichkeiten, ohne Reiz.

Auch als Liebeserklärung an den Autor Philipp Roth oder sein Schreiben, kann man diesen ersten Abschnitt nicht gelten lassen – diese Absicht ließe sich am ehesten im dritten, kürzesten Teil finden. Dieser dritte Abschnitt ist ein Interview mit Ezra Blazer, bei dem er über seine Lieblingsmusik sprechen soll, wie sie seine Biographie begleitet und geprägt hat. Dieser dritte Teil ist gelungen und obgleich Blazer auch hier ein bisschen wie ein Platzhalter wirkt und ganz klar als Figur auftritt, ist doch sehr viel mehr Leben in diesem kurzen Abschnitt als auf den ganzen ersten 150 Seiten.

Fazit: Ja, Lisa Halliday ist eine gute Autorin, aber die ersten Seiten ihres Debüts wirken bemüht und etwas einfallslos; sie wagt viel zu wenig. Die Chance, die in der Darstellung einer solchen Beziehung aus weiblicher Perspektive liegt, lässt sie ungenutzt verstreichen und bringt fahrlässig wenig von den Emotionen und der Persönlichkeit ihrer Protagonistin ein. Der zweite Teil ist wie gesagt beeindruckend, bestechend. Der dritte ein schöner Schluss, elegant. Hätte man den ersten Teil um 100 Seiten gekürzt oder anders inszeniert, wäre es ein tolles Buch geworden. Wobei der Titel „Asymmetrie“ immer noch ein wenig hochgegriffen wirken würde, den dafür kommunizieren Teil 1 und 2 einfach zu wenig und selbst die oben angesprochene Idee stellt die Teile zwar einander gegenüber, aber verknüpft sie nicht wirklich miteinander. Das Ungleichgewicht ist ein ästhetisches, kein konzeptionelles.

Zu Joan Didions Essays in “Sentimentale Reisen”


Sentimentale Reisen Joan Didion ist neben Susan Sontag wohl die bekannteste amerikanische Essayistin des 20. Jahrhunderts. Oft ist sogar von einem besonderen Didion-Stil die Rede, dessen Abklatsche sich in vielen amerikanischen und europäischen Zeitungsbeilagen, Blogs und anderswo finden.

Auf ihre Essays trifft tatsächlich die Wendung „par excellence“ zu. Über lange Strecken gelingen ihnen umfassende Darstellungen und doch sind sie auf kleinster Ebene noch Auslotungen, freie Radikale, sie fügen viele Dinge zusammen und brechen sie unverhofft wieder auf. Es sind denkende Gebilde, die nicht nur um ein bestimmtes Thema kreisen, sondern die Darstellung Zeile für Zeile erweitern, zu einem neuen Aspekt vorstoßen, viele Töne anschlagen.

In „Sentimentale Reisen“ sind Texte versammelt, die zwischen 1982 und 1992 geschrieben wurden. Den Reagan-Jahren (und den Jahren seines Vize-Präsidenten Bush sen.), eine Zeit des Kapitalbooms, der deregulierten Märkte, des neuen Aufflammens der US-amerikanischen Interventionspolitik. Jahre, in die das Ende des kalten Krieges fällt, aber von denen auch die starke Prägung der letzten Verschärfungen dieses Konflikts geblieben ist.

Warum sollte man, wenn man von einem Interesse am Historischen absieht, diese Essays im Jahre 2018 noch lesen? Aus zwei einfachen Gründen: zum einen, weil die Texte eine wichtige Lehrstunde in Diversität sind, im Aufbrechen von Oberflächen, in Vielschichtigkeit. Didions Sprache ist ein Prisma, das den schönen Schein – zusammengesetzt aus Hörensagen, vereinfachter Darstellung und schematischem Denken, Zeitungsgebrüll und bequemen Versatzstücken – bricht und auffächert, das Farbspektrum dekodiert.

Zum anderen, weil das heutige Amerika in vielerlei Hinsicht ein Produkt jener Zeit ist, die Didion beschreibt. Ihre Berichte aus Washington (das Buch ist in drei Teile unterteilt, die „Washington“, „Kalifornien“ und „New York“ heißen) über die Mentalität der Leute in Reagans Weißem Haus, die Inszenierung einer Reise von Bush sen. in den Nahen Osten und den Parteitag der Demokraten, auf dem Bill Clinton zum demokratischen Kandidaten gekürt wurde, gewähren einen guten Einblick in das gleichsam vital-glänzende und innen marodiert-chaotische, hyperbolische Räderwerk des US-amerikanischen Politik- und Gesellschaftsverständnisses und dessen Praxis.

Ihre Essays über Ereignisse und Themen aus Kalifornien (die am meisten Platz einnehmen), präsentieren sehr anschaulich die Westküstenmentalität und veranschaulichen überdies, fast nebenbei, die Diskrepanz zwischen den Staaten/Gebieten in den USA, auf zu weit voneinander entfernt Formen von Lebenswirklichkeit (die letztlich auf eine Vereinzelung der Staaten hinausläuft). Mit scharfer Feder legt sie offen, wie sehr die Vorstellungen der US-amerikanischen Gesellschaft von unbewusst mitgetragenen Legenden und Mythen, betonierten Mentalitäten und medialen Schablonen geprägt sind. Natürlich trifft letzteres auf viele nationale Gesellschaften zu, aber bei der US-amerikanischen im hohen Maß, was das Angesicht dieses Landes (und seiner Probleme) nach wie vor entscheidend prägt, ebenso die Haltung seiner (weißen) Bevölkerung.

Eine sentimentale oder falsche Legende über die disparate und oft zufällige Erfahrung zu stülpen, die das Leben einer Stadt oder eines Landes ausmacht, bedeutet notwendigerweise, dass vieles von dem, was in dieser Stadt oder in diesem Land geschieht, lediglich illustrierend wiedergegeben wird, als eine Reihe von Versatzstücken oder Gelegenheiten zur Selbstdarstellung.

Das wird noch einmal sehr deutlich im letzten Text „Sentimentale Reisen“, dem einzigen Text im Kapitel „New York“. Ausgehend von einem Überfall im Central Park, bei dem eine Joggerin vergewaltigt und fast totgeschlagen wurde, sowie dem anschließenden Prozess, entwirft sie Stück für Stück ein Panorama der New Yorker Wirklichkeit und zeigt die Stadt als misslungenen Schmelztiegel, in dem weder von Aufstiegschancen, noch von kultureller Durchdringung die Rede sein kann. Es ist eine Stadt mit klaren Hierarchien, deren (fast ausschließlich weiße) Bildungs- und Wirtschaftselite immer wieder das Lied von der widerständigen und einzigartigen Bevölkerung der Stadt anstimmt, damit aber eine bestimmte Gemeinschaft meint und bestimmte Viertel, die schon vor Jahren quasi aufgegeben wurden, gar nicht miteinbezieht.

Dieser letzte Text zeigt eine Gesellschaft, die hinter ihrem selbstdarstellerischen Pathos von immer größer werdenden gesellschaftlichen Gräben auseinandergerissen wird; die eine glorreiche Oberfläche pflegt, die schon nach wenigen Schritten zu knacken beginnt, wenn man darüber geht. Didion knackt diese Oberfläche, zerbricht sie, bis aus den einzelnen Splittern Spiegel werden. Darin und darunter kommen Mentalitäten und Realitäten zum Vorschein, die die Vorläufer von Trumps-Amerika und ein paar der Grundursachen für die Probleme der Vereinigten Staaten sind.

Trotzdem bleiben es natürlich 25-35 Jahre alte Texte. Sie bilden sehr viel ab, aber sie können dadurch ihr Alter nicht gänzlich verstecken. Sie sind lesenswert, als literarische Werke und historische Dokumente. Die Aktualität, die darin liegt, ist subtiler Natur.

Zu Mascha Kalékos Gedichtband “Verse für Zeitgenossen”, neu aufgelegt bei dtv


Verse für Zeitgenossen besprochen beim Signaturen-Magazin.de

STILL #5, Literaturzeitschrift in Berlin/New York, besprochen


auf fixpoetry.com

Zu Sylvia Plaths: Die Glasglocke


  „Ich schloß die Augen.
Es trat eine kurze Stille ein, wie ein Atemanhalten.
Dann kam etwas über mich, packe und schüttelte mich, als ginge die Welt unter. Wii-ii-ii-ii-ii schrillte es durch blau flackerndes Licht, und bei jedem Blitz durchfuhr mich ein gewaltiger Ruck, bis ich glaubte, mir würden die Knochen brechen und das Mark würde mir herausgequetscht wie aus einer zerfaserten Pflanze.
Ich fragte mich, was ich Schreckliches getan hatte.“

So erlebt Sylvia Plaths Protagonistin Esther Greenwood ihre erste Elektroschocktherapie in einer besseren Irrenanstalt. Sie ist vom Leben abgeschnitten und war es schon vorher, als sie noch im Getümmel von New York als Stipendiatin lebte. Schon dort fühlt sie sich wie unter einer Glasglocke gefangen, die in einem eintönigen Leben vor sich hin schaukelt, ohne einen echten, tiefen Ton hervorzubringen. Ehe oder Karriere als Dichterin? Esther ist begabt, sie ist klug und eigentlich auch rebellisch. Aber sie leidet unter den Verunsicherungen, die die moderne Welt für uns alle bereithält, sie leidet an den Fragen und Meinungen, zwischen denen sie aufgerieben wird; sie ist wie der Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er vor dem Fressen herausfinden will, unter welchem Haufen jenes Ding namens Glück liegt.

Sylvia Plaths einziger Roman ist die Geschichte einer fortschreitenden Entfremdung, eines Gefangenseins und des Kampfes dagegen. Die Protagonistin ahnt, dass sie in der Welt und den gesellschaftlichen Konventionen gefangen ist, aber sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie nicht doch in ihrer Persönlichkeit, ihrem Körper gefangen ist. Befreiung? Kommt die mit der Liebe, dem Sex, der Selbstverantwortung, dem Zerschlagen der Illusionen, der zynischen Weltsicht, dem Verweigern, dem erhaben sein über die Dinge und Menschen? Esther probiert alles aus, halbherzig meist. Die Rückschläge verstärken die Entfremdung. Es ist, als wäre die Welt nicht für sie gebaut. Oder sie nicht für die Welt. Wo liegt die Dysfunktion: im Apparat oder in dem, der ihn bedient?

„Ich wusste genau, dass die Autos Geräusche machten, auch die Menschen in ihnen und hinter den erleuchteten Fenstern in den Häusern machten Geräusche, und der Fluß machte Geräusche, aber ich konnte nichts hören. Flach wie ein Plakat hing die Welt in meinem Fenster, glitzernd und funkelnd, aber was ihren Nutzen für mich anging, so hätte sie nicht da zu sein brauchen.“

Plaths Roman ist eine schwer zu verdauende Wucht; sprachlich kann er immer wieder mit sehr gelungenen Bildern aufwarten, die oft einen bestimmten Moment (und die Schatten, Gedanken, die er aufwirft) perfekt einfangen. Als Lesende/r ist man wie gefangen in Esthers Gedanken und Versuchen, man wird Teil der um sich kreisenden Psyche.

Und doch: streng genommen fehlt dem Roman etwas: eine Story. Schnell merkt man beim Lesen, dass es der Autorin um die Auslotung und Vervollständigung von Esthers Unsicherheit, ihres Lebensleides, ihres euphorischen Überdrusses ging und nicht darum, eine Geschichte über sie zu erzählen. Das macht das Buch sprachlich nicht weniger eindrucksvoll und die Erfahrungen darin nicht weniger zwingend und in ihren Zuspitzungen epiphanisch und erschreckend. Esther kreist um sich selbst, sie kann gar nichts anderes sein als eine Protagonistin ihres eigenen Kummers, ihrer eigenen Weltgeworfenheit. Denn diese Weltgeworfenheit ist das Thema des Buches und sie ist kaum irgendwo so deutlich geschildert und verdichtet worden.

Obwohl ich selten ein Buch so bewerben würde, es ist tatsächlich die beste Art, seine Bedeutung hervorzuheben: es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte. Um Gefühlswelten besser zu verstehen. Um zu begreifen, dass Enge vorherrscht, wo man sie nicht vermutet. Dass Wahnsinn nicht unbedingt im Geist des einen, sondern im Leben der vielen liegen kann. Und Angst zwar etwas Irrationales ist, aber wie einen Unterschied machen, wenn auch die Welt – und was sie für einen bereithält – einem irrational erscheint?

„Mir fiel auch ein, wie Buddy Willard einmal in düster wissendem Ton gesagt hatte, wenn ich erst Kinder hätte, würde ich anders denken, dann würde ich keine Gedichte mehr schreiben wollen. Deshalb überlegte ich mir, dass es vielleicht wahr sei, dass Heiraten und Kinderkriegen wie eine Gehirnwäsche war und dass man nachher nur noch benebelt herumlief, wie ein Sklave in einem totalitären Privatstaat.“