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Zu Denis Schecks “Kanon”


Schecks Kanon Wieder jemand, der unbedingt mit einem Kanon auf Spatzen schießen will oder besser gesagt: auf die Zugvögel, die die Menschen heute sind, ziehend von Eindruck zu Eindruck und wenig interessiert am Verweilen vor dem Buch, geschweige denn dem Klassiker, was immer das jetzt wieder sein soll? Dennis Scheck ist aber schon mal so clever nicht von „dem“ Kanon, sondern lediglich von seinem eigenen zu reden und überzeugt im Vorwort durchaus mit hehren Absichten.

Weder will er, so schreibt er dort, sich in Geschmacksfragen verirren und wichtige Bereiche der vielfältigen literarischen Landkarte dabei unterschlagen, noch will er es sich nehmen lassen, vor allem und allein seine Lieblinge auszustellen. Klingt schon sehr nach der Quadratur des Kreises, doch am Ende von Schecks Liste mit 100 Büchern sieht das, was sich da entfaltet hat, tatsächlich sowohl einem Kreis als auch einem Quadrat nicht unähnlich.

Denn in der Tat berücksichtigt er in seinem Kanon nicht nur viele Autorinnen, sondern auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“ und Ngũgĩ wa Thiong’os großartiges Werk „Der Herr der Krähen“, „Omeros“ von Derek Walcott, Sei Shonagons „Kopkissenbuch“ und einige andere Bücher aus nicht westlichen Kontexten. Zusätzlich bricht Scheck noch Lanzen für ausgewählte Vertreter verschiedener Genres, darunter Comic (Tim und Struppi, sowie Donald Duck), Fantasyroman (Herr der Ringe), SciFi (Ursula K. Le Guin) und Kinderbuch (Karlsson vom Dach) (wobei er auch anmerkt, das Unter-Genres ihm meist eh wenig einleuchten).

In Summe ist dann aber doch sehr viel Klassisches dabei: „Die Odyssee“, „Faust“, „Krieg und Frieden“, „Verbrechen und Strafe“, Ovid, Shakespeare, Flaubert, Cervantes, Kafka, Proust, etc. – mal geht Scheck diese Klassiker durchaus erfrischend an, manchmal durchaus gebräuchlich. Trotzdem gibt es genug zu entdecken und Scheck kann immer wieder mit charmanten und anschaulichen Darstellungen punkten, manchmal verzettelt er sich aber auch und der Text dreht sich etwas zu wenig um das Buch selbst und etwas zu viel um etwas anderes, das Scheck erzählen will (überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Qualität der Texte gegen Ende etwas abnimmt).

Von James Tiptree Jr. über Hypatia bis zu Lu Xun gibt es dennoch, wie gesagt, einiges Neues zu entdecken und manche Klassiker werden durch Scheck auch anschmiegsamer, klingen lesenswerter, spannender. Zu einigen Büchern wird man unweigerlich greifen wollen, andere kann man vielleicht endgültig ad acta legen. Letztlich ist dieses Buch vor allem ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, einem großen Buchfreund beim frei von der Leber-Reden zuzuhören.

Zu Italo Calvinos “Warum Klassiker lesen?”


Warum Klassiker lesen Italo Calvino war eine mannigfaltige und einzigartige Autorenpersönlichkeit. Man begegnet ihm an den unterschiedlichsten Orten – etwa in einem Buch über italienische Comickultur und in einer Agentenserie, in der ein männlicher Protagonist eines seiner Bücher im Flugzeug liest, dann aber auch in Studien zum metaexperimentellen und postmodernen Roman – und seine Werke stehen in den unterschiedlichsten Kontexten – in der Tradition von Oulipo, aber auch in der Tradition des italienischen Furioso und des magischen Realismus borgesker Prägung, der Widerstandsliteratur und einigen anderen – und aufgrund seines frühen Todes wird er gerne als verhinderter Nobelpreisträger genannt.

Viele seiner Bücher sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre und erfreuen sich einer breiten Leser*innenschaft. Gleichzeitig sind sie oft unendlich komplex, was mit ihrer spielerischen Art auf einzigartig-verfängliche Weise in Zusammenhang steht. Calvino war ein großartiger Romancier und ein heiter-melancholischer Geschichtenerzähler, ein Tüftler und ein Metaphysiker.

Über sein eigenes Werk hinaus hat sich Calvino als Leser und Theoretiker einen Namen gemacht. Sein nur wenige Jahre vor seinem Tod publiziertes Werk „Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft“ legt davon ebenso Zeugnis ab wie die nach seinem Tod publizierten Harvard-Vorlesungen, die er nicht mehr halten konnte („Sechs Vorschläge für das nächste Jahrhundert“) und dieses Buch „Warum Klassiker lesen?“ mit Aufsätzen und Essays zu Büchern und Autoren.

Wer glaubt mit diesem Buch einfach nur auf eine weitere Leseanleitungssammlung zu den klassischen Texten gestoßen zu sein, der/die wird womöglich eine Überraschung erleben, wenn er/sie ein paar Seiten darin gelesen hat. Vielleicht wird er/ sie auch frustriert sein.
Denn zum einen Kreisen Calvinos Betrachtungen oft um Texte, die man als Klassiker nicht unbedingt auf dem Zettel hat (oder zumindest nicht als klassische Bücher von durchaus klassischen Autoren (leider sind es auch nur Bücher von männlichen Autoren)) und zum anderen kann man seine Ausführungen nur als „sprunghaft“ bezeichnen, so schnell saust er manchmal von Motiv zu Motiv oder klappt mit einem Mal eine ganze Gedankenpalette zu einem Gegenstand auf, die einem durch ihr dringliches Auftrumpfen mit allerlei Begriffen und Ideen schnell entgleitet und davonzurollen droht.

Dies klingt zunächst nach einer mühsamen Lektüre und es wäre auch ein Akt des Beschönigens, würde man Calvinos Essays als zugänglich und wohlstrukturiert bezeichnen. Dafür haben sie aber andere, furiose Qualitäten, die teilweise ihrem Chaos entspringen.
Zum einen zeigen sie auf nachhaltige Weise, wie komplex die Plots, Figuren und Motive von so unterschiedlichen Klassikern wie der Odyssee, Candide oder den Werken Raymond Queneaus sind, wie weit man sie in viele Richtungen denken kann. Er schildert diese Bücher nicht nur als große Geschichten, die man kennen sollte, sondern als Zugänge zur Welt, in denen Archetypen, wertvolle Vorstellungen und Problematiken das Licht der Welt erblickten, die uns jetzt, hier und heute, mehr denn je um die Ohren fliegen, sich in manchen Konflikterscheinungen und in vielen Darstellungen festgesetzt haben. Es gelingt ihm die ganze Besonderheit von vielen Autoren und ihren (oft unbekannteren) Werken hervorzukehren, umständlich manchmal, aber letztlich bestechend.

Denn die Texte sprühen zum anderen vor Begeisterung. Manchmal ein bisschen zu viel und hoch, das man fast die Augen abwenden muss. Aber das Gute daran ist: es geht ja auch nicht darum, ein Buch wirklich erklärt zu bekommen (dazu reichte ein Essay ja nicht aus), sondern darum, einen Eindruck zu bekommen und im besten Fall einen Initiationsmoment zu erleben, der einen dazu bringt, das Buch selbst zu lesen. Und dafür sind diese Texte mehr als geeignet, gerade weil sie vielleicht nach ein paar Sätzen schon übersprudeln und man sie nicht zu Ende liest – derweil man trotzdem fasziniert ist von dem Bild des Buches, das Calvino schon in den wenigen Zeilen skizziert und illuminiert hat.

Nicht alle Texte aus diesem Buch sind lesenswert. Manche sind bestimmten Lieblingsbüchern von Calvino gewidmet, die wohl kein/e andere/r Leser*in, vor allem nicht ohne Kenntnis des Italienischen, so begeistert lesen wird. Dafür gibt es Texte (bspw. zur Odyssee, zu Denis Diderot, zu Charles Dickens und Mark Twain), die wirklich großartig sind, ungeordnet und überladen, aber eine Reise wert, die vielleicht keinen Ursprungsgedanken verfolgt oder ein klares Ziel vor Augen hat, aber die pure Freude am Entdecken und Beobachten der vielen Stärken und Einzigartigkeiten der Bücher zum Ausdruck bringt und damit die Bedeutung und Schönheit dieser Facetten hervorhebt.

Keines von Calvinos Büchern ist leichte Kost, aus unterschiedlichen Gründen. Aber wer Bücher sucht, die einen etwas aufhalten, aber dabei auch zu ganz vielen Anregungen führen, zu Rätseln und kleinen Offenbarungen, denen Aberwitz und Nachdenklichkeit innewohnen und die einem vieles im gleichen Moment erzählen, der wird hier fündig werden – in diesem Buch und im ganzen Werk von Italo Calvino.

 

Zu Kazuo Ishiguros “The buried giant”


The buried giant Raymond Queneau hat einmal angemerkt, dass jedes Buch letztlich eine Ilias oder eine Odyssee sei – die Geschichte eines Konflikts oder die Geschichte einer Reise. Man sollte solche Verallgemeinerungen natürlich nicht unhinterfragt übernehmen, sonst fängt man bald an, alle Realien so zu verdrehen, dass sie zu diesen Verallgemeinerungen passen; was auf einem Gebiet wie der Literatur meist auf Polemiken und vereinfachte Darstellungen hinauslaufen würde.

Trotzdem entsann ich mich dieses Ausspruchs von Queneau, als ich nach der Lektüre von „The buried giant“ darüber nachdachte, wie ich die Struktur des Buches veranschaulichen könnte. Denn letztlich hat Kazuo Ishiguro hier ein Buch geschrieben, das ganz und gar eine Odyssee ist. Nicht nur, weil eine Reise im Zentrum steht, sondern weil dahinter der Schatten einer Ilias lauert; einer Ilias, deren Auflösung erst in dieser Odyssee erzählt wird (was viele nicht wissen: das trojanische Pferd kommt in der Ilias nicht vor, sondern erst in einer in die Odyssee eingeflochtenen Rückschau). Auch in der Verquickung von phantastischen, metaphysischen, mythischen und realistischen Vorgängen und Ereignissen, gleichen sich die Odyssee und „The buried giant“.

Das Buch spielt in den Dark Ages der Britischen Insel, als mehrere Volksstämme nach dem Abzug der Römer und in Zeiten der Völkerwanderungen um die Vorherrschaft und die Siedlungsräume auf der Inseln konkurrierten. Bevor Angeln und Sachsen schließlich fast die ganze Region des heutigen „England“ eroberten, leisteten die ansässigen Britannier wohl eine Weile ernsthaft Widerstand – in diesem Konflikt liegen auch die Wurzeln der Sagengestalt König Artus, der in den frühsten Geschichten ein britannischer König ist, der den Angelsachsen die Stirn bietet.
Es gibt keine Chroniken und nur wenige gesicherte Fakten und Aufzeichnungen über diese Zeit, die dem groben Rahmen der Völkerkonflikte klarere Dimensionen verleihen könnten. Hier setzt Ishigruo mit seinem Mix aus Imagination, historischem Anstrich und Mythenkosmos an.

Im Zentrum steht das Ehepaar Axl und Beatrice, Britannier, die aus ihrem Heimatdort aufbrechen, um ihren vor langer Zeit verlorenen Sohn zu besuchen. Oder zu finden. Haben sie überhaupt einen Sohn? Warum fällt es ihnen so schwer sich an einfachste Dinge zu erinnern? Was ist damals geschehen, in dieser Zeit, an die niemand sicher erinnern kann.

Von Anfang an liegt ein undurchdringlicher, unbehaglicher Nebel auf dem Geschehen und man ist als Leser*in fast versucht, verärgert zu sein über die Unklarheiten in den Gedanken der Protagonist*innen, ihre scheinbare Einfalt, ihre vagen Aussagen und Erinnerungen.

Mit der Zeit begreift man (oder: muss akzeptieren), dass das Ganze Methode hat. Es kann einen natürlich immer noch nerven, in dieser Hinsicht lässt sich nichts beschönigen: Ishiguros Roman verlangt von seinen Leser*innen, dass sie dranbleiben, dass sie sich in denselben Nebel und dieselbe Unklarheit wie seine Figuren hüllen, nur langsam vorankommen und den (fast immer ungemein höflichen) Gesprächen lauschen, um hier und dort einen Blick auf eine mögliche, vielleicht auch vermeintliche Erkenntnis zu erhaschen, Stück für Stück in die Hintergründe vordringend, die sich nicht mit einem mal, sondern mit vollendeter Behutsamkeit entfalten. Diese Behutsamkeit und ihre letztendliche Entfaltung erinnern am Ende an die unterschwellig elektrisierende Behutsamkeit der Geschichte von „Never let me go“, die sich ebenso langsam offenbart, allerdings weniger mühsam voranschreitet, weniger mühsam zu lesen ist.

Axl und Beatrices Reise führt sie mit einigen wenigen Gestalten zusammen, die meist dem festen Figurenensemble angehören, in dem sich alle Konflikte abspielen und das die Reise, mal getrennt, mal vereint, bestreitet. Gemeinsam und jeder für sich werden sie, scheinbar in Bestimmungen verwoben, immer wieder neu zueinander positioniert. In einer Welt, die voller übernatürlicher Gefahren ist, Menschenfresser, Kobolde und Drachen, deren essentiellste Bedrohung aber trotz allen mystischen Schrecken immer noch von der menschlichen Verworfenheit ausgeht.

Daniel Kehlmann hat in seiner Rezension in der FAZ darauf hingewiesen, dass Ishiguros Buch letztlich ein Roman über das Vergessen ist, für und wider abwägend. Ich behaupte (ohne Kehlmann, dessen Rezension ich für gelungen und kompakt halte und deren Eingangspassage ich nachdrücklich unterstreichen will, zu widersprechen), dass es ein Roman über sehr viel ist, Unzähliges. Gerade weil dieser Roman so langsam voranschreitet und so wenig Zeit und Raum auf offensichtliche Handlungen, Aussagen und Ansichten verwendet, dahinfließt in fast schon unverfänglich anmutenden, mitunter leicht willkürlich erscheinenden Episoden, gelingt es ihm, so viele Motive unterzubringen, die sonst nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren könnten, weil sie nach einer Forcierung verlangen oder um Aufmerksamkeit und ihren Platz als Spannungselement konkurrieren würden.

Es geht um Katastrophen, es geht um das Alter, es geht um die Gewissheit der Liebe, es geht um Rache, es geht um das Elend, es geht um das Schicksal, um die Frage nach Gut und Böse, um neuerzählte/-gedeutete Mythen, um Gerechtigkeit und Willkür. Und immer mehr Worte will ich anreihen, belasse es aber bei diesen, die mir zuerst eingefallen sind. Und habe schon Angst, zu große Erwartungen zu wecken, die ja der Feind jeder unverstellten Lektüre sind.

Also: warum ist dieses Buch so lesenswert?

Die einfache und für manche (ganz gleich, ob sie es (an)gelesen haben oder noch nicht gelesen haben) wohl unbefriedigende Antwort ist: Weil es großartige, feinmaschige Literatur ist. Ich behaupte, dass es keine einzige überflüssige Szene, keinen einzigen überflüssigen Dialog gibt; ja, dass, sobald man eine Szene streichen wollen würde, erkennen würde, wie viel die karge Handlung, die jovialen und sich dann doch zuspitzenden Gespräche, über die Figuren und die Themen, um die alles kreist, aussagen – vor allem, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, als Teil des Kosmos, den das ganze Buch webt. Diese Bedeutungsebenen nimmt man zunächst nicht wahr, während man – auf einen deutlichen Fingerzeig, das Eintreten einer klar ausgerichteten Narration wartend – die Szenen an sich vorbeiziehen lässt. Aber im Nachhinein fällt einem auf, wie noch in der kleinsten Szene vieles nachhallt und aufblitzt, das Große und das Kleine, die Weltgeschicke und das Individuum betreffend.

Diese Erfahrung macht man nicht häufig, behaupte ich. Natürlich wird es deswegen nicht zum Buch für jede/n Leser*in. Wem also schön (und darin manchmal auch umständlich) arrangierte und sich nur langsam offenbarende Prosa eher nicht zusagt, der sollte vielleicht die Finger von diesem Buch lassen. Er bringt sich aber, dies auch als Warnung, letztlich um eine Erfahrung, die an der Oberfläche nicht immer bestechen mag, letztlich aber unverhältnismäßig tiefe Abdrücke in einem zurücklässt, ohne dass man sagen kann, wann sie Gelegenheit hatte, in diesen Winkeln der eigenen Seele herumzuwandern.

Liebesgeschichten, Geschichten von Krieg und Schuld, von Mythen und Monstern, sie sind oft episch, lodernd, heischend. Ishiguro gelingt mit „The buried giant“ das Kunststück, all dies zu vermeiden und trotzdem über jedes dieser Themen zu schreiben, leibhaftig, innig, und ihre Dimensionen anzudeuten, aufzurufen. Der anfängliche Vergleich mit Homers großer Dichtung mag vermessen sein und letztlich greift er auch im Detail nicht. Denn Ishiguros Roman ist vielleicht eine Saga, die ihre stärksten Momente aber nicht in großen Geschichten und Ereignissen bündelt, sondern in Gesten, Erwähnungen und Unwägbarkeiten aufbewahrt. Dort also, wo alles Menschliche und Zwischenmenschliche letztendlich sitzt und entspringt – auch wenn es oft von dort aufbricht, um Weltgeschichte zu schreiben, zu errichten und vernichten. Letztlich liegt es dort und nirgendwo anders.

 

Umfassende Gelehrsamkeit in Erich Auerbachs Essays


Die Narbe des Odysseus Erich Auerbach – nach der Lektüre des Bandes bereue ich, diesen Namen nicht schon vorher gehört und nicht früher mit seinen Schriften Berührung gekommen zu sein. Das gemächliche und dabei umfassende Verständnis, das seine Prosa verströmt, die gediegene und doch sehr einfache Heranführung an bedeutende Sachverhalte und literarische Momente, der federleichte Witz, der eigentlich kein Witz ist, sondern eher so etwas wie Nachsicht, eine gewisse Behutsamkeit im Angesicht des Schönen, Besonderen – dies alles zeichnet Auerbachs Essays in diesem Band aus.

Auch einige Briefe sind abgedruckt, jeweils eingeleitet durch eine Darstellung der Beziehung zur angeschriebenen Person und die Umstände des Briefes. Enthalten sind Briefe an Thomas Mann, Walter Benjamin, Victor Klemperer und andere Weggefährten und Freunde.

Kernstück des Bandes ist in jedem Fall der Essay „Die Narbe des Odysseus“, nicht nur wegen dessen Länge, sondern auch weil er eine der gelungensten Analysen von literarischerer Strukturanalyse und dramaturgischem Aufbau darstellt, die ich bisher gelesen habe – ohne dabei entkernend oder erschöpfend zu wirken. Neben diesem Meisterstück gibt es Texte zu Montaigne und Proust, Giambattista Vico, sowie Dante & Vergil, wobei letzterer ebenfalls dazu geeignet ist, Faszination für einen alten Klassiker der Literatur zu wecken.

Wie viele andere Gelehrte musste Auerbach Mitte der 30er Jahre aus Deutschland emigrieren, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung seinen Lehrposten aberkannt bekam. Er ging nach Istanbul, wo er den Krieg über blieb und sein Hauptwerk „Mimesis“ schrieb, und danach in die Vereinigten Staaten.
Die Einleitung von Matthias Bormuth stellt diesen Lebensweg umfassend dar und gibt auch eine Einführung in Auerbachs Werk und Denken.

Wieder einmal legt der Berenberg Verlag mit diesem Buch ein Schmuckstück, einen kleinen kulturellen Schatz vor; es ist eine Freude, diese Bücher zu lesen und sie in der Hand zu halten. Im Fall von Erich Auerbach ist es eine philologisch-intelligible, fein-humanistische Freude.

Zu Paul Austers “Im Land der letzten Dinge”


Rezension zu Paul Austers “Im Land der letzten Dinge”

“Some say the world will end in fire,
Some say in ice.
From what I’ve tasted of desire
I hold with those who favor fire.
But if it had to perish twice,
I think I know enough of hate
To say that for destruction ice
Is also great
And would suffice.”
Robert Frost

Dystopien sind, obgleich in der erzählenden Literatur keine völlig unbekannte Größe, nach wie vor eine seltene Erscheinung – wenn man davon absieht, dass große Teile der in Werken des Sci-Fi-Genres geschilderten Zustände als Dystopie durchgehen können, je nachdem, wie man sie auslegt, einfach, weil ein Blick in die Zukunft, der nicht konsequent utopisch ist, auch immer besorgniserregende Entwicklungen und daraus resultierende Effekte, die von Ansätzen unserer heutigen Zeit ausgehen, mit einbeziehen muss. Furcht und Argwohn sind die mächtigsten Triebfedern, die uns in ferne Zukünfte (vor allem abseits unserer eigenen Lebensspanne, mit Blick auf das Schicksal der Menschheit insgesamt) blicken lassen.

Ist eine Dystopie also konsequent eine Warnung, da sie, ganz gleich ob sie als Ich-Geschichte erzählt werden vermag, stets eine Geschichte von uns allen ist, die wir die Dystopie, die der Autor der Geschichte entwirft, nicht verhindert haben? Kann ein Roman über solch ein Thema überhaupt etwas anderes sein, als eine Betrachtung bereits vorhandener/aufkommender gefährlicher Aspekte, Ansätze und Probleme, mit den Mitteln der Vorausschau in ihren Ausformungen verdeutlicht? Ja, denn mit “Im Land der letzten Dinge” hat Paul Auster, wie schon Albert Camus mit “Der Pest” (diese Bücher gleichen sich zwar nicht in festzumachenden Punkten, aber ihre Idee, die existenzialistische und schlichte Form, ist durchaus verwandt) ein Beispiel für eine andere Art von dystopischer Erzählung vorgelegt: plastisch und sehr menschlich, in Verlorenheit noch von Gefühlen sprechend und meist näher an der Wirklichkeit des Menschen als an der Wirklichkeit der dystopischen Welt: Paul Auster ist in diesem Werk nicht mehr und nicht weniger als ein spannender Roman über die conditio humana in einer endzeitlichen Welt gelungen.

Man darf sich dieses Buch gar nicht so sehr metaphorisch, sondern als sehr greifbar vorstellen. Eine Theorie oder Botschaft mithilfe eines Romanhelden, der in die ungeheuerlichen Systeme eines dystopischen Staates oder einer solchen Welt gerät, zu forcieren ist die eine Sache, aber das ist nicht Austers Anliegen. Er geht in seinem Buch über den Rahmen hinaus, nutzt seine Imagination des Landes der letzten Dinge nicht, um eine Parabel oder eine Warnung zu präsentieren. Ihn interessieren schlicht die Folgen, eine vielfältige Idee des Überlebens in so einer Welt – ja, ihn interessiert die Frage nach Überleben/Existieren überhaupt. Was brauchen wir zum Leben? Liebe, Besitz, ein Ziel, Hoffnung, eine Arbeit, Ordnung, Sicherheit? Alle diese Aspekte werden während des Romans einmal auftauchen, sind aber in die Geschichte der Überlebenden, die einen Brief (pro forma, eigentlich ist es kein Brief, weil sie ihn nicht abschicken kann) an einen Freund in Europa schreibt (die dystopische Region/Stadt liegt in Amerika), eingewoben, werden von ihr gelebt und nicht schematisch angebracht.

“Manchmal denke ich, wenn es die Dunkelheit nicht gäbe und die seltsamen Nächte, die sich über uns senken, würde der Himmel ausbrennen. Die Tage enden zwangsläufig genau dann, wenn die Sonne die von ihr beschienen Dinge ausgelaugt zu haben scheint. Nichts wäre der Helligkeit mehr gewachsen. Die ganze unglaubhafte Welt schmölze weg, und damit hätte es sich.“

Desto barer die Existenz, umso mehr treten wesentliche Züge des Menschen, im Miteinander und allein, hervor. Natürlich Misstrauen, Zorn und Überlebenswille, aber, und das schildert Auster schlicht und doch wahrhaftig, auch Emotionen wie Liebe, das Staunen über Umgebung, Naturschauspiele und die erhöhte Wahrnehmung für die Geschehnisse. Es gibt keine Ablenkungen mehr, weder Fernsehen, noch Unterhaltungsshows – selbst das Schreiben eines Buches wird zur reinen Existenzverdeutlichung, ebenso wie der Beischlaf. Diese Details fängt Auster ein. Überhaupt ist er beim Beschreiben seiner Welt sehr auf einen Ausgleich zwischen Erlebnis und Information bedacht, was wiederum die Ich-Erzählerin glaubwürdiger macht, da beide Beweggründe ihrer Niederschrift dadurch hervortreten: Bericht/Dokumentation einerseits und das persönliche Ausdrucks-/Mitteilungsbedürfnis andererseits.

“Was mir merkwürdig vorkommt ist nicht, dass alles in die Brüche geht, sondern dass so vieles sich erhält. […] Vielleicht ist das die interessanteste Frage von allen: was geschieht, wenn nichts mehr da ist, und ob wir auch das überleben oder nicht.”

Austers Buch ist teilweise unentschlossen, in vielen Passagen sehr einfach, nie übermäßig soghaft oder spannend, aber gerade deswegen unerhört glaubwürdig. Es ist immer gefährlich, einen Ich-Erzähler sprechen zu lassen und ebenfalls nicht unbedenklich, dem ganzen Buch die Form eines Briefes zu geben. Doch während Auster sich von letzterer Eingrenzung nichts diktieren lässt, hat er die Problematik des Ich-Erzählers mit seiner nahen und uncharakterisierten Erzählweise in Luft aufgelöst. Wir sind stets im Geschehen, wir sehen diese Welt mit den Augen der Erzählerin. Da ist kein auffälliger Komponist im Hintergrund, der unsere Blicke auf die wesentlichen Konflikte und Problematiken lenkt – sowohl wichtiges, als auch scheinbar unwichtiges wird berichtet, betrachtet, erwähnt und skizziert, im Gefühl, in der Wahrnehmung der Protagonistin. Wir lernen, was es heißt, in ihrer Welt zu leben, die Fragen dieser Welt zu stellen, die Mechanismen dieser Welt (am eigenen Leib) zu erfahren, die Emotionen dieser Welt zu spüren, ihre Wirklichkeit zu ahnen. Das ist sicherlich nicht die ultimative Auslegung eines dystopischen Romans – aber in jedem Fall ist es ein kleines Meisterwerk erzählerischer Tradition, das ich nur empfehlen kann.

Austers “Leviathan”


Der Leviathan ist eigentlich ein Ungeheuer aus der Mythologie des Zweistromslandes, eine riesige Wasserschlange, mit biblischer Zerstörungskraft. Bekannter und für die westliche Geisteswelt von größerer Bedeutung ist jedoch das, nach diesem Ungetüm benannte, Buch aus dem 17. Jahrhundert (Der Leviathan), geschrieben von dem Mathematiker und Philosophen Thomas Hobbes. Es ist ein politik-/staatsphilosophisches Werk, der Form und dem Grundwesen nach ähnelt es dem Buch Der Fürst von Machiavelli oder Rousseaus Gesellschaftsvertrag – genau wie diese ist es weniger eine konkrete Ausarbeitung eines Staatsapparates, als vielmehr eine Abhandlung über der menschlichen Natur und wie der Staat (also die Gemeinschaft der Menschen) dieser Natur in seinen Mechanismen und Aufgaben Rechenschaft zollen muss. Hobbes sah den Menschen als ein sehr düsteres Wesen, das stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und eigentlich nicht für ein Zusammenleben geeignet ist. Deswegen muss der Staat, als allmächtiger Leviathan (in der Mythologie kann kein Mensch die Macht des Leviathan brechen) dafür sorgen, dass seine Instanz die Menschen und ihre Natur stets kontrolliert und sie davon abhält, übereinander herzufallen. Dazu sind dem Staat kaum Beschränkungen auferlegt, solange die Sicherheit gewahrt bleibt und Chaos, Anarchie und Verbrechen vermieden oder zumindest bestraft werden können. Dies wird von Hobbes nicht nur als Notlösung, sondern als höchste ideele Möglichkeit des Staates angesehen.

Es ist interessant wie viele Künstler sich auch danach noch mit dem Leviathan-Motiv beschäftigt/es aufgegriffen haben. Julien Green zum Beispiel (Leviathan) und Joseph Roth. Aber auch Arno Schmidt hat eine seiner wichtigsten Erzählungen nach dieser doppeldeutigen Idee benannt. Dabei ist den Texten von Schmidt und Green eigen (den von Roth kenne ich leider nicht), dass sie nur sehr unkonkret auf das Phänomen, das ihren Werken den Titel gab, eingehen – oder anders gesagt: nur der Titel schafft die Verbindung zwischen der Idee des Leviathans und dem Text, obwohl sie dann ganz offensichtlich oder zumindest naheliegend ist. Überhaupt hat diese Idee, in abgewandelter, libertinärer Form, etwas sehr modernes, in Zeiten des Internets, des organisierten Terrorismus und solchen Gesetzen wie dem Patriot Act, etc.

Paul Auster ist bisher der letzte große Autor, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, obwohl bei ihm der Titel während und nach der Lektüre schon fast als ein Rätsel auftritt, als etwas Nebulöses, schon beinahe unkenntlich gemacht. Das mag enttäuschend sein, aber nur wenn man konkrete Erwartungen hegt. Und das Paul Auster aus so einem Motiv keinen hochgestochenen Verschwörungsthriller, sondern eine zutiefst ambivalente, menschliche Geschichte gemacht hat, ist ihm letztlich sogar hoch anzurechnen. Dadurch wirkt das Buch zwar manchmal auch etwas unentschlossen und nicht gerade zielstrebig, was aber wiederum zu der Geschichte passt.

Trotzdem sei dies schon mal klar in den Raum gestellt: Wer nicht in die Beschaffenheit/Welt eines Buches, mit all seinen Abzweigungen, Änderungen am Grundthema und dem Verschieben der Perspektiven, eintauchen kann, ist mit diesem Werk wahrscheinlich schlecht beraten. Dabei ist es nicht mal ein sonderlich kompliziertes Buch. Aber, und dies hat auch mit den fiktiven Begleitumständen der Niederschrift des Berichtes, aus dem das Buch besteht, zu tun: es ist ein eher unordentliches, nicht gerade lineares Werk – bewahrt sich dadurch allerdings eine stille, dem Leben angeglichene Authentizität.

Wie nicht selten bei Auster beginnt das Buch mit einer Ausgangslage, die das ganze spätere Werk auf gewisse Weise prägt, weil sie im Kern Form und Rahmen der ganzen Erzählung bereits festlegt. In diesem Fall ist es der Anfang eines Bekenntnisses oder eines Berichts, beginnend mit den Worten: “Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.” Ein Satz wie Dynamit. Und doch auch sehr rätselhaft; schon dieser erste Satz wirft einen Schatten über das ganze Buch. Es folgt, wider erwartend, keine reißerische, bunt gefächerte, sondern die zutiefst menschliche und erstaunlich wendungsreiche Geschichte eines Lebens, das zwischen Glück und Niedergang einen seltsamen Weg beschreitet und in dem das Schicksal einen raubbauhaften Einfluss betreibt. Das Buch und die Geschichte legen sich wenig fest, verändern oft die Prioritäten, haben ein-zwei Längen – und sind doch am Ende fast grandios.

Ein guter Roman baut einen Sog auf, dem man sich nicht mehr ganz entziehen kann – bei der (potentiell und zumeist) längsten literarischen Gattung, die wir kennen, ist das ja auch irgendwie überlebenswichtig. Dennoch ist der Sog unterschiedlich; bei einigen Büchern tritt er sofort zu Tage, bei anderen ist er kaum vorhanden, liegt weniger in der Spannung der Geschichte, dem Sturm der Ereignisse und offenen Fragen, als vielmehr in einer hartnäckigen Neugier, die das Geflecht und die Windungen des Romans bis zum Ende gehen will, die alles Erleben will, was der Roman in seiner inhärenten Beschaffenheit für sie bereithält. Leviathan ist ein Roman von letzterem Kaliber. Man darf das jetzt nicht so verstehen, dass er langweilig ist. Aber seine innere Konsequenz bleibt bis zum Schluss zum Teil im Dunkeln, beinah bis zur letzten Seite ist sie nicht ganz offensichtlich. Darin liegt wiederum der große Reiz des Romans: Man weiß nicht, wo er einen hinführt. Ein Zug, der ihn auf eine beinahe morbide Art lebendig macht.

Es gäbe sicherlich noch viel zu sagen, noch viel was eine Erwähnung wert wäre. Das Ende z.B., das auszudeuten bleibt, aber auch die vielen Grauzonen (Dinge aus zweiter Hand, Widersprüchliches) die unauffällig den Roman immer wieder begleiten (und zuletzt noch Austers ewiges Thema: der Zufall, der auch die Manifestierung des Leviathans sein könnte) – das alles ist nicht ganz festgelegt und lässt das Werk in seinen Dimensionen gleichsam wachsen und verschwinden. Doch was man ihm nicht absprechen kann, dass sind ein Gesamtkonzept, welches alles andere als uninteressant ist und eine unaufdringliche Klasse, die man während des ganzen Buches spüren kann. Wie gesagt, wenn ein wenig Geduld mit ihm hat, kann Auster einen immer wieder überraschen und in seinen Bann schlagen, auch in diesem Werk. Man muss sich darauf einlassen – oder eben nicht.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen