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Zu Brautigans letztem Roman “Ende einer Kindheit”


Ende einer Kindheit

Ich wusste an diesem Nachmittag noch nicht, dass die Erde darauf wartete, in nur ein paar Tagen wieder zum Grab zu werden. Es ist schlimm, dass ich die Kugel nicht mehr in der Luft packen und sie wieder in den Lauf der 22er Flinte zurückstecken konnte, damit sie sich wieder den ganzen Lauf hinunter bis in die Kammer zurückschraubte und sich von selber wieder an der Hülse befestigte, so als wäre sie nie abgefeuert, noch nicht einmal ins Gewehr geschoben worden.

Mit diesem unheilschwangeren Bekenntnis beginnt der letzte abgeschlossene Roman Richard Brautigans. Im Englischen trägt er den Titel „So the wind won’t blow it all away“, eine Wendung, die immer wieder, am Ende von längeren Abschnitten, gleich einer Phrase, wiederholt wird.

„Ende einer Kindheit“ markiert noch einmal eine leichte Veränderung in Brautigans Romanästhetik und es ist reizvoll sich vorzustellen, welche Richtung sein Schreiben eingeschlagen hätte – doch sein Freitod 1984 beschloss dies Werk, eines der schillerndsten unter den Oeuvres des 20. Jahrhunderts.

Das anarchische Element, das in diesem Werk immer präsent gewesen war und zusammen mit einer unaufhaltsamen Poesie und einer leichten Albernheit ein Pendant zu dem schwermütigen Frohsinn, Brautigans Grundstimmung, geboten hatte, löst sich in diesem letzten Buch fast vollständig auf. Eine Art von Liebe und ein noch so banales Streben nach Glück, das Brautigans Protagonisten zumeist für sich zu beanspruchen versuchen, trotz aller Widrigkeiten, hier schrumpft beides auf ein paar fast schon makabre Kleinigkeiten.

Die Sonne hatte sich verändert, sie war nicht mehr langweilig, sondern war jetzt, während sie tiefer sank, interessant geworden, und sie würde bald im Sinken die ersten Türen des Abends öffnen, und der Wind hatte sich gelegt, so dass der Teich ruhig und still dalag wie schlafendes Glas.

Trotzdem ist „Ende der Kindheit“ kein bitteres Buch. Es ist eine melancholische Suche nach der verlorenen Kindheit und eine unverstellte Auseinandersetzung mit dem Tod. Der Ich-Erzähler hat schon als Fünfjähriger von seinem Kinderzimmer aus auf das Bestattungsinstitut gegenüber geblickt und die vielen Beerdigungskolonnen beobachtet, die Trauergäste und die Särge. Auch ansonsten erzählt er im Rückblick vor allem von den Begegnungen aus seiner Kindheit, die aus unterschiedlichen Gründen mit dem Tod endeten. Bis zu dem Tag im Apfelhain, an dem er den Tod noch unmittelbarer erlebt hat.

„Ende der Kindheit“ ist ein trauriges Buch, keine Frage, und jedes kleine Funkeln Witz und Irritation darin erinnert nur von fern an den ausgelassenen, ideensprühenden Autor von „Ein konföderierter General aus Big Sur“ oder der genialen Erzählsammlung „Der Tokio-Montana-Express“. Nachdem er u.a. den Western, den erotischen Roman und die Gothic-Novel, sowie das Detektivheft durch den Kakao gezogen und gleichsam wunderbar adaptiert hatte, zog sich Brautigan in seinem letzten Buch auf eine sehr einfache, autobiographisch wirkende Ebene zurück und versuchte die verstörende Dichte der Kindheit und die verstörende Dichte des Lebens festzuhalten. Ein Schimmer der alten Genialität blieb und floss in solche Betrachtungen ein:

Der Mann hielt eine Flasche Bier in der Hand, die er ganz sachte in einer klaren Linie zum Mund führte, um einen Schluck zu trinken. Rembrandts Linienführung hätte nicht sparsamer und nicht direkter sein können.

Für solche Bilder lernte ich Brautigan zu lieben. Während der Lektüre seines letzten Buches begriff ich aber auch wieder, was mich zusätzlich zu ihm hinzog: seine hoffnungslose, geradezu närrische, aber auch sehr feinfühlige Suche nach Wundern, nach Harmonie und Erfüllung, in allem, in jeder Kleinigkeit, jedem Ereignis, das uns widerfährt, jedem Moment, der uns betrifft, egal ob banaler oder phantastischer Natur. Brautigan versuchte stets den Dingen Euphorie, Schönheit und Bedeutung beizumessen, einzuimpfen, die oftmals eine solche Behandlung gar nicht verdient zu haben schienen.

Doch dieser Eindruck trog und trügt uns weiterhin. Denn die ganze Wirklichkeit ist ein einziges Wunder, das wir nicht auf uns hinunterplätschern oder in uns hinein- und durch uns hindurchziehen lassen – es muss auf uns einstürzen oder flach und unbewegt vor uns liegen, sonst nehmen wir es nicht wahr.

In den Zwischenräumen und an den Scheitelpunkten all unserer Leben wird uns die Frage begegnen: Was hätten wir anderes machen können, was können wir anders machen? Diese Fage wird uns die Gegenwart dehnen, über die wir sonst so leichtfüßig, auf dem Weg in die Zukunft hinwegsteigen. Für Brautigans Protagonist ist ein Weg in die Zukunft versperrt durch die eine Sekunde im Apfelhain, in der er die Kugel nicht mehr in den Lauf drücken konnte, derweil der Abgrund der Vergangenheit überall liegt. Er hätte damals einen Hamburger kaufen können, aber er tat es nicht.

Stattdessen ging ich über die Straße in das Waffengeschäft und kaufte mir eine Schachtel 22er Munition. Der Hamburger hatte verloren. Das Geräusch, das bei der Produktion von faulem Apfelmus entstand, hatte gewonnen.

 

Schöne Depressionslektüre – zu “Ein konföderierter General aus Big Sur”


Ein konföderierter General aus Big Sur Was kann man noch lesen, wenn gar nichts mehr geht? Zugegeben eine eher unangenehme, unschöne Frage. Aber sicher keine abwegige.

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk schrieb über seine Thomas Bernhard-Lektüren, die ihm vor allem in depressiveren Zeiten geholfen hätten. Ein Freundin von mir spricht oft davon, dass man, wenn gar nichts mehr geht, nur noch Kafka lesen kann – dann könne man die Schwelle in Kafkas Schreiben und Denken erst richtig begreifen und sich mit seinem eigenen Abgrund auseinandersetzen, sich hineinstürzen ohne wirklich zu stürzen. Michel Houellebecq beschreibt ausführlich, dass ihm H.P. Lovecrafts Antiwelteinstellung immer eine perverse Art von Trost gegeben habe. Ein anderer Freund empfahl mir, bei Traurigkeit Cioran zu lesen, was vielleicht ein Witz war, vielleicht auch nicht.

Ich selbst habe immer nur vier Dinge lesen können, wenn gar nichts mehr ging: Douglas Adams Hitchhikers Guide, Mascha Kalékos Gedichte, Susan Sontags nachgelassene Texte aus „Zur gleichen Zeit“ und Richard Brautigans Gedichte und Romane. Im Prinzip sind auch dies (wie alle erwähnten Beispiel oben) Werke voller Hoffnungslosigkeit (und darin mitunter voller Hoffnung, denn die gehört, obgleich das Wort es zu verschleiern sucht, zur Hoffnungslosigkeit dazu).
Mascha Kalékos Melancholie und Bitterkeit, die Worte eingefärbt von ihrem traurigen Schicksal. Adams turbulent-phantastischer, brillanter Versuch eines heiteren Zynismus. Sontags entfaltetes, großartiges Denken, gefangen im Bild, in den Grenzen ihres Sterbens. Und Richard Brautigans Romane, Utopien ohne Halt, der Wirklichkeit entfremdet und ohne Chance, ihr zu entgehen, immer im Versuch etwas schöner, etwas besser zu sein als sie, ohne sie zu verlassen.

1964 erschien dieser erste seiner Romane, über zwei Freunde, die versuchen im Kalifornien der 60er Jahre über die Runden zu kommen. Beide sind sie so etwas wie Tunichtgute, Allerweltsverlierer, meist nur auf der Suche nach etwas zu essen, einer netten Frau, einem Drink. Im ganzen Roman geht es eigentlich nur darum, wie sie versuchen zu überleben und ein erträgliches Dasein zu haben, der Trostlosigkeit ein Schnippchen zu schlagen, mal hier, mal dort. Brautigan würzt diese Versuche mit einer Menge unprätentiöser, poetischer Komik und Szenen voller improvisiert wirkender und unschlagbarer Vergleiche und Beschreibungen wie diesen:

“Die Nacht kam herein und borgte sich das Licht. Sie hatte sich zuerst bloß für ein paar Cent Licht geborgt, aber jetzt borgte sie sich jede Sekunde Licht für Tausende von Dollars. Das Licht würde bald weg sein, die Bank geschlossen, die Kassierer arbeitslos und der Bankdirektor ein Selbstmörder.”

“Sie lachten beide. In Elizabeths Stimme war eine Tür. Wenn man die Tür aufmachte, fand man noch eine Tür, und wenn die Tür offen war, noch eine andere Tür. Die Türen waren alle hübsch und führten aus ihr hinaus.”

Diese Passagen schweben über dem Text, in ihnen entkommt man, mit einem erstaunlich freien Lachen und Staunen, für einen Moment der ganzen Schwere, die im Leben liegt (aber auch im Text, im Erzählen, im Denken, etc.) und der das Lebendige entgegenzuwirken versucht. Und es ist dies Lebendige, das in Brautigans Gedichten und Romanen immer wieder durchkommt, in seinen Erzählungen und Kurzprosastücken. Als wollte er eine neue Faszination der Welt begründen und doch von den ganz einfachen Dingen sprechen, drehen sich seine Romane um außergewöhnliche, aber eigentlich ganz unspektakuläre Momente, die sich aneinanderreihen, in immer neuen, meist kurzen Kapiteln aufziehen. Zwischen Märchen und bitterem Ernst, Gelassenheit und Abgrund.

Mit Brautigan kann man an der Welt zugrunde gehen und gleichzeitig ihre ganze, absurde Schönheit betrachten, ihr alles entgegenhalten und nichts. Deswegen kann man sie wohl noch lesen, wenn eigentlich gar nichts mehr geht. Weil die Welt darin still steht und doch in jeder Facette funkelt wie eine Discokugel. Sie zeigen das Leben wie es ist: absurd schön und trotzdem größtenteils ein Ort, an dem das, was man braucht (zu brauchen glaubt) und das, was man hat, nicht zusammenkommt, weswegen man ohne Ende dabei ist, dieses Zusammenkommen zu ermöglichen.