Liechtenstein (nicht zu verwechseln mit Luxemburg): ein kleiner Staat zwischen Österreich und der Schweiz mit ca. 38 000 Bewohner*innen, ein Fürstentum, um präziser zu sein, nur halb so groß wie Bremen und doch wichtiger Finanzumschlagplatz, u.a. Heimat der LGT Bank – und bei Benjamin Quaderer Geburtsort eines Protagonisten von traurigem Schicksal. Sein Name: Johann Kaiser.
Mit Franz Kafkas Josef K. hat dieser Protagonist nicht nur die Initialen gemein, er scheint auch ebenso glücklos bei der Abwendung unschöner Anschuldigungen zu sein (und sein Lebensweg führt auch ihn auf die Suche nach Gerechtigkeit, deren Fehlen ihn seines freien Lebens beraubt; ein Prozess wird ebenso eine Rolle spielen); der Nachname Kaiser ist eine weiteres Element mit Hintersinn, ist er doch auch ein Titel, der höchste Adelstitel, höher sogar als der des Fürsten (von Liechtenstein), der im Verlauf von Johann Kaisers Abenteuern noch eine entscheidende Rolle spielen wird, ebenso wie das Liechtensteiner Stiftungswesen, Wohnungen in Barcelona und ein Kriminalpsychologe von zweifelhafter Professionalität.
Soweit die Appetitanreger, von denen Quaderer selbst einige über den Text verstreut. Manchmal wirken sie etwas heischend, sind aber folgerichtig, immerhin ist das ganze Buch eine Niederschrift Johann Kaisers, der sein eigenes Leben anhand von Aufzeichnungen und Erinnerungen schildert und seine Sicht auf die Dinge ist bestimmt von der Gegenwart, in der er sich im Zeugenschutzprogramm befindet und in kleinen Aspekten der Kindheit und Jugend schon Vorboten der Ereignisse sieht (oder sie zumindest in Relation dazu einbettet), die dieses Dasein zur Folge haben sollten.
Auf der einen Seite ist das Buch ein relativ geradliniger Entwicklungsroman, der mich dann und wann ein bisschen an William Boyds „Eines Menschen Zeit“ erinnert hat; auf der anderen Seite ist er gespickt mit jeder Menge stilistischen Kniffen, vielen Anspielungen und einer manchmal hintergründigen, dann wieder vordergründigen Komik, bei der ich mir nie ganz sicher war, inwieweit sie dominantes Element und inwieweit sie Beiwerk sein soll (eine irritierende, aber durchaus auch faszinierende Erfahrung, die ich wiederum, allerdings auf andere Weise, aus den Werken Kafkas kenne).
Quaderer erprobt in verschiedenen Kapiteln verschiedene Erzähltöne und -perspektiven und andere verfremdende Elemente, z.B. sind in manchen Abschnitten Stellen geschwärzt, in einem Kapitel werden die Geschehnisse parallel aus zwei Blickwinkeln erzählt – der eine Strang auf den Seiten mit den geraden, der andere auf den mit den ungeraden Seitenzahlen.
All diese innovativeren Elemente, die manchmal wie eine Spielerei, manchmal wie ein gelungenes Vehikel wirken, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Quaderer es ein bisschen scheut, sich mit dem Innenleben seines Protagonisten, abseits des Nötigten und zu Erwartenden, auseinanderzusetzen. Zwar lässt sich das formal dadurch erklären, dass alle Erlebnisse vom Protagnisten selbst beschrieben und dadurch unter einem bestimmten Gesichtspunkt gedeutet werden, verzerrt durch die Fixierung auf die Folgen, das letztendliche Ergebnis. Trotzdem bleibt der Protagonist (dessen Geschichte, zumindest in den letzten Teilen, auf die alles hinausläuft, wohl auf dem wahren Fall des „Datendiebs“ Heinrich Kieber beruht) blass, ja, an manchen Stellen mutet die Schilderung seines Lebens ein bisschen wie eine lockere Farce oder Parodie an, unterlegt mit gefühligen Molltönen – nicht selten werden große Emotionen behauptet, ohne dass ich als Leser diese wirklich nachempfinden (wenn vielleicht auch nachvollziehen) kann.
Anders gesagt: Quaderer lässt Kaiser vieles erleben, darunter Freundschaft, Liebe, Schmach und Gewalt, baut ihn aber dennoch von Anfang als Unglücksrabe, als schräge Figur auf, und in der Rolle bleibt er, durch alle Hochs und Tiefs, irgendwie (wiederum ähnlich wie Kafkas Romanprotagonisten, deren vermeintlichen Triumphen und Hoffnungen immer gleich der Rückschlag folgt und die auch relativ undefiniert bleiben). Wiederum: dies mag formal folgerichtig sein, denn als Unglück sieht Kaiser sein Schicksal selbst an und trägt diese Überzeugung in seine eigene Biographie hinein, macht sie zum roten Faden.
Aber obgleich folgerichtig, macht diese Entscheidung das Buch – abseits davon, dass es sehr unterhaltsam ist und ich es gern gelesen habe – nicht zu einer wirklich nachhaltigen Erfahrung; Kaiser bleibt mir nicht als Person im Gedächtnis, sondern als Figur, ich baue keine Beziehung zu ihm auf. Vielleicht ist es auch kein Buch, das derlei Identifizierung möglich machen will – aber dafür kehrt Kaiser dann und wann seine Gefühl doch etwas zu kräftig heraus. Auch das kann man wiederum formimmanent erklären, aber … es bleibt das Gefühl, das etwas fehlt.
Dennoch: man kann durchaus den Hut ziehen vor Quaderer und seinem dicken Roman, bei dessen Lektüre ich mich nie wirklich gelangweilt habe (wobei ich mich durch das eine Kapitel in Tansania echt durchkämpfen musste, da war die stilistische Abweichung zum Rest meiner Meinung nach zu groß – nicht generell, aber im Kontext des Buches). Vielleicht geht es ja auch nur mir so und andere Leser*innen werden ruckzuck warm mit Johann Kaiser. Und sonst bleibt immer noch eine schöne Reise, mit vielen Schauplätzen rund um den Globus, manch komischen und manch irritierenden Einfällen und einem PageTurner-Feeling das Hand in Hand geht mit manchem literarischen Hochgenuss. Und ganz zum Schluss muss man halt auch sagen: es ist ein Debüt. Und dafür ist „Für immer die Alpen“ schon ziemlich beachtlich, in vielerlei Hinsicht.