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Zu Julia Ebners “Wut”


Wut Wir leben einer Zeit der kumulativen Extreme (und des kumulativen Extremismus), einer Zeit also, in der verschiedene (radikalisierte) Ansichten und Krisenfälle sich gegenseitig aufschaukeln und die Fronten verhärten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, die in den meisten Fällen ihre Wurzeln in der verschleppten Auseinandersetzung mit (oder der Nichtbeachtung von) den Folgen technologischer und historischer wie geopolitischer Veränderungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche haben.

Die Einmischung der USA und ihrer Bündnispartner in das (dadurch fast gänzlich zerstörte) Mächtegleichgewicht im Nahen Osten (bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den Rohstoffen dieser Region) und generell das postkoloniale (aber nicht postkapitalistische und damit nicht wirklich postkoloniale) Chaos, hat in den letzten Jahrzehnten und Jahren zu Dynamiken geführt, die Bürgerkriege, Fluchtbewegungen und zusätzliche Verheerungen zur Folge hatten. Gleichzeitig bröckelte das scheinbar im kalten Krieg errungene „westliche“ Machtmonopol und der Kapitalismus (und mit ihm die Globalisierung) befindet sich wegen seiner neoliberalen Zuspitzungen endgültig in einer schweren Krise, die Mitteleuropäer*innen nur deswegen so wenig zu spüren bekommen und verleugnen können, weil sie im Auge des Sturms sitzen und immer noch glauben, sie könnten agieren, obgleich sie nur noch reagieren.

Aber eigentlich spüren auch wir diese Krise, die eine ökonomische und ökologische Krise ist und eine Herausforderung, der sich die Menschheit längst geschlossen gestellt haben müsste. Was hält sie davon ab? Hauptsächlich der Glaube, man müsste immer noch den Kuchen verteilen, obwohl es längst darum geht, dass vielleicht bald keine Zutaten mehr da sind. Albert Camus unheilvolle Diagnose, dass menschliche Geschichte ein Kampf um Privilegien und nie wirklich die Suche nach einer einheitlichen Vision war und ist, lebt fort.

Als Analystin bei der Londoner Extremismusbekämpfungsorganisation Quiliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde, war es mein oberstes Ziel, die Pläne von Terroristen frühzeitig zu durchschauen und zu durchkreuzen. […] In meinen Gesprächen mit Extremisten in rechtsradikalen Foren erkannte ich, dass das Drehbuch der Rechtsextremen dem der Islamisten erstaunlich ähnlich ist. […][…] Die Rhetorik und der modus operandi weisen in mancherlei Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide stacheln zum Hass gegen den anderen auf, der angeblich die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert. Beide Seiten fühlen sich in ihrer kollektiven Identität und Würde angegriffen. […] Beiden ging und geht es darum, durch kontrollierte Provokation und strategische Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der Gesellschaft freizusetzen, sodass sie letztendlich freie Bahn haben, um ihr eigenes radikales Modell zu etablieren. […] Dies macht die beiden Extreme faktisch zu „rhetorischen Verbündeten“.

Einer der Konflikte, der unsere Gesellschaften davon abhält (ja: abhält) sich den drängenden Fragen der Zukunft zu stellen (bspw.: Wie können wir das Ökosystem unseres Planeten retten? Wie unsere Wertvorstellungen ineinander integrieren? Wie die Erzeugnisse unserer Industrien und die Rohstoffe unseres Planeten gleichmäßig und fair verteilen?) ist der Konflikt, der sich vermeintlich an der Zugehörigkeit zu Völkern und Glaubensgemeinschaften entzündet. Längst haben sich diese Zugehörigkeiten durchdrungen (wie es in der Geschichte schon oft vorgekommen ist, ja, zur Normalität gehört), aber es gibt immer noch Menschen, die glauben, sie sauber voneinander trennen zu müssen (und zu können). Menschen, die ein binäres Weltbild pflegen und weiterhin glauben, dass die beiden Position zwangsläufig gegeneinander antreten müssen.

Julia Ebner hat ein Buch über diese Menschen mit extremen Vorstellungen geschrieben. Die darin verfolgte Hauptthese ist, dass zwei der wichtigsten extremistischen Bewegungen unserer Zeit, die islamistische und die rechtsextreme, letztlich zwei Seiten einer Medaille sind, deren Narrative sich in vielen Punkten gleichen und die sich darüber hinaus auch gegenseitig stärken. Sie nehmen die Positionen und Taten des jeweils anderen Extrems als Beispiele, um größere Gruppen oder ganze Gesellschaften zu verdammen und zu stigmatisieren und Anhänger*innen für ihre Weltsicht zu gewinnen. In diesen verzerrten und vereinfachten Ansichten ist bspw. Trump die Personifikation des Westens und die Selbstmordattentäter und fanatischen Gläubigen stellen den durchschnittlichen Muslim dar.

Obwohl es sich vielleicht von selbst versteht, ist es wichtig zu betonen, dass die meisten Muslime keine Islamisten sind und die meisten Islamisten keine Dschihadisten.

Ebner, aus Österreich stammend und in London arbeitend, versucht in „The Rage“ (sie schrieb das Buch auf Englisch) anhand vieler symptomatischer und repräsentativer Schicksale, Begegnungen und Geschichten, die Vorstellungen und Dynamiken innerhalb der rechtsextremistischen und radikalisierten islamistischen Kreise und Netzwerke zu beschreiben; zu zeigen, wie sie ihre Weltbilder in die Ängste der Bevölkerungen integrieren und wie sie diese Aktionen mit Multimedia, popkulturellen Einflüssen und sozialen Netzwerken unterstützen.

Ein wichtiger Punkt, um den sich das Buch dabei durchaus verdient macht, ist das Augenmerk, welches auf die wichtige Stellung des Narrativ gelegt wird, der glaubwürdigen und einfachen Geschichte, die der Kit sind, ohne den extreme Haltungen schnell in sich zusammenfallen würden. Die Welt ist jedem geöffnet und verstellt durch seine/ihre Interpretation der eigenen Erfahrungen und wir sind oft darauf angewiesen, dass uns die Zusammenhänge, die diese Erfahrungen (innerhalb von größeren Strukturen) bedingen, erklärt bzw. erzählt werden.

Der erste Schritt zur Bekämpfung des Extremismus besteht darin, den Geschichten von Extremisten zuzuhören. Natürlich geschieht das am besten innerhalb der jeweiligen Communities – dort, wo die unzensierten Gespräche stattfinden.

So beginnt das Buch auch mit der Schilderung einer Teilnahme an einer Demonstration der EDL (English Defence League) und an einer Diskussionsveranstaltung der Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) – an ein und demselben Tag. Das erweist sich zum Auftakt als keine schlechte Idee, untermauern die Schilderungen der Veranstaltungen doch zum einen gleich die Grundthese, dass Extremist*innen sich letztlich – abseits dessen, worauf sie sich stützen – in ihren Forderungen und Methoden oft gleichen, während sie auf der anderen Seite, durch die Darstellung des Kontaktes mit Teilnehmer*innen der jeweiligen Veranstaltungen, die menschlichen Profile hinter den Organisationen ins Licht rücken.

Weil Extremismus stets mit der Entmenschlichung anfängt, werde ich mein Möglichstes tun, um nicht in dieselbe Falle zu tappen, und stattdessen bestrebt sein, jede einzelne Person als menschliches Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften darzustellen.

Man muss Ebner zu Gute halten, dass sie in diese Falle tatsächlich nicht getappt ist. Ihre Beschreibungen der (vielen, vielen) Personen, die im Buch auftauchen, sind sicherlich manchmal von Erschütterungen durchzogen, aber nie über ein obligatorisches Maß hinaus wertend oder verurteilend.

Überhaupt ist sie bestrebt, die Vorstellungen, die man sich auf beiden Seiten (und in der von den Extremen zunehmend eingenommenen Mitte der Gesellschaft) von den Akteur*innen der rechtsextremen und islamistischen Organisationen macht, etwas aufzubrechen. Nicht, indem sie diese Akteur*innen als missverstanden darstellt oder sie allzu stark als Opfer gesellschaftlicher und sozioökonomischer Missstände inszeniert (obwohl sie dies mitbedenkt und bei passenden Gelegenheiten auch anspricht), sondern schlicht ihre Motive und Aussagen durchleuchtet und so der Irrationalität ihrer Taten und Weltbilder ein Umfeld gibt, was ihre Ansichten zwar nicht unbedingt verständlicher oder zugänglicher macht, aber sie der Vereinfachung entzieht. Viele Täter*innen und Akteur*innen stellt sie als Menschen dar, die aufgrund ihrer Lebensgeschichten Identitätskrisen aufwiesen und sich auch deshalb für radikale Konzepte, die ihnen bei der Festlegung ihrer Identität und Zugehörigkeit halfen und Ziele festlegten, empfänglich zeigten.

Es sollte nicht vernachlässigt werden in den heutigen Diskussionen, dass die Freiheiten, die unsere westlichen Gesellschaften propagieren (auf manchen Ebenen und in manchen Ausprägungen mit einer Vehemenz, die auch schon wieder an Zwang erinnert), offenbar auch eine Belastung für manche Menschen sind, die sich nach einem klaren Selbstbild sehnen und nicht ersehen können, wie sie außerhalb von konkreten, geschlossenen Weltbildern zu einem solchen finden. Das hat natürlich einiges mit dem schnellen Tempo der Veränderungen und auch etwas mit der Wahrung von stürzenden Privilegien zu tun – ich bin kein Freund der Freund*innen von geschlosseneren Weltbildern, ich teile ihre Ängste nicht, aber ich verstehe, woher sie rühren. Sie auszuklammern, das zeigt das Buch, befördert Radikalisierung, weil sie sich als die einzige Alternative präsentieren kann.

Die Tatsache, dass wir unsere Identität nach Belieben formen können, bedeutet auch eine große Belastung: Selbstdefinition kann ein schwieriger Prozess sein, auf den nicht jeder vorbereitet ist.

Auch mit vielen anderen bequemen Vorstellungen räumt Ebner auf und es gibt einige Punkte in ihrem Buch, die sie mit wunderbarer Klarheit und Prägnanz anspricht. Dazu gehört bspw. die Rolle der Medien (und das Verhalten ihrer Konsument*innen) bei der Popularisierung von extremistischen Positionen. Sie nennt das Kind beim Namen: es gibt „unverantwortliche Medien“, die ihren Auftrag der Berichterstattung als Anlass nehmen, um reißerische und stark konnotierte Berichte über Ereignisse und Phänomene zu schreiben/zu senden, bei denen eine differenzierte und längerfristige Berichterstattung wichtig wäre, auch um die Vorurteile und eindimensionalen Vorstellungen von vielen Dingen zu korrigieren. Sie tragen mit, was sie eigentlich aufbrechen und auf verschiedene Gesichtspunkte verteilen sollten.

Aber anscheinend haben manche Medien kein Interesse daran, sich als Gegenbild zum Gerede am Stammtisch, zu Gerüchten und Vereinfachungen zu verstehen, sondern biedern sich immer mehr bei diesen Formen an (was, so meine persönliche Meinung, eine himmelschreiende Dummheit war und ist).

Man kann sich unverantwortliche Medien als Theater vorstellen, das die von Terroristen verfassten Stücke inszeniert und die Eintrittskarten für die Vorstellungen verkauft. Derweil drängt die Öffentlichkeit, die sich das Schauspiel ansieht, Politiker, auf die Bühne zu gehen, um in dem Stück mitzumachen, und zwar nach dem Drehbuch der Terroristen.

Und die Politiker*innen widersetzen sich diesem Trend nur bedingt (und stehen natürlich auch dann und wann vor einem Dilemma). Ebner schreibt:

Sichtbar zu handeln wird wichtiger als effektiv zu handeln.

Und bringt damit auf den Punkt, was derzeit allerorten geschieht, nämlich das Populismus immer mehr dabei ist, zum normalen Politikstil zu werden.

An der Geflüchtetenkrise erhitzen sich derzeit viele Gemüter und obgleich ich schon viele vernünftige Stimmen zu dem Thema gehört habe, überwiegen nach wie vor die irrationalen und stark vereinfachten Perspektiven auf dieses Phänomen. Ebner zeigt wie leicht sich dieses Thema instrumentalisieren ließ, wie einfach es zugelassen wurde. Denn genau das ist geschehen – diese „Krise“ wurde instrumentalisiert, ebenso wie es der islamistische Terror wurde.

Natürlich sind die Verbrechen, die Terroristen in Europa begangen haben, schrecklich, verwerflich, erschütternd. Aber es sind Verbrechen, wie sie jeden Tag auf dem ganzen Globus im Namen vieler Religionen, Ideen und sonstigen Motivationen begangen werden. Jeden Tag missbraucht jemand die Idee der Liebe, der Gerechtigkeit, der Vernunft, etc. um jemand anderem weh und/oder Unrecht zu tun – deswegen werden diese Ideen nicht verdammt. Eine Idee – und auch eine Religion – kann nichts dafür, wenn sie missbraucht wird. Und genau das tun islamistische Selbstmordattentäter – sie rechtfertigen etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt, mit einer Religion, deren Schriften Raum für Ausdeutungen lassen und die von vielen anderen, die nach ihnen leben, auf eine ganz andere Weise gedeutet werden. Es gibt nicht den einen Islam. Es sollte außerdem nicht vergessen werden:

Die meisten Terroropfer sind Muslime, und die große Mehrzahl der dschihadistischen Anschläge findet im Nahen Osten und in Afrika statt. Im Jahr 2015 ereigneten sich 75 Prozent der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus in Irak, Afghanistan, Nigeria, Syrien und Pakistan.

In Europa werden die geringen Prozente derweil genutzt, um Ressentiments und Vorurteile zu schüren. Es werden gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt, um Terrorismus zu verhindern. Natürlich müssen wir uns um Sicherheitsmaßnahmen kümmern – aber nicht zu jedem Preis. Denn wir müssen gleichzeitig akzeptieren, dass es keinen letztendlichen Schutz vor Verbrechen gibt. Sie entstehen in den Köpfen von Menschen jeglichen Alters, jeglicher Glaubensrichtung, jeglicher Herkunft – und auf die Köpfe der Menschen hat, zum Glück, niemand Zugriff. Man kann versuchen früh anzusetzen, Gräben und Isolation gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Europa hat schon vorher Migrationsbewegungen erlebt und unsere Gesellschaften können, wenn zusammengearbeitet wird, diese neue Bewegung ebenfalls verkraften und Menschen helfen, die vor Krieg und Mord und Folter geflohen sind. Natürlich werden wir teilen müssen, etwas abgeben müssen von unserem Wohlstand. Aber ganz abgesehen davon, dass wir diesen Wohlstand auch einer jahrhundertelangen Ausbeutung anderer Erdteile verdanken – was ist so schlimm daran, etwas abzugeben, wenn es hilft, wenn es eine konfliktärmere Zukunft hervorbringt? Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir wirklich leben wollen und was das für andere Menschen an anderen Orten bedeutet.

Deswegen sollte beherzigt werden, was Ebner über die Geflüchtetenbewegung kurz und prägnant schreibt, nämlich dass

eigentlich nicht Europa mit einer Flüchtlings- und Migrantenkrise konfrontiert ist. Es sind die Flüchtlinge und Migranten, die mit einer Krise Europas konfrontiert sind.

Diese Krise Europas, die sich auch im Aufkommen von isolationistischen und nationalstaatlichen Ideen zeigt und in extremen Positionen – gerichtet gegen einen Feind, der viel größer gemacht wird als er ist, um dem eigenen Extrem mehr Bedeutung zu verleihen –, wurde nicht herbeigetragen von Menschen aus Syrien und anderen Ländern. Sie fand schon früher statt und tritt nun klar zutage. Und hat ihren Ursprung einfach darin, dass wir (West-)Europäer*innen in den letzten Jahrzehnten so gelebt haben wie wir gelebt haben. Und diese unsere Einstellung muss auf allen Ebenen überdacht werden.

Ebners Buch – obgleich es sein Hauptaugenmerk auf die Ränder der Gesellschaft legt und von dort allerlei Informatives heranträgt – handelt letztlich auch von dieser Krise. Einer Krise, die so groß tobt, obwohl eigentlich nur so wenig toben und viele andere unsicher stillhalten oder mal mittoben oder sich abwenden.

Und in dieser Hinsicht ist es, trotz einiger Mängel, ein wichtiges Buch. Es will viel, es reißt viel an und es tauchen jede Menge Personen auf, die allzu schnell wieder verschwinden. Es will zu viel. Aber es scheitert dennoch nicht, denn in diesem “zu viel” geschehen immerhin allerlei Durchbrüche, die allerhand Proben liefern, von Verhältnissen, die uns umgeben und, obgleich sie extrem sind, längst die gemäßigte Sicht in einigen Punkten mehr und mehr beeinflussen, für sich gewinnen.

Es ist dieses Buch letztendlich ein Aufruf, ein Aufruf zum Dialog, der allein das Abdriften in die Extreme – die es immer geben wird, denen man aber nicht den Diskurs überlassen darf – verhindern kann. Am Ende schreibt Ebner:

Verschließen wir niemandem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was die Humanisten und die Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.

Über zweite Chancen, über Utopisches und das Wagen muss nachgedacht, geredet werden. Und es müssen Narrative entwickelt werden, die sich um das Gemeinsame und Verbindende bemühen – den Geschichten erschaffen Vorstellungen, bedingen Handlungen. Das zeigt Ebners Buch überdeutlich und dies ist, wie bereits gesagt, wohl der wichtigste Verdienst dieser Schrift. Sie wendet sich gegen Ungenauigkeit und Unverhältnismäßigkeit und damit gegen zwei Phänomene, die in der Zeit von Fake-News, Kommentarspaltenhetze und Millionen von Pseudoexpert*innen, unsere schlimmsten Alpträume geworden sind. Wie sagte schon George Orwell:

Ungenaue Sprache hindert uns daran, klar zu denken, und veranlasst uns, törichte Gedanken zu reproduzieren.

 

Zu Julian Barnes Essays in “Am Fenster”


Am Fenster „Romane erzählen uns die reinste Wahrheit über das Leben: was es ist, wie wir es leben, wozu es da sein könnte, wie wir es genießen und was es uns wert ist, wie es misslingt und wie wir es verlieren. […] Was es bedeutet, ein Individuum zu sein, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein. Was es heißt, allein zu sein. […]
Wir sind, im tiefsten Inneren, erzählende Wesen und immer auf der Suche nach Antworten.“

Noch einer dieser Romanfetischisten? Nach der Lektüre des Vorwortes war ich fast schon geneigt, Julian Barnes Essays neben denen von Milan Kundera, Virigina Woolf und Mario Vargas Llosa einzureihen, deren unermüdliche Gedanken zum Wesen, der Schönheit und den Möglichkeiten des Romans gleich mehrere Bücher füllen – und es sind nicht die schlechtesten Essays, die dort versammelt sind. Doch Julian Barnes hat, wie sich im Verlauf der Lektüre von „Am Fenster“ zeigte, mehr zu bieten, als Loblieder und Eruierungen zum Roman; obgleich der Roman ein Genre ist, auf das er immer wieder zurückkommt.

Ich schätze Julian Barnes schon seit langem als Romancier – vor allem für „Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“, ein Romankaleidoskop, das zwischen dem beschaulich-schönen (Wahn-)Witz eines Douglas Adams, dem enzyklopädischen Schimmer eines Jorge Luis Borges und dem Geschick eines arrivierten Prosa-Komponisten (wie Faulkner oder Kundera) hin und her pendelt und sich dabei selbst nie zu ernst nimmt (aber keineswegs nur Spaß versteht); ein Buch, das mit seinem Hauptmotiv, der Arche Noah, auf genau die richtige Art und Weise spielt, es transzendiert und dann wieder profaniert.

Aber auch als Verfasser von anderen Büchern habe ich Barnes schätzen gelernt. „Nichts, was man fürchten müsste“ ist nach wie vor das beste Nichtroman-Buch über den (eigenen) Tod, das ich bisher gelesen habe.
Alles in allem: mir gefällt die Wandelbarkeit seines Oeuvres, aber auch die Kontinuität darin.

Ein Thema, zum dem Barnes eines natürliche Affinität zu haben scheint, ist Frankreich, was sich auch in seinen Essays niederschlägt. So finden sich in diesem Buch nicht nur zwei Texte über Rudyard Kipling und das Land von Paris, Provence und Côte d‘Azur (namentlich „Kiplings Frankreich“ und „Frankreichs Kipling“), die trotz ihrem Mix aus Tiefgang und anekdotischer Leichtigkeit wohl nicht jedermanns Interesse wecken werden, sondern (u.a,) ein Text über die verschiedenen englischsprachigen Übersetzungen von Madame Bovary (mit besonderem Augenmerk auf die neuste von Lydia Davis) und ein großartiger Michel Houellebecq-Halbverriss, der die Stärken und Schwächen des von der Grässlichkeit aller Dinge überzeugten Autors auseinanderdividiert und klar benennt.

Auch ansonsten ist das Buch eine Fundgrube, mit spezielleren und offensichtlicheren Schätzen. Das Buch steigert sich kontinuierlich – obgleich es mit einer gelungenen Würdigung von Penelope Fitzgerald, einer viel zu unbekannten Autorin, beginnt – und wo am Anfang vor allem Texte mit einem fast schon zu engen Fokus stehen, die auch hier und da etwas diffus wirken, sind es am Ende die Texte über John Updike, die großartige Short Story-Autorin Lorrie Moore und Barnes eigene bibliophile Neigung, die mir in Erinnerung bleiben werden. Auch der Text über die autobiographischen Bücher von Joyce Carol Oates und Joan Didion (die jeweils vom Verlust eines geliebten Menschen handeln) ist ein meisterhaftes Beispiel für einen Essay, der auf wunderbare Weise Distanzen überbrücken und sie doch mitunter auch einhalten kann – wenn das nötig ist und dem Text besser dient. Und manchmal, das kann bei Julian Barnes lernen und schauen, dient der Abstand zum Objekt einem Text sehr gut. Solange man ihn auch überwinden kann.

Die einzelne Kurzgeschichte – im Prinzip der Versuch, die Schönheit und Stärke eines Werkes, das hinter dem Bild einer Figur zu verschwinden droht, herauszuarbeiten – ist eine schöne Lektion in Sachen Scheitern.

Bleibt mir nur noch, den letzten Satz des Vorwortes, den ich im Anfangszitat unterschlug, hier ans Ende zu setzen und jedem zu empfehlen, Julian Barnes zu lesen. „Flauberts Papagei“ vielleicht. Oder das Buch mit dem Pinguin drauf, ganz egal. Oder dies hier.

„Die beste Literatur liefert nur selten Antworten, aber sie formuliert die Fragen ganz ausgezeichnet.“

Zu George Orwells zweitem Band mit Essays: “Rache ist sauer”


rache-ist-sauer_orwell In kaum einem Werk ist mir ein solches Maß an Scharfsinn, Gewissenhaftigkeit und Menschlichkeit begegnet, wie in den essayistischen Schriften und Berichten von George Orwell. Für mich persönlich ist es nicht übertrieben, bei der Beschreibung dieser 70 Jahre alten Texte von Aktualität, entlarvender Meisterschaft und moralischer Größe zu sprechen – ganz ohne Ironie oder den Wunsch, die Texte durch diese Bezeichnungen bedeutender zu machen, als sie sind.

Was Orwell vor allem eine Sonderstellung gibt, ist sein kompromissloses (jedoch nicht: radikalisiertes) Engagement, die Aufmerksamkeit, die er den Leidtragenden der industrialisierten und ideologisierten Gesellschaft zukommen lässt: den Soldaten an der Front, den Arbeitern in den Fabriken und den armen und von der Gesellschaft vergessenen Schichten der Bevölkerung. Dies alles in Kombination mit einem Intellekt, der größere Zusammenhänge erfassen und darstellen kann, wie sie selten auf den Punkt gebracht werden. Ihm gelingt es einfachste und nahezu nicht zu widerlegende Aussagen zu formulieren, zum Beispiel über den Krieg und die öffentliche Meinung:

“Was die breite Masse der Bevölkerung betrifft, so rühren die erstaunlichen Meinungsumschwünge der heutigen Zeit und die Gefühle, die sich auf- und abdrehen lassen wie ein Wasserhahn, von der Suggestivkraft der Zeitungen und Radios her. Bei den Intellektuellen, würde ich sagen, hat das mehr mit Geld und der Sorge um die persönliche Sicherheit zu tun. Je nach Lage der Dinge werden sie in einem gegebenen Augenblick ‘für den Krieg’ oder ‘gegen den Krieg’ sein, aber in beiden Fällen fehlt ihnen völlig die reale Vorstellung, was der Krieg ist.”

Seine Kritik an den Medien und den oberen Klassen ist sicher nicht allein auf weiter Flur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – aber nirgendwo habe ich so präzise formuliert gefunden, nirgendwo wird so schnell ersichtlich, ohne Umwege über die Abstrktion, wo der Hund vieler Problematiken begraben liegt: direkt vor unserer Nase, im Aufbau der Gesellschaft, die vor allem auf Unterdrückung und Kontrolle basiert und auf eine immer größeren Ausbeutung und Spaltung hinausläuft. Privilegien waren schon immer alles.

“Was mich am meisten bedrückt, wenn ich an die Antike denke, ist der Umstand, dass diese Hunderte von Millionen von Sklaven, auf deren Rücken ganze Zivilisationen generationenlang beruhten, nichts über sich hinterlassen haben. Wir kennen nicht einmal ihre Namen.”

Nietzsches Wahn von den wenigen Übermenschen, denen alle anderen dienen: längst hat die Geschichte seine Forderung in gewissem Maße eingelöst und wird sie weiter einlösen. Dabei geht es nicht einmal um Namen, sondern vielmehr darum, dass wir ausblenden, unter welchen Bedingungen Menschen leben mussten, während sich „große Geschichte“ ereignete und immer noch leben, während wir den Lebensstandard genießen, den ihre Arbeit gewährleistet.

Die Menschlichkeit: selbst für die meisten aufgeklärten Menschen endet sie am Rand der humanistischen Disziplinen, Schriften und Wissenschaften. Für Orwell endet sie dort nicht. Er weiß, dass ihr wahres Schlachtfeld ein oft nicht wahrgenommenes ist; ein Feld der Ausbeutung, von dem niemand sprechen mag.

Während der zweite Weltkrieg, vordergründig ein Krieg der Ideologien, tobt, schreibt Orwell:

“Den Lebensstandard der gesamten Welt auf das Niveau des englischen zu bringen, wäre kein größeres Unternehmen als der Krieg, den wir gegenwärtig führen. Ich behaupte nicht, und mir ist nicht bekannt, dass sonst jemand es tut, dass damit alles an sich bereits gelöst wäre. Es geht mir nur darum, dass Entbehrung und Knochenarbeit abgeschafft sein müssen, ehe man an die eigentlich menschlichen Probleme herangehen kann.”

Heute gibt es noch weitere Probleme, vom Klimawandel über Epidemien bis zum Atommüll, denen wir uns stellen sollten, anstatt Kriege und Scheinkriege auszufechten.
Es ist, dessen bin ich mir bewusst, eine sehr einfache Position, die Orwell bezieht. Aber obwohl sie einfach ist, macht sie mehr her, als ein Großteil des ganzen Geschnatters, Gezeters und Gebrülls unserer heutigen Debattenkultur, wo einer den anderen moralisch korrigiert und bezichtigt, ohne dass man einfach mal ehrlich von den grundsätzlichen Problemen unserer  Systeme redet. Orwell legt den Finger auf das Wesentliche, was heute viel zu selten getan wird.

Was ich an Orwell auch sehr schätze: dass durch die Schlichtheit und die nie auftretende Selbstüberschätzung in seinem Stil, keine moralisierende Atmosphäre oder Haltung aufkommt. Sein Impetus ist die Wahrheit und dass man sie gerecht betrachte. Selbst wenn er zu so einem schwierigen Thema wie Rache schreibt, bleibt er bei seiner analytischen Verfahrensweise und zeigt, dass es eigentlich ein nicht so schwieriges Thema ist:

“Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.”

Orwell hat hier meiner Ansicht nach zwar nicht bedacht, dass das Gefühl des Unvermögens durchaus bleiben kann, auch wenn andere Umstände eintreten. Aber unsere Generation, die den Plots von dutzenden Rachefilmen aus Hollywood kennt und denen die Wichtigkeit dieses Gefühls mit der Popkultur eingeimpft wurde, täte gut daran, sich einmal anhand von George Orwells Definition die eigenen Gefühle anzuschauen, um zu begreifen, dass Rache meist nur ein selbstgewählte, erniedrigte Position einem anderen Menschen gegenüber ist, die man auch schlicht überwinden kann.

Vieles, was George Orwell in diesem Band schreibt, ließe sich zusammenfassen mit einem Satz von ihm selbst:

“Die Tatsache, dass man eine derart banale Banalität niederschreiben muss, zeigt, was die Jahre des Rentier-Kapitalismus aus uns gemacht haben.”

Da kann ich nur noch meine Unterschrift druntersetzen. Ich will nicht den Antikapitalisten spielen, will Orwell nicht unter diesem Label abgestempelt, eingeordnet und vergessen wissen. Aber diese schlichte Aussage nagelt fest, was an vielen Stellen im Argen liegt, noch heute.

Es sei zuletzt noch erwähnt, dass es in diesem Band nicht nur um Politik & Gesellschaft geht – auch zu Shakespeare, Krimis und Avantgarde hat Orwell einige interessante Dinge zu sagen.

Orwell-Essays lesen, das heißt, eine gewisse Mündigkeit hochhalten und lernen. Ich bin froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte; sie war heilsam und zugleich schmerzlich und ich werde noch öfters auf sie zurückkommen.

Orwells Erzählungen & Essays, Band 1: Im Inneren de Wals


Die meisten werden George Orwell, alias Eric Blair, nur aufgrund seiner beiden Spätwerke kennen: “Farm der Tiere” und “1984”. Zweifellos sind dies zwei vortreffliche (und im Fall von Animal Farm will ich sogar behaupten: vollkommene) Bücher. Aber sie machen nur einen kleinen Teil von dem aus, was von Orwells Werk lesenswert und, erstaunlicherweise, aktuell ist.

Obwohl die Erzählungen und Essays in diesem Band vor 70-80 Jahren erschienen sind und sich die inhaltlichen Vorraussetzungen mittlerweile geändert haben, sind ihr Augenmerk und ihr Engagement auf geradezu spürbare Weise Zeitgeist geblieben. Egal ob sie eher eine kritische Studie sind oder nur von Begebenheiten erzählen – immer schöpfen sie große Anteile des Wesentlichen aus dem Thema heraus; immer ein Anzeichen für große Essays.

In diesem Band befinden sich Orwells populärste Erzählungen: “Shooting an elephant” und “A Hanging”. Letzteres ist eine seltsam unbezichtigende, aber ungeschönte Schilderung einer Hinrichtung, die Orwell als Mitglied der Polizeitruppe in Burma miterlebte. Was ihm beim Gang zum Schafott klar wird, gehört zu den simpelsten, aber dennoch außergewöhnlichen Momenten dieses Buches:

“Einmal trat der Gefangene, obwohl die beiden Wärter ihn fest gepackt hielten, geschmeidig beiseite, um nicht in eine Pfütze zu treten.
Seltsam, aber bis zu diesem Augenblick war mir nicht bewusst geworden, was es bedeutet, einen gesunden, denkenden Menschen zu töten. Als ich den Gefangenen beiseitetreten sah, um der Pfütze auszuweichen, erkannte ich das Geheimnis, sah, welch ungeheuerliches Unrecht es ist, einem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen, das in voller Blüte ist. Dieser Mann lag nicht im Sterben, er lebte, wie wir, all seine Organe arbeiteten […] Seine Augen nahmen den gelben Kies und die grauen Mauern wahr, sein Hirn war noch imstande, sich zu erinnern, vorauszusehen, achtzugeben – selbst auf die Pfütze. Er und wir, seine Mörder, waren Menschen, die gemeinsam einen Weg zurücklegten, welche die gleiche Welt erblickten, hörten, fühlten, begriffen, und in zwei Minuten, mit einem plötzlichen Knack, würde einer von uns nicht mehr da sein, ein menschliches Leben weniger, eine Welt weniger.”

Neben den Erzählungen und dem Text “Warum ich schreibe”, finden sich einige sozialkritische Studien in dem Band, die zwar keine Verhältnisse schildern, die so noch existieren, aber dennoch eine allgemeine Art des fehlenden Respekts vor schwieriger Arbeit, chancenlosen Existenzen und Elend offenbaren, der in unserer Zeit genauso zu finden ist wie in den 30er Jahren – das sich hier blitzschnell Äquivalente finden lassen, auf die dieselbe Kritik, dieselben Versäumnisse wie damals anwendbar sind, ist bezeichnend und zeigt, wie nah ans Menschliche Orwells Texte kommen und wie sehr seine frühe Kritik am Kapitalismus recht behalten sollte.

Der Band wir abgerundet durch vier Texte über Literatur, allen voran “Im Innern des Wals”, ein längerer, dreiteiliger Essay, der sich mit Henry Millers “Wendekreis des Krebses” und der englischen Literatur der 30er Jahre auseinandersetzt und daraus einige, auch im Rückblick sehr gelungene, Schlüsse über Literatur im Allgemeinen und dem Lebensgefühl der Weltkriegsgenerationen zieht. Es folgen kritische Texte zu Mark Twain, Rudyard Kipling und H.G. Wells.

Ich kann nur jedem empfehlen Orwells Essays und Erzählungen, auch den zweiten Band “Rache ist sauer”, zu lesen. Sie verhelfen zu einem kritischen Bewusstsein in puncto Menschlichkeit und schärfen den Geist auf eine unspektakuläre, aber grundsätzliche Art. Ich werde dieses Buch bestimmt noch oft zur Hand nehmen, denn wie es bei guter Essayistik so häufig ist: ihre Erkenntnisse kann man nicht oft genug in sich hineinscheinen lassen.

Ein Meisterwerk: Orwells Farm der Tiere


Als George Orwell “Animal Farm” schrieb, war es bereits sein vorletztes Buch (sein letztes sollte “1984” werden, kurz darauf starb er). Der Großteil seines Werkes war bereits, nahezu unbemerkt, erschienen, darunter dokumentarische und hellsichtige Werke wie “Mein Katalonien”. Orwell hatte als Obdachloser gelebt, war in Burma stationiert gewesen, hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft und viele Artikel und Pamphlete verfasst. Überall prangerte er soziale Missstände an und verwies, wo es ging, auf die Leistungen der schwerarbeitenden Klassen der Gesellschaft. Als ein bekennender Sozialist und Humanist interessierte ihn vor allem die existenzielle Dimension des Daseins und er sah im Kapitalismus die große Problematik für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft.

1946 erschien in der vierten Ausgabe der Zeitschrift Gangrel ein kurzer Artikel von ihm, mit dem Titel: “Warum ich schreibe”. (Auch enthalten in der Sammlung “Im Bauch des Wals”). Unter anderem schreibt er dort: “Farm der Tiere war das erste Buch, bei dem ich in vollem Bewusstsein dessen, was ich tat, versuchte, das Politische und das Künstlerische zu einem Ganzen zu verschmelzen.”

Und in der Tat ist Farm der Tiere eines der wenigen gelungen Beispiele für eine Verschmelzung von Kunstwerk und Kritik, von Parabel und Erzählung, von Engagement und Fantasie. Verschmelzung im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier wird subtil und nachvollziehbar, in Etappen und doch im Ganzen, die Korrumpierbarkeit von Macht dargestellt und gleichzeitig ein wunderbares Märchen erzählt, so einfach und phantastisch und brutal, das es wahrhaftig als Chiffre dienen, aber auch als Lehrstück für Kinder gelesen werden kann.

Natürlich weiß nahezu jeder, worum es in Animal Farm geht und was abgebildet werden soll. Aber das kann man ganz beiseitelassen und es dann selbst erfahren, wenn man dieses wunderbare Buch liest. Es ist eine Lektüre, die einer großen Offenbarung gleicht und doch auch ein Genuss ist. Es gibt unvergleichliche und unvergessliche Figuren, es gibt Seitenhiebe und eine Komik, die so stark herauskommt und so tief trifft, dass man sich wundert, über die Kraft der Erzählung, über ihre starke Verbindung zum realen Vorbild.

Fakt ist, dass Animal Farm eines der wenigen vollkommenen Bücher ist, die ich in meinem Leben gelesen habe. Ja, das mag übertrieben klingen, aber ich bin jederzeit bereit, diese Übertreibung zu verteidigen, zu wiederholen. Hier ist eine kleine, aber umfassende, in jeder Faser gelungene Erzählung entstanden, die so viele Sinnbilder enthält, die uns zur Reflektion und zum Nachdenken zwingen und uns gleichsam tiefer in die Geschichte ziehen, beides zu gleichen Teilen. Ein (man kann es wagen, es zu sagen) Meisterwerk. Ein Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

George Orwells Bericht “Mein Katalonien”


“Ich war nach Spanien gekommen, um Zeitungsartikel zu schreiben. Aber ich war fast sofort in die Miliz eingetreten, denn bei der damaligen Lage schien es das einzig Denkbare zu sein, was man tun konnte. […] Man hatte den Japanern erlaubt, in der Mandschurei zu tun, was sie wollten. Hitler war zur Macht gekommen und fuhr fort, die politischen Gegner aller Schattierungen zu massakrieren. Mussolini hatte die Abessinier bombardiert, während dreiundfünfzig Nationen abseits standen und fromme Sprüche von sich gaben. Aber als Franco versuchte, eine gemäßigt links orientierte Regierung zu stürzen, lehnten sich entgegen allen Erwartungen die spanischen Menschen gegen ihn auf. Es schien die Wende der Flut.”

Fast vier Monate lang blieb George Orwell in der katalonischen Miliz, bei einer Abteilung der anarchistisch-sozialistischen Arbeiterbewegung, erlebte die Front, das Lazarett und zuletzt die Straßenkämpfe, politischen Verwicklungen und Propagandaschlachten in Barcelona. Seine Schilderungen und Analysen zu letzterem bilden das wirkliche Kernstück dieses Buches und sind sein großer Verdienst, bis heute.

“Es war nämlich vor allen Dingen ein politischer Krieg. Kein Ereignis, besonders aus den ersten Jahren, ist verständlich, ohne eine Gewisse Kenntnis von dem Kampf zwischen den Parteien, der sich hinter der Frontlinie der Regierungsseite abspielte.”

Der spanische Bürgerkrieg wird in der historischen Betrachtung meist leichtfertig zusammengefasst als Kampf von Demokratie gegen Faschismus, als ein Aufbegehren von liberalen, kommunistischen, sozialistischen, demokratischen Elementen gegen die Flut des Totalitarismus. Aber gerade der ideologische Kampf auf Seiten der republikanischen Seite, der (zumindest in Katalonien) einen Bürgerkrieg in sich darstellt, wird dabei gerne verschwiegen; es wird gerne ausgespart, dass im republikanischen Spanien der Jahre 1937-38 eine der größten kommunistischen Säuberungsaktionen des 20. Jahrhunderts stattfand und einige anarchistische Arbeiterschaft-Verbände mit Terror und Willkür unterdrückt wurden.

Orwell kam im Dezember 1936 nach Barcelona, das Buch erschien 1938, noch bevor der Krieg beendet war. Es ist daher kein umfangreicher Bericht über den Bürgerkrieg selbst und auch keine Analyse des Kriegsverlaufes. Es ist ein persönlicher Erlebnisbericht aus dem Räderwerk des Bürgerkriegs, nicht nur des Fronteinsatzes, sondern vor allen Dingen der politischen Prozesse, die währenddessen abliefen.

Als Orwell nach Barcelona kommt, hat die Arbeiterschaft dort eine fast perfekte sozialistische Utopie umgesetzt. Es gibt keine Unterschiede in Sold und Gehalt mehr, alles liegt in den Händen der Arbeiter. Er tritt der anarchistischen Arbeitermiliz P.O.U.M. bei und geht an die Front. Als er ein paar Monate später zurückkehrt, haben sich sowohl die realpolitischen Verhältnisse geändert, wie auch die gesellschaftlichen. Alles war wieder zum bourgeoisen Standard zurückgekehrt. Orwell zog die richtigen Schlüsse und erkannte früh, was ein Problem des 20. Jahrhunderts war und ein Erbe geworden ist, das das 21. Jahrhundert weiterhin mitträgt:

“Im Namen der Demokratie gegen den Faschismus zu kämpfen, heißt, im Namen einer Form des Kapitalismus gegen eine andere zu kämpfen, die sich zu jeder Zeit in die erste verwandeln kann. Die einzig wirkliche Alternative zum Faschismus ist die Kontrolle durch die Arbeiter. Wer sich irgendein kleineres Ziel als dieses setzt, wird entweder Franco den Sieg aushändigen oder im besten Falle den Faschismus durch die Hintertür hereinlassen.”

Der Kapitalismus und die staatliche Gewalt sind, wie Orwell aufzeigt, die wesentlichen Probleme und die wesentliche Unterdrückung der menschlichen Gesellschaft. Später wurden die Arbeiterverbände nicht nur aus der Regierung gedrängt, sondern vollständig aufgerieben, verhaftet, in Kerkern zum dahinvegetieren verdammt oder insgeheim erschossen. Die linke Presse in aller Welt druckte damals munter die kommunistische Propagandalüge, dass alle Mitglieder der Anarchisten geheime Handlanger Francos sein – eine Behauptung die nicht falscher sein konnte, lagen doch zum größten Teil Mitglieder der anarchistischen Miliz zu der Zeit an der Front und hielten sie.

“Als eine der traurigsten Wirkungen dieses Krieges erkannte ich, dass die Presse der Linken bis ins kleinste genauso falsch und unehrlich ist wie die der Rechten. […] Das ist in allen Kriegen immer dasselbe. Die Soldaten kämpfen, die Journalisten schreiben. […] In Wirklichkeit unterliegt jeder Krieg mit jedem Monat, den er länger dauert, einer gewissen sich steigernden Entartung. Begriffe wie individuelle Freiheit und wahrhaftige Presse können einfach nicht mit dem militärischen Nutzeffekt konkurrieren.”

Orwells Buch ist ein verdammt wichtiges Dokument und eine Lektion in Antipropaganda und wider der historischen Geschichtsschreibung, die sich der Wirkungen verpflichtet sieht und nicht der Ursprünge und der Schicksale, Tatsachen und Ideen, die auf der Strecke bleiben. Es ist kein besonders spannendes Werk, teilweise auch nicht gerade großartig geschrieben, aber in seiner unaufgeregten und völlig unheischenden Dimension gewinnt es einen Grad an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit für sich, der mich sehr beeindruckt hat. Orwell schreibt am Ende, dass man seine Ausführungen kritisch hinterfragen soll und er meint es völlig Ernst. Und doch öffnet er einem mit dem Buch eine Sicht auf ein völlig verstelltes Kapitel des spanischen Bürgerkriegs und des zivilen und gesellschaftlichen Kampfes im 20. Jahrhundert. Und legt den Finger auf eine Frage, dessen Antwort weiterhin auf sich warten lässt: Wie kann man gewährleisten, dass die Interessen von allen in einem staatlichen Konzept gehört und bedacht werden?