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Zu Roberto Bolaños frühem Roman(fragment) “Der Geist der Science-Fiction”


Der Geist der Science-Fiction Robert Bolaños Ruhm, der ja posthum kam und mit „2666“ und „Die wilden Detektive“ seinen Höhepunkt erreichte, drohte, in meinen Augen, etwas unter der Veröffentlichungswut zu leiden, die in den darauffolgenden Jahren einsetzte und auch noch die frühsten Erzählungen, Romanfragmente, etc. hervorkramte. Anfangs war Großartiges darunter, aber speziell die letzten beiden Veröffentlichungen – die Erzählungen in „Mörderische Huren“ und das Romanfragment „Die Nöte des wahren Polizisten“ – waren, obgleich interessant, qualitativ eher ein Abstieg.

Natürlich ist es auf der anderen Seite toll, dass die Verlage Hanser und S. Fischer sich bemühen, eine lückenlose Ausgabe von Bolaños Werken auf Deutsch anzubieten – im Zuge dessen sind, wie gesagt, auch viele meisterliche Arbeiten wiederaufgelegt worden oder dies wird noch geschehen (so werden beispielsweise auch die großartigen Erzählungen in dem Band „Telefongespräche“ im nächsten Jahr bei S. Fischer neu aufgelegt).
Ich verstehe es ja: Bolaño-Fans wollen natürlich auch noch die letzte Zeile ihres Idols lesen und die Verlage liefern selbstverständlich. Aber es darf wohl die Frage gestellt werden: inwieweit sollte beim Veröffentlichen die Veränderung mitbedacht werden, die jede zusätzliche Publikation am Bild des Werkes und seines Autors vornimmt?

„Der Geist der Science-Fiction“ ist ein früher Roman (und wirkt sehr wie ein Fragment), der aber, laut Angabe im Buch, erst 2016 im Original veröffentlicht wurde. Bolaño arbeitete 1984 daran und verwendete einige Teile wohl für das 1993 erschienene „Fragmentos de la universidad desconocida“.
Der Roman spielt in den 70er Jahren in Mexiko-Stadt und besteht im Wesentlichen aus drei Strängen, die sich abwechseln. Zwei dieser Stränge sind verknüpft mit den beiden jungen Männern Remo und Jan, die sich ein Zimmer in der Metropole teilen. Während Remo versucht, Anschluss an die literarischen Institutionen zu bekommen und für verschiedene Magazine Artikel schreibt, liest Jan hauptsächlich nordamerikanische und europäische Science-Fiction-Romane und schreibt Briefe an die Autor*innen, in denen er sie, mit etwas wirren Erläuterungen und Abschweifungen, dazu anleiten will, sich für die Länder der Dritten Welt einzusetzen, ein Komitee für diese Angelegenheit zu bilden.

Die Briefe sind ein Strang, die Geschichte von Remos Erkundungen, die über ein paar Umwege in eine Liebesgeschichte münden, der andere. Der dritte Strang ist das Interview/Gespräch eines unbekannten jungen Science-Fiction-Autors, der anscheinend gerade einen bedeutenden Preis gewonnen hat, und einer ebenfalls unbekannten fragenden Instanz/Person.
Dieser dritte Teil fällt ziemlich heraus, bleibt bis zum Ende für sich und wirkt ein wenig deplatziert. Auch die Briefe sind, obgleich sie für sich genommen ein interessantes Narrativ darstellen, nur sehr lose mit der Haupthandlung verbunden und Jan tritt in ihnen ganz anders auf als in den Abschnitten mit Remo. Bis zum Ende greifen die Stränge nicht wirklich ineinander, das Konzept dahinter (wenn es denn eines gibt) geht für mich nicht auf.

Bewährte Motive Bolaños tauchen natürlich auch in „Der Geist der Science-Fiction“ auf: Nazis, leise Phantastik, Boheme, Vagabuntentum und Außenseiterphantasien, literarische Anspielungen und Referenzen in Hülle und Fülle. Immer wieder gibt es Passagen mit großartigen Einzelbeschreibungen, die eindringlich sind, Spaß machen.
Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch kein fertiger Roman, sondern ein liegengelassenes Projekt ist. Es sollte nicht als abgeschlossener Roman verkauft oder gelesen werden.

Spannend ist sicherlich, wie man in diesem Buch Bolaño bei Fingerübungen zusehen kann und wie stark hier teilweise, vor allem in den Briefen, nicht nur seine gewohnt satirische, sondern auch seine kritische Ader zum Vorschein kommt. Die Science-Fiction wird zum Sinnbild für die Utopie, zur Metapher für das Neu- und Besserdenken der Welt, der Verhältnisse. In der Hoffnung, welche Jan in seine Briefe an die Autor*innen legt, setzt Bolaño ein altes Dilemma, die Diskrepanz zwischen literarischer Vision und tatsächlichem Engagement, innovativ in Szene. Die Briefe sind somit Kabinettstücke mit einem gut gezimmerten doppelten Boden.

Lässt man die Einschränkungen (von denen aber jeder Kenntnis haben sollte, bevor er zu dem Buch greift) beiseite, ist diese frühe Prosa durchaus lesenswert. Ich mag, wie sich die Liebesgeschichte entfaltet. Die Beschreibung der Annäherung zwischen Remo und einer Frau namens Laura, erinnert an ein paar Glanzstücke von Bolaño Erzähltalent, seine Sprache wirkt auch in diesem frühen Werk nicht ungeschliffen, sondern schon sehr präzise; vielleicht sogar ein bisschen weniger verkopft und verstiegen als in den späteren, furioseren Werken.
Mit dem Interview konnte ich nicht viel anfangen und ich glaube, hier wären ein paar Backgroundinformationen wichtig oder interessant gewesen.

Überhaupt: es gibt zwar einen Abschnitt mit einigen schönen Originalnotizen aus der Entstehungszeit des Buches, aber keinen Anhang, kein Nachwort (allerdings ein kurzes Vorwort). Gerade wenn man ein Werk wie das von Bolaño zur Gänze herausgibt, sollte man editorisch ein bisschen mehr tun, ein bisschen mehr Beiwerk liefern. Und sei es nur ein Essay oder eine kleine Zusammenfassung, die vielleicht schon an anderer Stelle zu diesem Projekt oder dieser Zeit in Bolaños Leben veröffentlicht wurde. Fakt ist: Meine anfangs geäußerten Bedenken zur Veröffentlichungspolitik kann dieses Buch nicht zur Gänze eliminieren, aber es zerstreut sie erfolgreich. Mehr Bolaño bitte! Mehr Original und ein bisschen mehr Sekundäres.

 

Zu Julio Cortázars Erzählung “Die Katzen”


Die Katzen Wer ihn noch nicht kennt, dem/r rate ich, das schleunigst zu ändern. Vor allem, wenn man für jene besondere Art von Faszination anfällig und empfänglich ist, die phantastische, irreale und dennoch fesselnde Elemente erzeugen, die als bedrohliche, unheimliche und irritierende Momente innerhalb einer Erzählung eingesetzt werden und die Realität gleichsam umdeuten und hinterfragen.

Julio Cortázar hat eine Handvoll Erzählungen geschrieben, die ich wirklich liebe, die mich immer wieder begeistern (nicht zu vergessen: jenen irren Roman „Rayuela“, der gleich Joyce „Ulysses“ eine lange (möglicherweise nie endende) Vorlaufzeit braucht, bevor man ihn wirklich in Angriff nimmt, außerdem “Der Verfolger” eine der schönsten Novellen über Musik, die ich kenne). Die meisten davon sind in dem ersten Band der gesammelten Erzählungen bei Suhrkamp, „Die Nacht auf dem Rücken“, zu finden.

Viele dieser Texte arbeiten mit zwei Arten von erzählerischer Technik. Zum einen mit einer atmosphärischen Beschreibungskunst, die einem das Geschilderte nah an die Haut heranträgt. Cortázar ist kein Erzähler, der sich nur an seinen Ideen erfreut und dem es genügt, sie zu präsentieren, auszuwalzen – er will, dass die Lesenden die emotionale Komponente seiner Texte abbekommen, ja, sie ist oft die wahre Kraft, die in dem Text wirkt und die zweite Komponente als Vehikel benutzt.

Diese zweite Komponente sind die geschickt eingeflochtenen, immer tiefer verwobenen Irritationen, die aus der scheinbaren Wirklichkeit (in der man den Text zunächst verortet glaubt) eine Anderswelt machen, eine alternative Wirklichkeit, die sich bei Cortázar aber nicht als fremd entpuppt, sondern nur einen unscheinbaren Hauch entfernt ist und oft in einem kleinen Schritt, mit einer Bemerkung, in den Text eintritt und alle Spielregeln ändert. Diese Verschiebung ist immer wieder großartig zu beobachten und vollzieht sich auf so unterschiedliche Arten und Weisen, dass sich die Überraschung und Bewunderung angesichts dieses Kniffs nicht abnutzt; die Gewänder und Pointen, Ausgangspunkte und Verläufe sind vielfältig, geistreich, teilweise würde ich nicht zögern sie als genial zu bezeichnen.

Die aus dem Quasi-Nachlass stammende Erzählung „Die Katzen“ (in dieser Edition übersetzt von Henriette Terpe und Frank Henseleit, allerdings zweisprachig abgedruckt) ist ein Text aus dem Jahr 1948, kurze Zeit bevor die ersten wichtigen Erzählungen publiziert wurden. In ihr wird man keinen Tropfen jener erzählerischen Magie nach Art der zweiten Komponente finden – es gibt keine phantastischen Elemente in dieser Erzählung. Dafür tritt der erste Aspekt noch stärker hervor und die typische Aufgeladenheit einer Cortázar-Erzählung wird hier allein über den Aspekt des Emotionalen erreicht (die ja in ihren Extremen auch etwas Phantastisches, Transzendentes hat).

Schauplatz ist das Haus einer argentinischen Familie in den 40er Jahren. Carlos María wächst zusammen mit seiner Cousine im Haus seiner Eltern auf; ihre Eltern sind tot, wobei die Geschichte ihrer Herkunft nicht ganz klar ist. Die beiden Kinder spielen Verstecken, Fangen und Cowboy und Indianer – letzteres ein Spiel, das Carlos María bevorzugt, weil er seine Cousine dabei an den Marterpfahl binden kann, wo sie ihm ausgeliefert ist.
Schon zu Anfang wird klar, dass „Die Katzen“ die Geschichte einer Obsession werden wird, eine starke Anziehung zwischen den Heranwachsenden im Mittelpunkt steht. Im weiteren Verlauf wird zunächst das Widerstreben behandelt, das die beiden in Bezug auf ihre Zuneigung zueinander an den Tag legen. Die Mutter hält sie, kaum sind sie dabei in die Pubertät einzutreten, möglichst fern voneinander – und bald gesellt sich auch ein neuer Verehrer der Cousine dazu …

„Die Katzen“ ist vordergründig eine Geschichte vom Erwachsenwerden, mit einen leichten Hauch von Tabu versehen, der dann und wann hervorblitzt. Vielmehr als um die verbotene Liebe zwischen den gemeinsam aufgewachsenen Kindern, geht es um die, als prekärem Einschnitt empfundene, allgemeine Aufwallung des Begehrens; jenen Wunsch sich mit jemandem zu balgen, spielerisch wie einst als Kind, aber mit einem unterschwellig-heftigen Drang, der auf irgendeine Art und Weise „weiter“ gehen will. Keusche Verehrung und rasender Nähe- und Besitzwunsch prallen aufeinander, zusätzlich verstrickt in die sozialen Konventionen und die sich täglich wandelnden Verhältnisse, sowie die unklaren Dimensionen, als die sich die Gefühle der anderen Menschen darbieten und die man nicht aufdecken kann, nur schwerfällig ausdeuten.

Diese emotionale Achterbahnfahrt, mit all ihren kleinen Momenten, Wendepunkten, Erschütterungen, fährt Cortázar in seiner Erzählung ab, zeichnet jede neue Facette gekonnt und unreißerisch nach. Man kann den beiden Übersetzer*innen und Nachwortschreibenden nur danken, dass sie diesen Text ausgewählt haben (sowie dem Lilienfeld Verlag, dass sie ihn publiziert haben), denn in ihm wird eine weitere Qualitätsfacette von Cortázars Werk greifbar. An alle daher die Empfehlung – lesen!

Zu Richard Brautigans “In Wassermelonen Zucker”


In Wassermelonzen Zucker

Ich glaube, Sie sind neugierig darauf, zu erfahren, wer ich bin, aber ich bin keiner von denen, die einen richtigen Namen haben. Mein Name hängt von Ihnen ab.
Vielleicht war es ein Spiel, das sie als Kind gespielt haben, oder etwas, das ihnen einfach so und ohne jeden Grund eingefallen ist, als Sie alt waren und in einem Sessel am Fenster saßen.
Das ist mein Name.
Vielleicht haben sie lange in einen Fluß geschaut. Neben ihnen war jemand, der Sie liebte. Er wollte Sie berühren. Sie spürten es, bevor es passierte. Dann passierte es.
Das ist mein Name.
Oder sie hörten jemand aus großer Entfernung rufen. Seine Stimme war fast ein Echo.
Das ist mein Name.
Vielleicht war es um Mitternacht, und das Feuer schlug wie eine Glocke im Ofen.
Das ist mein Name.

Richard Brautigans dritter Roman war noch eine Spur phantastischer als seine ersten beiden, leicht hippiesken und anarchischen Werke „Forellenfischen in Amerika“ und „Ein konföderierter General uns Big Sur“. Vor allem allegorischer.

Im Prinzip hat “In Wassermelonen Zucker” etwas Märchenhaftes. Eine sehr einfache, ins Poetische sich verzweigende Sprache, ein ganz schlichter und doch individueller Ton, Brautigans erquicklich-sanfte Poesie, trägt das Buch. Die Handlung ist in sehr kleine Kapitel aufgeteilt, meist nur eine oder zwei Seiten lang.

Passieren tut eigentlich nicht viel. Man begleitet den Hauptcharakter, der keinen Namen hat (siehe Zitat oben) durch die Welt von „iDEATH“ und „Wassermelonen Zucker“, einem scheinbar paradiesischen Ort voller kleiner Flüsschen, in dem eine kleine Gemeinschaft lebt und es ein paar angenehme Beschäftigungen gibt. Eine ganzheitliche Harmonie scheint den Ort auszumachen, zu umgeben und zu durchdringen und doch ist diese Harmonie auch auf das Wesentliche reduziert. Da sin aber auch die vergessenen Dinge, Margaret und die Tiger …

Eigenbrötlerisch, utopisch, zynisch: alles Elemente dieser heiteren Idylle. Nie wieder ist Brautigan ein so leichtes Stück Prosa geglückt, außer vielleicht in manchen Geschichten aus dem „Tokio-Montana-Express“.

Die langen Spaziergänge, die ich nachts mache. Manchmal stehe ich stundenlang an einer Stelle und rühre mich so gut wie gar nicht (ich habe es schon erlebt, dass sich der Wind in meiner Hand niederließ).

Was bleibt ist eine Erzählung mit der Essenz eines tiefschürfenden, aber zarten Gedichts, eine magische Geste ist dieses Buch und doch scheitert jede Beschreibung vor der Eleganz und Unwirklichkeit dieses kleinen Juwels. Da es vor allem durch seine Unwillkürlichkeit funktioniert, ist es sicher nicht für jeden geeignet. Wer eine klare Handlung, ein klares Narrativ braucht, für den ist dieses Buch nicht das richtige (und Brautigan nicht der richtige Autor). Denn es hält sich mit Details und Spielereien, Flüchtigkeiten und Ideen auf und wenn die Handlung dann doch vorangeht, geschieht dies meist ganz unspektakulär.

Wer sich für eine kurze Weile auf einen poetischen Ort zwischen zwei Buchdeckeln einlassen will, der greife ohne Bedenken zu.

Zu Daniel Kehlmanns “Tyll”


Tyll Romane können unseren Horizont sprengen und im besten Fall setzen sie ihn dann auch wieder neu zusammen, bis wir gebannt sind von der “anderen” Wirklichkeit. Die letzten beiden Romane von Daniel Kehlmann, “Ruhm” und “F”, schienen sich bedenklich weit ins Postmoderne und in die Eigenreflexion zu neigen und sich gleichzeitig mit Zeitgeist schmücken zu wollen. In “Tyll” hat er meiner Meinung nach wieder zu dem Modus zurückgefunden, der seine stärksten Romane (für mich “Beerholms Vorstellung”, “Mahlers Zeit” und “Die Vermessung der Welt”) auszeichnet: die nahtlose Verknüpfung von Wirklichkeit und Phantastik, in deren Grauzone die ganze Palette von menschlichem Fehl und Fatum anzutreffen ist.

“Tyll” ist ein Eulenspiegelroman, ein Schelmenstück, formal wie inhaltlich, aber zugleich ist das Buch auch ein Zeitdokument. Und doch wieder nicht. Das lässt sich schwer verifizieren und auseinander differenzieren. Zu gekonnt spielt Kehlmann mit Sein und Schein, mit Fakten und Phantasmen, mit brutaler Realität und irrealem doppeltem Boden.

Den Rahmen für das Buch bildet im Wesentlichen die Zeit des dreißigjährigen Krieges von 1618-1648, allgemein eine Zeit der Unruhen und Umwälzungen, des Übergangs, auch vom Spätmittelalter in die Moderne (großartig beleuchtet wird diese Umbruchszeit in Philipp Bloms [[ASIN:3446254587 Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700]]).

Protagonist ist nicht nur Tyll, wichtige Figur ist auch Friedrich der V., Winterkönig von Böhmen und eine der unglücklichsten Gestalten der deutschen Geschichte, und seine Frau Elisabeth aus dem englisch-schottischen Hause Stuart, sowie Athanasius Kircher, eine schillernde Gelehrtenexistenz. Kehlmann schlüpft im Verlauf des Buches nicht nur in ihre Haut, sondern auch in die einiger Nebencharaktere, die den Krieg und die Zeit auf ihre Art erleben, wahrnehmen. “In die Haut” ist hier nicht nur eine rhetorische Floskel: Kehlmann entfaltet hier wieder einmal eines seiner bestechenden Talente, nämlich die authentische Intonierung der Geisteswelten, in denen sich seine Charaktere bewegen, in all ihrer Profanität und Eigenständigkeit. Ich habe schon oft gehört, dass diese Art des inneren Monologs, der detaillierten Sezierung, Leuten auf die Nerven geht, was ich wirklich nicht verstehen kann. Ich bin immer wieder fasziniert wie kompromisslos Kehlmann seine Figuren nicht nur typisiert, sondern ganz tief in ihren jeweiligen Horizonten verankert, ja, einkerkert, auch in Relation mit den Gegebenheiten, die sie umgeben, in denen sie leben müssen. Er unterwirft sie quasi vollends den Realien.

Und doch wieder nicht. Denn da ist natürlich immer mehr zwischen Himmel und Erde, als die Geschichtsbuchweisheit aufzeichnen kann; hinter der Geschichte liegen die Geschichten von unzähligen Individuen und durch sie lebt die Geschichte, aber an ihnen bricht sie auch auseinander. Das “mehr” ist nicht nur die artistische und teilweise magische Kunst des Tyll Eulenspiegel, sondern die allgemeine Unschärfe der Wirklichkeit, die Kehlmann immer wieder herausstreicht, dann wieder zerstreut, die aber nie ganz verschwindet. In dieser Unschärfe tritt nicht nur der Aberglaube, das Mystische und Mythische zutage, sondern auch die Ungeheuerlichkeit des menschlichen Geistes, der menschlichen Vorstellung: Was kann der Verstand ertragen, was kann er erdenken, wie sind Erinnerungen gebaut und erzählen wir uns nicht selbst immer Geschichten, wenn wir erinnern, gibt es Erinnerung denn überhaupt, gibt es nicht nur Narrative, die wir erdenken und über unser Leben legen? Und ist nicht Geschichte oder sogar Wirklichkeit ein Narrativ, das, ebenso erfunden, nur im größeren Stil, unser aller Erinnerung und Wahrnehmung bestimmt?

Diese Fragen tun sich auf, mitten in einem scheinbar historisch akkuraten Szenario, das auf der Mikro- und Makroebene ausgelotet wird. Und in all dem offenbart sich das Übergreifende, Unfassbare und entzieht sich gleichsam. Die Kunst der Fiktion: ein Spiel mit Möglichkeiten, die so schmerzlich nah an der Gewissheit, am Ausweg, an der Sehnsuchtserfüllung und -verdrängung liegen, dass daraus ein tiefer Spiegel wird, so tief, dass man das, was gespiegelt wird, fast nicht mehr erkennen kann.

Es gibt allerhand Gründe, Tyll zu lesen. Es ist, alle Metaphysik und Meta-Textualität beiseite lassend, auch ein recht unterhaltsames Buch, finde ich. Man muss an Kehlmanns profan-phantastischer Art der Darstellung und seiner schnörkelosen Erzählhaltung gefallen finden, sonst wird einem das Ganze ungenießbar und wenig reizvoll erscheinen. Ich plädiere aber dafür, sich genau auf dieses Ungenießbare einzulassen: denn obwohl sein Schreiben Fiktion durch und durch ist und sich nur in den entscheidenden Momenten vollkommen ernst nimmt (was dann umso deutlicher wird) – Kehlmann gelangt darin zu einer Erscheinung der Wirklichkeit, die die Profanität unseres Daseins eben nicht nur darstellt, sondern verkörpert. Das ist mitunter unbequem und unschön. Aber der Mantel der Seriosität, den die Menschen um die Historie, die Wissenschaft, die Vernunft, das Ideal, die Kunst und den guten Willen geworfen haben, er erweist sich oft als Verschleierung der darin liegenden Unseriosität. Das stellt Kehlmann immer wieder, augenzwinkernd, aber auch bezwingend, dar. Für mich: große Erzählkunst.

Ein Meisterwerk: Orwells Farm der Tiere


Als George Orwell “Animal Farm” schrieb, war es bereits sein vorletztes Buch (sein letztes sollte “1984” werden, kurz darauf starb er). Der Großteil seines Werkes war bereits, nahezu unbemerkt, erschienen, darunter dokumentarische und hellsichtige Werke wie “Mein Katalonien”. Orwell hatte als Obdachloser gelebt, war in Burma stationiert gewesen, hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft und viele Artikel und Pamphlete verfasst. Überall prangerte er soziale Missstände an und verwies, wo es ging, auf die Leistungen der schwerarbeitenden Klassen der Gesellschaft. Als ein bekennender Sozialist und Humanist interessierte ihn vor allem die existenzielle Dimension des Daseins und er sah im Kapitalismus die große Problematik für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft.

1946 erschien in der vierten Ausgabe der Zeitschrift Gangrel ein kurzer Artikel von ihm, mit dem Titel: “Warum ich schreibe”. (Auch enthalten in der Sammlung “Im Bauch des Wals”). Unter anderem schreibt er dort: “Farm der Tiere war das erste Buch, bei dem ich in vollem Bewusstsein dessen, was ich tat, versuchte, das Politische und das Künstlerische zu einem Ganzen zu verschmelzen.”

Und in der Tat ist Farm der Tiere eines der wenigen gelungen Beispiele für eine Verschmelzung von Kunstwerk und Kritik, von Parabel und Erzählung, von Engagement und Fantasie. Verschmelzung im wahrsten Sinne des Wortes, denn hier wird subtil und nachvollziehbar, in Etappen und doch im Ganzen, die Korrumpierbarkeit von Macht dargestellt und gleichzeitig ein wunderbares Märchen erzählt, so einfach und phantastisch und brutal, das es wahrhaftig als Chiffre dienen, aber auch als Lehrstück für Kinder gelesen werden kann.

Natürlich weiß nahezu jeder, worum es in Animal Farm geht und was abgebildet werden soll. Aber das kann man ganz beiseitelassen und es dann selbst erfahren, wenn man dieses wunderbare Buch liest. Es ist eine Lektüre, die einer großen Offenbarung gleicht und doch auch ein Genuss ist. Es gibt unvergleichliche und unvergessliche Figuren, es gibt Seitenhiebe und eine Komik, die so stark herauskommt und so tief trifft, dass man sich wundert, über die Kraft der Erzählung, über ihre starke Verbindung zum realen Vorbild.

Fakt ist, dass Animal Farm eines der wenigen vollkommenen Bücher ist, die ich in meinem Leben gelesen habe. Ja, das mag übertrieben klingen, aber ich bin jederzeit bereit, diese Übertreibung zu verteidigen, zu wiederholen. Hier ist eine kleine, aber umfassende, in jeder Faser gelungene Erzählung entstanden, die so viele Sinnbilder enthält, die uns zur Reflektion und zum Nachdenken zwingen und uns gleichsam tiefer in die Geschichte ziehen, beides zu gleichen Teilen. Ein (man kann es wagen, es zu sagen) Meisterwerk. Ein Buch, das jeder einmal gelesen haben sollte.

Kleine Erwähnung zu Jorge Luis Borges “Fiktionen”


Wenn ich jemandem drei Bücher empfehlen müsste, die anders sind, poetisch, phantastisch und einfach lebensverändernd; wenn jemand mir sagen würde, er wolle einmal so richtig fasziniert werden, dann würde ich ihm drei Bücher vorschlagen: Die Nacht auf dem Rücken von Borges Freund Julio Cortazár, den Sci-Fi Roman Das Wort heißt Vollkommenheit von E.A.Lynn und die Fiktionen von Jorge Luis Borges. In diesen drei Büchern steckt so viel faszinierende Verblüffung und Entdeckung, so viele Ideen, so viel Genialität, dass jede Geschichte (bzw. jeder Abschnitt) neue Wunder und Momente des Literarischen offenbart. Man kann sich immer wieder mit diesen Büchern beschäftigen.

“Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und einen Résumé, einen Kommentar vorzulegen.”

Diese Beschreibung aus dem Vorwort bezieht sich eigentlich nur auf 2-3 der hier vorkommenden Geschichten, doch in diesem Satz steckt schon eine tiefgehende Philosophie, nach der Borges alle seine Bücher verfasst hat. Keinen Roman, keine langen Arbeiten über irgendetwas. Das bringt zweierlei mit sich:
1. Die Texte sind meistens – wenn auch nicht minimalistisch – so doch in jedem Wort durchgeplant; es ist eine Art von Borges, seine Geschichten komplett aus ihrer eigenen Materie zu weben und an jeder Stelle, an der das möglich ist, flüchtige Symbolik anzubringen. Man kann die Geschichten auch einfach so lesen, ohne die Symbolik zu begreifen, aber ein unnützes Wort ist nicht enthalten – das steigert die Fülle jeder Geschichte, verdichtet das Erlebnis
und
2. Statt einen Gedankengang völlig fertig serviert zu bekommen, muss der Leser selbst oft mitdenken, wenn Borges berichtet; ja, er sollte vielleicht sogar weiterdenken. Borges erzählt die Geschichten, die Skizzen, die Andeutungen und der Leser fühlt sich mit einem Mal von einer Welt gebannt, die er zum Teil von Borges erzählt, zum Teil noch selbst erforschen kann, in dem man über die Facetten nachdenkt, die nur erwähnt blieben – man kann es auch einfacher sagen: In jede Geschichte scheint noch so etwas wie ein zusätzlicher Raum für die Phantasie des Lesers zu sein.

Borges war stets, sein ganzes Leben lang, ein begeisterter Leser und Sammler. Er sammelte gute Kriminalromane (bis heute ist diese von ihm dokumentierte Sammlung eine Fundgrube an tollem Lesestoff, ich kam so zum Beispiel auf Leo Perutz), Märchen, phantastische Erzählungen, Mythen über Himmel und Hölle, Philosophien aus allen Weltteilen und Kulturen. Seine Belesenheit und Sammlerleidenschaft spiegelt sich natürlich in jedem seiner Werke wieder, durchzieht sie, wie Oscar Wildes Märchen das Gefühl für Ästhetik und bestimmt sie, ihre Universalität und Einzigartigkeit, ihre leicht enyzklopädischen Winke und ihre überbordene Ideenreichung. Es sind intellektuelle Erzählungen, aber – sie sind auch spaßig und bei aller Gelehrtheit ist Borges doch kein Intellektueller, sondern einer, der immer wieder mit neuem Staunen die Wunder der Welt zu mehren sucht. Er ist genial und freundlich, er ist Geist und Witz. Und er hat vor allem ein Gespür für das letzte Mysterium, das letzte Phänomen und es findet sich als Ausprägung und Metapher immer wieder in seinen Texten.

“Es gibt am Abend eine Stunde, in der die Ebene kurz davor ist, etwas zu sagen; sie sagt es nie, oder vielleicht sagt sie es unaufhörlich und wir verstehen es nicht, oder wir verstehen es, aber es ist unübersetzbar wie Musik…”

Kriminalgeschichte, Philosophie, Anekdoten, menschliche & phantastische Geschichten, große Allegorien oder einfach geniale Konstruktion mit überraschendem Ende, es gibt kaum eine Disziplin, in der Borges sich nicht zu Hause fühlt und kaum eine, in dem man ihn nicht gerne liest. Die Fiktionen, mögen genau das sein: fiktive Bauten. Aber sie sind auch einige der vollkommensten ihrer Art. Und Borges ist einer dieser Schriftsteller, der mit seiner ganzen Eigenheit eine universelle Faszination geschaffen hat. Eines der besten Bücher überhaupt, ein Buch für die Insel oder für das Paradies, das nach Borges Vorstellung ja eine Bibliothek war – wo ich ihm nur zustimmen kann.

Das Phantastische in der Upper-Class-Gesellschaft – Henry James Erzählungen in “Die Freunde der Freunde”, Bibliothek von Babel Band 11


Die Passion des großen argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges war die Faszination; sie ist ein Gut, das die Menschen von jeher dazu angehalten hat, die Welt zu deuten, zu preisen, zu durchleuchten und zu bewundern. Und vielleicht liegen die größten (teilweise fiktiven, imaginierten, irrationalen, teilweise wissenschaftlichen) Errungenschaften des Menschen gerade in dieser seiner Fähigkeit der Faszination begründet. Es ist das Staunen und der darin schon angedeutete Zug des Liebenswerten und Schönen, des Wahrhaftigen, Begriffe, die wir als die höchsten Auszeichnungen des Herzens sehen.

Borges war einer der eifrigsten und erfolgreichsten Sammler von faszinierenden Geschichten, und Ideen, entnommen aus Religion, Philosophie, Literatur und Ereignissen der Geschichte und eigenen Gedanken. Sein Werk spiegelt es wieder und ist im Grunde ein einziger, langer, offenbarender Kommentar zu den Wundern des Geistes und der Welt, dem tief verborgenen Anliegen unseres Lebens, sich immer wieder neu zu entfalten, neu zu gestalten, neue Impulse zu erfinden und zu empfangen. Ich kenne kein Werk, das mich so zum Denken und Vorstellen inspiriert hätte und auf keinen Fall eines, dass sich so oft mit immer neuen Ideen und Eindrücken wieder lesen lässt.

Wie bereits schon erwähnt, war Borges ein großer Sammler – er hat einige Anthologien herausgebracht, (im Deutschen erschienen sind eine über die verschiedenen Vorstellungen von Himmel und Hölle in den Weltreligionen/-mythen, “Das Buch von Himmel und Hölle”, eine Sammlung imaginärer Wesen aus allen Weltkulturen, “Einhorn, Sphinx und Salamander”, und ein Buch voller berühmter Traumerwähnungen/-szenen aus der Weltliteratur, das “Buch der Träume”) schrieb über zahlreiche Werke seiner Zeit und unbekannte Schriftsteller der englischen und amerikanischen Literatur, führte eine Liste mit herausragenden Kriminalromanen, die er gelesen hatte und stand Pate für die Bibliothek von Babel in 30 Bänden, die die Meisterstücke phantastischer Erzählkunst beherbergen sollte.

Band 11, “Die Freunde der Freunde”, ist Henry James, gewidmet, einem mehr gesellschaftlichen als wirklich phantastischen Erzähler; zwar schrieb er auch die einzigartig mehrdeutige Erzählung “The Turn of the Screw”, die drei (oder mehr) mögliche Erklärungen für den Handlungsverlauf zulässt und somit als phantastisch bezeichnet werden kann, aber er ist doch bis heute mehr für seine akribisch-gesellschaftlichen Romane bekannt, der berühmteste natürlich das “Bildnis einer Dame”. Nach der Lektüre drei der vier enthaltenen Erzählungen muss man dieses Bild vielleicht etwas revidieren.

Henry James ist ein eleganter, umsichtiger und dennoch sehr unterkühlter Erzähler, dessen Stärke ganz klar in der Schilderung und nicht in der Lebendigkeit der Erzählung liegt. Somerset Maugham warf seinen Romanen eine starke Technisiertheit in Charakteren und Handlungsverläufen vor, Chesterton stellte die Lebendigkeit seiner Figuren in Frage. Was für die Romane gelten mag, ist in den Erzählungen nicht vorzufinden: James Figuren haben eine sehr präzise Art sie selbst zu sein und auch wenn man sie niemals mit den Adjektiven authentisch oder echt auszeichnen würde, ist ihr Gehalt und ihre Ausformung im erzählerischen Rahmen, ihre Position im narrativen Geflecht, stets tadellos und keineswegs belanglos. Auch hat James nie mit Stereotypen gearbeitet, viel mehr haben ihn immer wieder andere Menschen, andere Bedingungen für seine Figuren interessiert. Das macht jede Geschichte auf besondere Weise einzigartig, in der Wirkung wie auch in der Nachvollziehung der Handlung, da jede Figur eine einzigartige Variable darin darstellt.

Mit James Sprache ist es so eine Sache – der nicht gerade immer zielgerichtete, sondern sich mehr in die Thematik der Geschichte vertiefende (in extremen Fällen versteifende) und manchmal in (aus heutiger Sicht) etwas umständlichen Formulierungen verfallende Stil ist sowohl im Englischen als auch im Deutschen eine Herausforderung für den Leser, wobei die vorliegende deutsche Übersetzung weniger den Vorzug des Originals hat, in dieser altmodischen Syntax einer gewissen Eloquenz und Eleganz nicht zu entbehren (dieser Satz von mir auch direkt als Beispiel für die etwas umständliche Art der Formulierung von James).

Die Geschichten selbst sind Musterbeispiele jener Literatur, die verschiedene Menschen zusammenbringt, um die Konflikte des menschlichen Wesen und die Erkenntnisse über selbiges aus dem Umgang zu filtern. Übergreifend geht es dabei in allen vier Texten um die Art, wie Menschen wahrgenommen werden und in wie weit die Identität und das Verständnis eines Menschen von gesellschaftlichen Umständen abhängig sind. Das diese Erzählungen dabei ins Phantastische stechen, gibt ihnen den Zug des Geheimnisvollen und es ist James sehr gut ausgeloteter Balance zu verdanken, dass die Geschichten trotzdem nie irreal oder grotesk werden – vielmehr berühren sie die Ränder des Unheimlichen, der Ungewissheit, die stets in den abgelegenen Räumen des Lebens präsent zu sein scheint, sich manchmal aber auch am Rande unseres Dasein manifestiert, andeutet, ein Ansatz abnormaler Tendenz, welcher uns dann und wann voll durchdringt.

Wer gerne altmodische Erzählungen liest und dabei Freude an phantastischen Elementen & Wendungen und einer Anwandlung des Rätselhaften findet, der kann mit diesem Buch nichts falsch machen und wird es in dankbarer Erinnerung behalten. Es ist vollmundig und lässt kaum einen Wunsch beim Leser offen, dafür gibt es ihm, mit der Mehrdeutigkeit im Wesen der Erzählungen, hier und da etwas zum Nachdenken und auch wenn die Geschichten keine Parabeln an sich sind, haben sie diese spezielle Wirkung, die so etwas wie tiefer eingesetzte Erkenntnis in dem Geschehnisgerüst der Narration vermutet. Diese spezielle Wirkung, welche die Geschichten nie ganz als abgeschlossen sehen kann, lässt die Idee der Texte noch lange nachglimmen.

Link zum Buch

“Das Gefängnis der Freiheit” – Über Michael Ende’s Erzählband


“Wenn es sich aber so verhält, wenn Zeit nichts anderes ist als die Art und Weise, wie unser Bewusstsein eine Welt wahrnimmt, die ohne Zeit ist, warum sollte es dann nicht auch Erinnerungen geben an etwas, das uns erst in naher oder ferner Zukunft widerfahren wird?”
(S. 64)

Ein Geleit durch unerreichbare Länder sind jene Geschichten, die wir phantastisch nennen, und die heute meist dem Science-Fiction oder der Fantasy zuzuordnen sind; doch es gibt auch jenseits dieser Genres phantastische Literatur: Geschichten, die Randphänomene menschlicher Lebenswirklichkeit, wie Träume oder Mystik, unerklärliche Geschehnisse und Zaubertricks, mit einer gewohnten Erzählstruktur verbinden und daraus eine phantastische Erfahrung kombinieren, die nicht allein unsere Vorstellungskraft anspricht, sondern vor allem unser Staunen über die möglichen Untiefen der Wirklichkeit belebt.

Michael Ende, der die phantastischen Welten seiner Kinderbücher immer wieder auf besondere Art mit Facetten unserer wunderlichen und wunderbaren Wirklichkeit zu durchdringen vermochte (indem er z.B. die Realität mit einem phantastischen Element kontrastiere und so nicht nur die Macht der Fantasie, sondern auch die Schönheit der Realität hervorhob, ohne die seine fantasiereiche, gesteigerte Variante ja gar nicht denkbar gewesen wäre – oder indem er seinen Welten trotz ihrer phantastischen Weiten die menschlichen Gefühle und Sehnsüchte zur Seite stellte). Neben seinen Kinderbüchern hat sich Ende auch in einigen Erzählungen, Märchen, Aphorismen und Betrachtungen der Faszination von Wirklichkeit, Wünschen, Spirituellem und Träumen gewidmet.

“dass nämlich zur Erfahrung der Wirklichkeit außer dem Nur-Faktischen auch ein erkennendes Bewusstsein gehört, das dieses Faktische erst realisiert, dann ist es wohl nicht allzu gewagt zu folgern, dass also die Beschaffenheit der jeweiligen Wirklichkeit von der Beschaffenheit des jeweiligen Bewusstsein abhängt. Da letzteres jedoch, wie man weiß, keineswegs bei allen Menschen und in allen Völkern gleich ist, kann man mit Recht annehmen, dass es an verschiedenen Orten der Erde verschiedenen Wirklichkeiten gibt, ja dass an ein- und demselben Ort durchaus mehrere Wirklichkeiten vorhanden sein können.”
(S. 81)

Die Erzählungen in diesem Band sind allesamt der Tradition von erzählten Geschichten verpflichtet, es geht nicht um Zwischenmenschliches, es geht um Lebenswege und Gleichnisse, die sich um das Suchen und Entdecken drehen. Der Protagonist der ersten Geschichte ist ein Mann, der in Hotels rund um die Welt unter der Obhut des Vaters und ein-zwei Dienern aufwächst und ein gedämpftes, unwirkliches Leben fristet, bis er zum ersten Mal zufällig auf jemanden trifft, der Heimweh hat. Heimweh, Heimat, ein Zuhause? – etwas, das er nicht kennt. Aber alle bekommen diese wehmütige Art wenn sie davon reden. Auch wer will so etwas haben und sucht von da an sein ganzes Leben nach diesem Ort…
Während diese erste Erzählung noch in das Gewand einer gewöhnlichen, profanen Lebensgeschichte gehüllt ist, wird der Leser in einer anderen Erzählung in eine geradezu kafkaesk anmutende, totalitäre Schattenwelt geworfen, in der die Lebewesen in unveränderlichen Tagesrhythmen in einem unveränderlichen, unendlichen Tunnelsystem leben; wiederum in einer weiteren Erzählung, befindet er sich in den spirituellen Gleichniswelten des Korans, in denen ein dem Glauben entfallener sich mit dem Gefängnis der Freiheit auseinandersetzen muss. Und dann ist da noch jener Korridor in Rom, der ein physisch gewordenes mathematisches Problem darstellt …

Gute phantastische Literatur bezieht ihre größte Faszination nicht allein aus der reinen Fabulierkunst. Es ist die verschwimmende Grenze, das Abtasten der Wirklichkeit, das die erstaunlichsten phantastischen Erzählungen ausmacht, von Borges über Cortazar, von Lovecraft über Kehlmann bis zu diesen Geschichten Michael Ende. Denn die Wirklichkeit eines phantastischen Textes, einer phantastischen Welt, ist ein eigener Bereich, der aus Elementen der realen Wirklichkeit und der denkbaren Wirklichkeit erschaffen wird und wo die realen Elemente von der phantastischen Wirklichkeit in Beschlag genommen werden, aber umgekehrt auch die phantastischen von den realen. So entsteht eine Ebene, die man geheimnisvoll, rätselhaft nennen würde. Sie grenzt sich von der Realität nur dadurch ab, dass sie erdacht wurde, trägt aber Teile in sich, die durchaus in Bereichen unserer Lebenswirklichkeit greifen könnten, darin präsent sind.

Das ist natürlich mehr die interpretative Seite. Der Leser kann diese Seite ebenso gut mit Genuss ignorieren und diese Erzählungen so lesen, wie Ende sie sicherlich verstanden sehen wollte: als Geschichten mit fantasievollen Zügen, mit Ideen, die eine übergreifende Vorstellung erzeugen können, von der Bedeutung des Glücks, der Vorstellungskraft und vielem anderen. Ende war ein Geschichtenerzähler und er war sicherlich noch mehr als das. Aber allein wegen ersterem lohnt es sich schon, ihn zu lesen – die eigene Fantasie seinen kleinen Welten, Lebensläufen und Parabeln anzuvertrauen.

Casares Roman “Morels Erfindung”


Die großen Unbekannten der Literaturwelt, die vergessenen Phantasten, Denker, Individualisten und ihre Werke, habe ich immer als sehr reizvoll empfunden. Denn diese ihre Ceuvres scheinen auf seltsame Weise alle miteinander verbunden zu sein, durch die Originalität ihrer Ideen, durch ihre Innovationen in Raum-, Zeit- und Gedankensphären und natürlich wegen der komplexe Faszination, die sie bieten. Ich bin mir sicher: Würde man alle großen Werke von Ausnahmeliteraten wie Bioy Casares (oder Georges Perec, Djuna Barnes, Borges und Julio Cortazár etc.) versammeln und lesen, wäre man derart inspiriert, dass man wahrscheinlich selbst nicht darum herum käme, das Universum als eine Realität in sehr vielen verschiedenen Fassungen zu betrachten und das Spiel der Gedanken als ein Spiel des Lebens anzuerkennen, in dem auch das Phantastische, die Ideen jenseits der Realität, eine Wirklichkeit haben, weil sie als Ideen zur Dimension des Daseins dazugehören. Wie sagte Borges doch:”und wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob das Universum ein Beispiel für phantastische Literatur oder für Realismus ist.

Nur wenigen ist Adolfo Bioy Casares ein Begriff; sehr viel bekannter dürfte eben sein enger Freud Borges sein, der auch ein kurzes Nachwort zu diesem Roman geschrieben hat; einige phantastische Geschichten und Kriminalerzählungen, haben die beiden zusammen verfasst, sie finden sich in den letzten beiden Bänden der Borges Werkausgabe (Mord nach Modell & Zwielicht und Pomp) und wurden von beiden Schriftstellern oft als ihre gelungensten Werke bezeichnet.

Bioy Casares war unter vielen Pseudonymen tätig und umfassend lässt sich die Größe und Form seines Werks heute kaum mehr kartographieren. Er hat viele Erzählungen geschrieben, im späteren Verlauf seines Lebens waren es häufig Liebesgeschichten, die er jedoch mit sehr vielen anderen Genres und einem phantastischen, historischen oder innerlichen Element verknüpfte. Seine Romane sind allesamt sehr Südamerikabezogen und deshalb schwer zur Weltliteratur zu zählen; die Ausnahme bildet dieses Buch, das weite Kreise gezogen hat; so wird Bioy Casares Buch heute sogar teilweise der Anstoß zur Idee für die Fernsehserie “Lost” zugesprochen.

“Die Musik stellte sich wieder ein, und ich stand da mit umflorten Augen, bestrickt von innerer Harmonie, erstarrt, bis ich mich im tiefsten entsetzte…
Eine Weile später ging ich zum Fenster. Das Wasser, hell und glanzlos auf der Scheibe, tiefdunkel in der Luft, ließ kaum etwas erkennen…”

Moderne SciFi ist meist nicht mehr bloße “Science”-“Fiction”. Der moderne Roman, der sich größtenteils von der einfachen Abenteuergeschichte abgewandt und dem psychologisch-realistischen Erzählen zugewandt hat, stößt im Genre des SciFi und der Fantasy immer noch an Grenzen, weil sich die Psychologie schwer in die abenteuerliche, phantastische Struktur dieser Werke integrieren lässt und oft die Faszination und Spannung dieser Werke mildern würde; doch die modernen Richtung dieser beiden Genres haben eine andere Form (bei Fantasy-Werken könnte man sogar sagen, das diese Richtung bei ihnen die erste war, wenn man “Der Herr der Ringe” als erstes/prägendes Werk des Genres bezeichnet) der Entwicklung gefunden: sie verknüpfen ihre Abenteuer oft mit Mystik oder metaphysischen Ansätzen. Gute Beispiele dafür sind Elemente wie die Macht in Star Wars und viele andere Filme und Bücher, die eine neue Welt dazu nutzen auch andere denkbare spirituelle und metaphysische Konzepte (manchmal zusammen mit besonderen Situationen oder komplett neuen Völkern) zu entwerfen.
Parabeln, Parodien, Metaphern, Gleichnisse, Anlehnungen, Anprangerungen, Satire u.v.a; der inhaltlich nach dem Ermessen des Autors zu gestaltende Raum bietet die Möglichkeit, durch andere Kunstwelten hindurch universelle Ideen und Fragen ins menschliche Bewusstsein zu säen. Wie sagte Coleridge: “Man halte der Welt einen Spiegel vor und sie wird glauben sie sähe bloß noch einmal, was sie täglich sieht; aber halte ihr ein Kunstwerk vor und sie wird versuchen zu ergründen, was es für sie bedeutet.”

Nun zum Roman:

Ein Venezolaner flieht vor der Justiz auf eine einsame, sehr kleine Insel; sie gilt bei den Kapitänen und Seeleuten als verflucht, doch gerade deshalb hofft der Mann dort vorerst sicher zu sein. Er findet drei Gebäude und diverse kleinere Anlagen vor, aber keine Menschen. Das “Museum”, ein hotelgroßes und auch so eingerichtetes Gebäude, dient ihm mit seinen Lebensmittelvorräten die nächsten Tage als Wohnplatz. Doch die erste Ruhe wird je von einer merkwürdigen Gesellschaft von Leuten unterbrochen, die jäh, von einem Tag auf den anderen, auf der Insel erscheinen und deren gesamten Bereich  (abgesehen von den Niederungen und dem Gehölz) für sich in Besitz nehmen. Schnell wird dem Leser jedoch klar, dass diese Menschen für den Protagonisten, der jetzt Tagebuch (das Buch besteht aus seinen Aufzeichnungen) führt, keine Gefahr darstellen, da sie ihn anscheinend weder wahrnehmen noch auf seine Versuche sie anzusprechen oder zu erschrecken reagieren. Der Protagonist hält dies für eine Finte, um ihn in Sicherheit zu wiegen, doch schon bald kristallisiert sich die Wahrheit heraus: Die Menschen auf der Insel waren hier, sind es aber eigentlich nicht mehr – geblieben ist eine Erfindung, die ihren Schöpfer überlebt hat und eine Idee von metaphysischer Tragweite besitzt…

Bioy Casares Sprache ist nicht immer glatt und schön, aber sie ist intelligent. Sie schafft es, sowohl die Verwirrung des Protagonisten, seine Gedankensprünge, aber auch sein gehetztes Wesen einzufangen. Trotzdem ist es nicht immer leicht das Buch zu lesen, gerade weil ein-zwei Teile doch etwas misslungen oder verkompliziert erscheinen. Im Ganzen war das Buch aber wirklich eine Offenbarung, zumindest was die Idee (und die Umsetzung der Idee) angeht und einige Nebenbemerkungen hier und da erscheinen einem wie perfekte Aphorismen.

Pageturnerspannung oder eine einfache Sci-Fi Story sollte man nicht erwarten; vielmehr ist dieses Buch tatsächlich wie ein realistischer Bericht verfasst und alles ist darauf ausgerichtet, aus einem bestimmten Blickwinkel die Geschichte zu erzählen und es wurde nicht versucht die Idee oder den Plot zugänglicher zu machen; der Leser muss größtenteils selbst mit- und gegendenken und kann sich schwerlich allein von den Aussagen des Berichts leiten lassen. Am Ende kommt es bei diesem Buch vor allem darauf an, wie man die Idee begreift und sie weiterdenkt. Der wahre Gewinn steckt nicht so sehr in der Handlung selbst, sondern vielmehr in ihrem Hang ganz und gar symbolisch zu sein. So symbolisch, dass sie einem mit ihrer Dimensionalität noch lange im Gedächtnis bleibt.

Link zum Buch

*diese Rezension ist teilweise schon auf Amazon.de erschienen