Es ist symptomatisch, veranschaulicht zusätzlich die im Rahmen dieses Buch angelegte Diskrepanz (oder Asymmetrie): der Fokus der meisten angloamerikanischen Besprechungen zu Lisa Hallidays Debüt lag beinahe ausnahmslos auf dem ersten Abschnitt des Buches, seinen Hintergründen und Umständen. Immer wieder wurden diese Hintergründe und Zusammenhänge heruntergerattert (und auf gewisse Weise schließe ich micht mit meiner Kritik daran diesem Trend leider an): Der erste Abschnitt beschreibt die romantische Affäre zwischen einem alten jüdischen Schriftsteller, der alle höchsten literarischen Ehrungen erhalten hat (außer dem Nobelpreis), und einer jungen Verlagslektorin in New York; man weiß: Halliday und der amerikanische Autor Philipp Roth hatten eine Beziehung miteinander als sie jünger war; Roth gefiel das Buch, er lobte es; Halliday betont, dass der größte Teil Fiktion sei. Ring frei für wilde Spekulationen oder ebenmäßige Erläuterungen. Schon konnte man meinen, das Buch enthalte nur diese Geschichte.
Das deutsche Cover präsentiert uns dementsprechend eine Skyline und auf dem Umschlagrücken steht:
Es beginnt mit einer Eiswaffel, auf einer Bank im Central Park.
Zwar wird weiter unten auch auf den zweiten Teil des Buches hingewiesen, der am Londoner Flughafen Heathrow und, in Rückblenden, im Irak und in Kalifornien spielt, aber ein flüchtiger Blick könnte den Eindruck vermitteln, hier handle es sich um eine New York-Geschichte, einen von der anderen Seite erzählten Philipp Roth-Plot. Da ich aber diesen ersten Teil tatsächlich für weniger gelungen halte – sowohl was die Figuren als auch was die Inszenierung angeht – wende ich mich zunächst dem zweiten Teil zu.
Amar wurde in einem Flugzeug, das gerade die USA überquerte, als Kind irakischer Eltern geboren. Wegen diese besonderen (und symbolträchtigen) Umstände, hat er beide Staatsbürgerschaften, die irakische und die amerikanische. Für ihn bleiben die Vereinigten Staaten das Land der Wahl, obgleich er wegen seiner Familie, vor allem wegen seines dort lebenden Bruders, nie den Kontakt zu dem Land seiner Abstammung verliert. Doch die Geschichte der irakisch-amerikanischen Beziehung im späten 20. Jahrhunderts ist, wie alle wissen, eine wechselhafte, letztlich desaströse. Am Anfang noch wird Saddam Hussein von den Amerikanern als Gegenpol zu der iranischen Revolution aufgerüstet, doch mit seinem Einmarsch in Kuwait und mit dem ersten Golfkrieg ändern sich die Gegebenheiten; und sie ändern sich wiederum als Saddam Hussein stürzt und mit ihm das Land, nämlich in noch größeres Chaos.
Als wir Amar begegnen, wird er gerade am Flughafen Heathrow festgehalten, ohne greifbaren Grund, vermutlich schlicht, weil er aus den USA kommt, Amerikaner ist, aber zwei Pässe hat, und gerade über die Türkei in den Irak einreisen will. Ein langes Warten beginnt, in dessen Verlauf Amar – angeregt durch die aktuellen Ereignisse, den Punkt an dem er jetzt in seinem Leben steht – an die Stationen seiner Lebensgeschichte zurückdenkt und in welcher Beziehung sie zu seiner doppelten Nationalität standen. Lisa Halliday gelingt (obgleich ich bei den vielen Zeitsprüngen nicht ganz mitgekommen bin und eine genaue Chronologie nicht nachzeichnen könnte) ein gut aufgefächertes Panorama, in dem sich unwillkürlich die vielen Facetten der US-amerikanischen Mentalität und der Unterschiede zur Mentalität im Nahen Osten auftun.
Auch sehr zugute halten muss man Halliday, dass sie aus Amar keinen Amboss macht, auf dem sie eine große Theorie über den Irakkrieg, die US-amerikanische Außen- und Einmischungspolitik und die Gefahren des 21. Jahrhunderts schmiedet. Die Figur und ihre begrenzte Perspektive, Amars ganz eigene Erfahrungen, stehen im Mittelpunkt; in dieser Perspektive, diesen Erfahrungen, spiegeln sich natürlich allerlei Ansätze von größeren Themen und Realitäten, die von einem Bild des modernen Irak bis zu den Wurzeln von Donald Trumps Repressionen gegen muslimische Bürger*innen reichen. Amars Lebensweg erscheint authentisch, mit allen Wendungen; die Geschichte seiner Familie, das darin schwingende Pendel zwischen USA und Nahost, wirkt gleichsam exemplarisch und individuell. Auch an der Art, wie Halliday Rückblenden und Gedankengänge sprachlich inszeniert, ist wenig auszusetzen – klug lässt sie die Unsicherheit und die Anspannung von Amar einfließen in die Struktur und den Verlauf seiner Überlegungen, seiner Erzählung.
Kurzum: Würde in diesem Buch nur diese Geschichte erzählt, es wäre nur 110 Seiten lang, aber es wäre eine beeindruckende menschliche Studie, ein gelungenes Porträt. Aber alles beginnt ja auf einer Parkbank im Zentralpark.
Während ich die Beschaffenheit der asymmetrischen Komponente im zweiten Teil für sehr vielschichtig und komplex halte, wirkt sie im ersten Teil geradezu plump: hier wirkt nichts wirklich asymmetrisch. Was trennt die beiden „ungleichen“ Liebenden, den Starschriftsteller Ezra Blazer und die Juniorlektorin Alice, anderes als das Alter? Nun will ich keineswegs behaupten, dass eine Geschichte über Liebende grundverschiedenen Alters nicht interessant sein kann oder ein alter Hut ist. Nichts Menschliches ist ein alter Hut und wenn jemand (oder eine ganze Gesellschaft) von etwas übersättig ist, dann hat das ebenso viel mit der Nachfrage zu tun wie mit dem Angebot.
Mir geht es also in Bezug auf diesen ersten Abschnitt nicht nur um die mangelnde Innovation. Er wirkt einfach trocken und nicht gut inszeniert, uninspiriert, scheint sich von einer Szene zur nächsten zu hangeln, als müsste die Autorin die 150 Seiten-Marke erreichen. Als Einwand könnte geltend gemacht werden: aber vielleicht geht es ja genau darum, um eine ungeschönte Darstellung, das Unaufgeregte, den Alltag eines Paares, dessen Alter weit auseinander liegt. Mag sein. Aber ich möchte dann schon verstehen, wie dieses Paar emotional ineinander verwickelt ist. Ich möchte die Figuren im Spiegel ihres Umgangs kennenlernen. Beides passiert nicht. Stattdessen laviert das Buch vor sich hin, in Sätzen und Szenen, die wohl Symptomatisches, Doppelbödiges enthalten und Zwischenräume lassen sollen, aber einfach nur wie zu dünn aufgetragen, zu baufällig gezimmert wirken. Dialoge wie dieser sollen vielleicht knapp und gleichsam hintergründig wirken, sparsam und feingliedrig:
Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug die goldene Medaille vom Weißen Haus, die er an den Griff gebunden hatte, laut klappernd gegen die Tür. Alice ging wieder zum Bett.
„Liebling“, sagte er. „Ich kann kein Kondom tragen. Niemand kann das.“
„Okay.“
„Was machen wir dann wegen Krankheiten?“
„Na ja, also ich vertraue dir, wenn du …“
„Du solltest niemandem vertrauen. Was, wenn du schwanger wirst?“
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich würde abtreiben.“
Als sie sich später im Bad wusch, reichte er ihr ein Glas Weißwein durch die Tür.
Aber sie wirken stattdessen unausgereift, apathisch manchmal, wie ohne Hintergrund und Inhalt, wie eine Hülle. Ich erfahre zwar alles Mögliche über die beiden Figuren und was sie miteinander machen, wie sie leben – aber ich erfahre nichts über sie; es gibt keinen Moment, wo sie heraustreten aus ihren Beschreibungen, dreidimensional werden.
Ist das die Asymmetrie? Hier die Oberfläche einer Liebesgeschichte, die Neurose der amerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts adaptierend und glättend, und auf der anderen Seite die Tiefe einer menschlichen Psyche, zerrissen zwischen der Dominanz der US-amerikanischen Lebensweise auf der einen und den Auswirkungen dieser Dominanz auf der anderen Seite? Gut, das taugt was, als großes Bild, aber es macht diese erste Geschichte nicht besser, nicht lesenswerter. Vor allem nicht als Fiktion. Als autobiographischer Bericht (wie einst die Geschichte von Joyce Maynard über ihre Zeit mit J. D. Salinger) würde diese Story vielleicht noch etwas hergeben. So wirkt sie zahm, lahm, allzu glatt, ohne wirkliche Einfühlungsmöglichkeiten, ohne Reiz.
Auch als Liebeserklärung an den Autor Philipp Roth oder sein Schreiben, kann man diesen ersten Abschnitt nicht gelten lassen – diese Absicht ließe sich am ehesten im dritten, kürzesten Teil finden. Dieser dritte Abschnitt ist ein Interview mit Ezra Blazer, bei dem er über seine Lieblingsmusik sprechen soll, wie sie seine Biographie begleitet und geprägt hat. Dieser dritte Teil ist gelungen und obgleich Blazer auch hier ein bisschen wie ein Platzhalter wirkt und ganz klar als Figur auftritt, ist doch sehr viel mehr Leben in diesem kurzen Abschnitt als auf den ganzen ersten 150 Seiten.
Fazit: Ja, Lisa Halliday ist eine gute Autorin, aber die ersten Seiten ihres Debüts wirken bemüht und etwas einfallslos; sie wagt viel zu wenig. Die Chance, die in der Darstellung einer solchen Beziehung aus weiblicher Perspektive liegt, lässt sie ungenutzt verstreichen und bringt fahrlässig wenig von den Emotionen und der Persönlichkeit ihrer Protagonistin ein. Der zweite Teil ist wie gesagt beeindruckend, bestechend. Der dritte ein schöner Schluss, elegant. Hätte man den ersten Teil um 100 Seiten gekürzt oder anders inszeniert, wäre es ein tolles Buch geworden. Wobei der Titel „Asymmetrie“ immer noch ein wenig hochgegriffen wirken würde, den dafür kommunizieren Teil 1 und 2 einfach zu wenig und selbst die oben angesprochene Idee stellt die Teile zwar einander gegenüber, aber verknüpft sie nicht wirklich miteinander. Das Ungleichgewicht ist ein ästhetisches, kein konzeptionelles.