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Wie es sich verhielt, verhält


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„Die Verantwortung freier Menschen liegt darin, den Konstanten des Lebens zu trauen und sie zu feiern – Geburt, Kampf und Tod sind Konstanten genau wie Liebe, auch wenn uns das nicht immer so scheinen mag – und das Wesen von Veränderung zu erfassen, zur Veränderung bereit zu sein. […] unmöglich, wenn man von Konstanten ausgeht, die keine sind – Sicherheit zum Beispiel oder Geld oder Macht.“

(James Baldwin in „Nach der Flut das Feuer“, 1963 – in diesem Buch zitiert von Deniz Utlu, geb. 1983)

Gute, divers angelegte Anthologien zu gesellschaftlichen Themen sind selten und wichtig. Ich habe in den letzten Jahren einige spannende gelesen, die sich u.a. mit Fremdenfeindlichkeit und (Alltags-)rassismus („Eure Heimat ist unser Alptraum“, Ullstein 2019), Sexismus, sexual harassment und Misogynie („Sagte sie“, Hanser Berlin 2018) und Diversität im Stadt(er)leben („FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte“, Verbrecher Verlag 2019) auseinandergesetzt haben. 

Mit „Wir. Gestern. Heute. Hier.“ ist nun eine Anthologie bei Piper erschienen, in der, so der Untertitel, „Texte zum Wandel unserer politischen Werte“ versammelt sind. Ein sehr allgemeiner Titel, der auf vieles hoffen lässt. Und in der Tat wird einiges in den Texten verhandelt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ein leichter Schwerpunkt auf einem Phänomen liegt, das aus unterschiedlichsten Perspektiven (die natürlich noch andere The- und Problematiken mit sich bringen) beleuchtet wird: Der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1989/1990 (oft mit Begriffen wie „Wende“, „Wiedervereinigung“ und „Mauerfall“ in Verbindung gebracht, die in ihren Implikationen auf die ein oder andere Weise durchaus problematisch sind), sowie die damit verbundenen Ereignisse und, vor allem, die Folgen.

Dieser Fokus erweist sich aber schnell als Feature, nicht als Fehler, da sich im Spiegel dieses Knackpunktes der jüngeren deutschen Geschichte ein sehr vielfältiges Bild der Gegenwart und ihrer Hintergründe, und somit vieler, wenn auch nicht aller, gesellschaftlichen Probleme der letzten 30 Jahre (und davor) (re)konstruieren lässt. 

„Die autoritäre Phantasie, die heute ganz Deutschland bedroht: Viele von uns Wendekindern sahen sie damals schon bei unsren Freunden und Verwandten. Und wir standen hilflos vor einem West-Mainstream, der das alles für vernachlässigenswert hielt.
Wenn sich unsere Generation heute meldet und versucht, ihre Erfahrungen in das kollektive Gedächtnis einzuspeisen, dann ist das nicht nur eine Privatsache, dann geht es nicht nur um Kindheitsaufarbeitung. Es geht darum, einen Teil Deutschlands sichtbar zu machen, der das ganze Land immer stärker prägt. […] Zeit, davon zu erzählen.“

(Christian Bangel, geb. 1979)

1990, dieses Datum steht im Kleinen für das Ende der Teilung der beiden deutschen Staaten, im Großen aber für den Anfang einer neuen Epoche mit vielen, ausufernden Entwicklungen: Globalisierung und digitale Revolution, Krieg gegen den Terror und arabischer Frühling (mit anschließenden Bürgerkriegen), Massen an Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger und das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich, Finanz- und Eurokrise, Fridays for Future und neuer Rechtsruck. Ich will nicht behaupten, dass all diese Entwicklungen ihren Ursprung im Ende des Kalten Krieges haben/danach erst begannen, aber in vielerlei Hinsicht traten sie nach seinem Ende verstärkt zutage/änderten sich danach Gegebenheiten, die ihnen Vorschub leisteten. 

Es gibt einige Texte in der Anthologie, die sich direkt mit den Realitäten in Ostdeutschland (vielfach: der Perspektivenlosigkeit der Menschen und aufkommendem Rechtsradikalismus) auseinandersetzen, meist in autobiographischer Manier, aber auch fiktiv – u.a. von Christian Bangel, Antje Rávik Strubel, Daniel Schulz, Miku Sophie Kühmel, Jan Böttcher, Julia Schoch, Lukas Rietzschel. Darüber hinaus gibt es einige sehr gute Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex Heimat/Fremde (und auch: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus), u.a. von Deniz Utlu, Katerina Poladjan, Senthuran Varatharajah, Kathrin Röggla und Stephan Thome. Letzterer erzählt von einem Heimatfest, dem Grenzgang in Biedenkopf, bei dem eine als „Mohr“ bezeichnete Person die Prozession anführt. Thome begibt sich auf die historische Spur dieser Gestalt, die von Kritiker*innen als rassistisch, von den Einwohner*innen schlicht als Tradition verstanden und proklamiert wird. Beide machen es sich dabei, wie Thome zeigt, zu einfach. Sein Text legt auf faszinierende Weise Problematiken zu den Ideen von Heimat, Identität und Tradition frei.

„Wenn wir Heimat mit Ausdrücken wie Vertrautheit und Geborgenheit assoziieren, zielen wir auf die Entlastungsfunktion einer Umgebung, in der wir uns problemlos zurechtfinden. Weder gibt es Sprachbarrieren, noch besteht die Gefahr, sich zu verlaufen. In dieser Problemlosigkeit liegt eine subtile Gratifikation, die ich mir nicht verdienen muss, sondern sie erhalte, eben ohne etwas zu tun – ich bin richtig, nämlich zu Hause. […] Dass Identität aus der Anverwandlung des Fremden resultiert, ist ein Gedanke, mit dem man sich in Deutschland eher schwertut. Vor allem die kulturelle Identität gehört für uns eher in die Nähe des Erbes als der Arbeit, sie ist mehr Zustand als Prozess, wir fragen nach ihrem Wesen statt nach ihren Möglichkeiten und sehen uns am Ende genötigt, zu verteidigen, was eigentlich zu entwickeln wäre.“

(Stephan Thome, geb. 1972)

Ein weiterer Text, den ich hervorheben möchte, ist der Essay „Aufwach(s)bilder in Schichten“ von Ulrike Draesner, ein eindringlicher, in seinen Ausschlägen poetischer, ungeheuer widerständiger Text, der viel abdeckt, vom Altnazitum über Rassismus bis zu Sexismus. Es ist ein mäanderndes Gebilde, das seine Sprache abwechselnd fließen und stocken lässt und ein großartiges Beispiel für eine unverstellte, aber dennoch mannigfaltige Darstellung; ein Bericht über die problematischen Zustände in allen Zeiten, nach dem Krieg, vor 1990, nach 1990. 

„Um uns herum lebten Menschen aus dem Krieg. Der Nachbar hatte nur ein Bein. andere hatten zwei Beine und eine Gesinnung. Einer von ihnen schlug auf dem Gehweg nach meinen Beinen, als ich als Mädchen in Hosen an ihm vorüberging. Viele sehr schlecht gelaunte Menschen Menschen fuhren Straßenbahn. Ihre Hände waren aus Eisen. Dass sie Exnazis waren oder Noch Nochnazis, wurde später klar (s. die Witwen aus München und Argentinien).
Versehrte waren fast alle.
Eine brutalisierte Gesellschaft.“

(Ulrike Draesner, geb. 1962)

Von Tschernobyl bis Unterdorf, vom schnörkellosen Bericht bis zum feingliedrigen Arrangement, so groß ist die Bandbreite dieses Buches. Man könnte noch viel zu den einzelnen Texten schreiben, zu dem Strudel aus Erinnerungsfacetten, in den man bei Lara Hampes Text gerät, zu der Komik in David Wagners Telefongesprächsgeschichte, zu dem Titel von Julia Schoch („Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen“), zum schnell skizzierten und doch reichen Innenleben von Miku Sophie Kühmels Figuren, etc., etc. 

Eine letzte Erwähnung möchte ich dem vorletzten Text des Bandes zuteilwerden lassen, Helene Bukowskis „Teppichparadies“. Ein Bericht über ein Aufwachsen nach 1990, aber auch Bericht über den Wandel der Welt, wie man sie kennt und dann nicht wiedererkennt. Eine Meditation über Privilegien, Verhältnis(und Unverhältnis-)mässigkeiten und die Frage nach dem: was nun/was tun?, mit der uns die Autorin, nachdem viele Texte über die Vergangenheit reflektiert haben, in die Gegenwart, in die Zukunft entlässt: 

„Dort, wo ich liege, bin ich von all dem weit entfernt. Der ICE hält in Berlin an vielen Stellen. Man könnte fast glauben, niemand hätte was zu befürchten. Das Leben hier in einer Blase, bequem. Für mich sogar noch bequemer als für andere. Durch meine Hautfarbe und die Sprache, die ich spreche. Niemals verdächtigt aufgrund des Aussehens. Ich falle durch kein Raster. Muss nicht gerade ich deshalb etwas riskieren?“

(Helene Bukowksi, geb. 1993) 

Zu Denis Schecks “Kanon”


Schecks Kanon Wieder jemand, der unbedingt mit einem Kanon auf Spatzen schießen will oder besser gesagt: auf die Zugvögel, die die Menschen heute sind, ziehend von Eindruck zu Eindruck und wenig interessiert am Verweilen vor dem Buch, geschweige denn dem Klassiker, was immer das jetzt wieder sein soll? Dennis Scheck ist aber schon mal so clever nicht von „dem“ Kanon, sondern lediglich von seinem eigenen zu reden und überzeugt im Vorwort durchaus mit hehren Absichten.

Weder will er, so schreibt er dort, sich in Geschmacksfragen verirren und wichtige Bereiche der vielfältigen literarischen Landkarte dabei unterschlagen, noch will er es sich nehmen lassen, vor allem und allein seine Lieblinge auszustellen. Klingt schon sehr nach der Quadratur des Kreises, doch am Ende von Schecks Liste mit 100 Büchern sieht das, was sich da entfaltet hat, tatsächlich sowohl einem Kreis als auch einem Quadrat nicht unähnlich.

Denn in der Tat berücksichtigt er in seinem Kanon nicht nur viele Autorinnen, sondern auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“ und Ngũgĩ wa Thiong’os großartiges Werk „Der Herr der Krähen“, „Omeros“ von Derek Walcott, Sei Shonagons „Kopkissenbuch“ und einige andere Bücher aus nicht westlichen Kontexten. Zusätzlich bricht Scheck noch Lanzen für ausgewählte Vertreter verschiedener Genres, darunter Comic (Tim und Struppi, sowie Donald Duck), Fantasyroman (Herr der Ringe), SciFi (Ursula K. Le Guin) und Kinderbuch (Karlsson vom Dach) (wobei er auch anmerkt, das Unter-Genres ihm meist eh wenig einleuchten).

In Summe ist dann aber doch sehr viel Klassisches dabei: „Die Odyssee“, „Faust“, „Krieg und Frieden“, „Verbrechen und Strafe“, Ovid, Shakespeare, Flaubert, Cervantes, Kafka, Proust, etc. – mal geht Scheck diese Klassiker durchaus erfrischend an, manchmal durchaus gebräuchlich. Trotzdem gibt es genug zu entdecken und Scheck kann immer wieder mit charmanten und anschaulichen Darstellungen punkten, manchmal verzettelt er sich aber auch und der Text dreht sich etwas zu wenig um das Buch selbst und etwas zu viel um etwas anderes, das Scheck erzählen will (überhaupt hatte ich das Gefühl, dass die Qualität der Texte gegen Ende etwas abnimmt).

Von James Tiptree Jr. über Hypatia bis zu Lu Xun gibt es dennoch, wie gesagt, einiges Neues zu entdecken und manche Klassiker werden durch Scheck auch anschmiegsamer, klingen lesenswerter, spannender. Zu einigen Büchern wird man unweigerlich greifen wollen, andere kann man vielleicht endgültig ad acta legen. Letztlich ist dieses Buch vor allem ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, einem großen Buchfreund beim frei von der Leber-Reden zuzuhören.

Zu dem Buch “Unsere Grundrechte” von Georg M. Oswald


Grundrechte.jpg „Die Grundrechte sind einfach, jeder kennt sie.
Sie heißen, kurz gefasst: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“

Das ist natürlich eine grobe, einfache Zusammenfassung. Aber auch wenn sich die Ideen hinter diesen Worten seit der französischen Revolution ausdifferenziert haben (klarerweise würde man, um eine der offensichtlichsten Wandlungen zu nennen, heute nicht mehr von Brüderlichkeit sprechen, weil diese geschlechtsspezifisch Wendung eine Hälfte der Menschheit ausklammert), es sind noch immer diese drei Bausteine, die das Grundgerüst jeder liberalen Gesellschaftsauffassung bilden.

Liberalität, Gleichberechtigung, Sozialität – die aktuelle Verbreitung dieser drei Grundsätze sind das Erbe und die gesellschaftliche Errungenschaft eines ganzen Zeitalters, ganz gleich wie problematisch und janusköpfig sie sich in einigen Fälle erwiesen haben und noch erweisen werden. Für viele, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (oder sogar erst in diesem Jahrhundert) in einem westlichen Industriestaat wie Deutschland geboren wurden, sind diese Werte nahezu selbstverständlich; ihre Würdigung gilt leider fast schon als obsolet.

Doch wir leben nicht nur in bewegten Zeiten, sondern müssen uns auch eingestehen, dass diese Grundsätze eigentlich nur auf dem Papier existieren. Sie müssen ausgeübt werden, um über die Verschriftlichung hinaus zu existieren – oder alles, was auf ihnen gründet, verliert irgendwann den Boden unter den Füßen.

„An dieser Stelle ist mir nur wichtig, Folgendes festzuhalten: Wenn wir wollen, dass die Grundrechte in unserem Leben Bedeutung haben, müssen wir sie vom Kopf auf die Füße stellen. E geht nicht darum, Listen auswendig zu lernen und Rechte aufzuzählen, deren Inhalt uns nicht klar ist. Wir sollten wissen, was unsere Rechte sind. Und, wie gesagt, eigentlich wissen wir das bereits […] mir geht es in diesem Buch jedoch darum, zu zeigen, wie sehr die Grundrechte in unseren aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen wirken, wo sie infrage gestellt, eingeschränkt, übergangen werden und wo wir aufgefordert sind, für sie zu kämpfen. Sie sind das Regelwerk für eine andauernde gesamtgesellschaftliche Diskussion.“

Georg M. Oswald, Autor und Jurist, macht sich in seinem Buch genau daran: die Grundrechte vom Kopf auf die Füße zu stellen. In seinem kurzen, schlichten, aber doch bemerkenswerten und vor allem anschaulichen Buch, zeigt er anhand der ersten neunzehn Artikel des Grundgesetzes (die im Prinzip die Grundrechte jedes Bürgers, jeder Bürgerin darstellen und stark an den allgemeinen Menschenrechten orientiert sind), wie wichtig, knifflig und erhellend die Auseinandersetzung mit den Grundrechten ist.

Denn sie sind nicht nur ein Katalog der wichtigsten staatlichen Grundsätze, sie stiften zu vielerlei Überlegungen an, sowohl metaphysischer als auch praktischer Natur. Oswald führt einige dieser Überlegungen vor und wahrt dabei eine nahezu perfekte Balance: ihm gelingt ein erfreulich zugänglicher Mix aus rechtlicher und philosophischer Betrachtung und Analyse. Dabei bringt er die Grundrechte konsequent in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten, mit Überlegungen der letzten Jahre, mit juristischen Fällen, Literatur, etc. Er stilisiert sich nicht einfach als Verfechter eherner Prinzipien, sondern bewegt sich, ambivalent, sorgsam und geduldig, durch die Materie, mit einem Auge für beides: Chancen und Probleme.

„Der große Nachteil der repräsentativen Demokratie besteht in der Herausbildung einer »politischen Klasse«. Im schlechtesten Fall ist sie geprägt durch Opportunismus, Fraktionszwang, Karrierismus und Lobbyismus.“

Er weist also sowohl auf die Dilemmata hin, die sich aus den Grundrechten (und den Apparaten und Strukturen, die diese gewährleisten sollen) ergeben, aber auch auf ihre Funktion als unabkömmliche Leitmotive. Seine Stellungnahmen sind differenziert und er hat den Mut, einige Punkte offen zu lassen; bei anderen wiederum die Weitsicht, doch einen klaren Punkt zu markieren. Er weist keine direkten Wege, führt aber die Leser*innen an vielerlei Themen heran, gibt ihnen einen Einblick in die grundsätzliche juristische Perspektive auf die Dinge und sagt auch, warum eine juristische Perspektive allein oft nicht reicht.

Kurzum: Dies ist eines dieser wunderbaren, besonnenen Bücher mit Aktualitätsbezug, denen ich viel mehr Leser*innen wünschen würde als dem ganzen polemischen Mist, der ständig im Gespräch ist. Ich fürchte ja, dass das Buch, weil es einfach „nur“ klug und anregend ist, wenig Aufmerksamkeit bekommen wird. Ich hoffe natürlich, dass ich mich irre. In jedem Fall: ich war dankbar, es lesen zu dürfen.

Zu Margaret Atwoods Essays & Vorträgen in “Aus Neugier und Leidenschaft”


Aus Neugier und Leidenschaft Ich freue mich außerordentlich, dass sie für die Hagey Lectures dieses Jahr eine Quotenfrau eingeladen haben. Sie hätten sich zwar eine seriösere als mich suchen können, aber der Vorrat ist natürlich begrenzt, das ist mir bewusst.

Margaret Atwoods Roman-, Prosa- und Lyrikwerk hat sich mit seiner Eigenständigkeit und seiner Verknüpfung von ästhetischem und thematischem Wagnis einen Ehrenplatz in den Buchregalen des 20ten und 21ten Jahrhunderts verdient. Als Essayistin ist sie eines der besten Beispiele für die seltene Verbindung aus scharfem Witz, feiner Empathie und bestechender Leidenschaft; und außerdem hat sich mich im Verlauf dieses Buches, das die Jahre von 1970-2005 abgedeckt, immer wieder überrascht.

Da hält sie zum Beispiel mit einer Mischung aus augenzwinkernder Ironie und gelungener Kontroverse einen Vortrag über die männliche Romanfigur (aus diesem Vortrag stammen das Ein- und das Ausgangszitat), schreibt dann eine sehr begeisterte Rezension zu John Updikes “Die Hexen von Eastwick”, springt hinüber zur Grunge-Musik, schreibt dann wiederum eine bestechende Studie zu der Schwierigkeit, über böse Frauen zu schreiben, bevor eine kurze, liebevolle Erinnerung an die großartige Autorin Angela Carter folgt.

Manches in dem Buch hat den Touch einer Gelegenheitsarbeit – aber selbst das stört nicht, denn Atwoods unangestrengter Esprit lässt das Elaborierte und das Umrissene in genau demselben, eloquenten Licht erscheinen. Neugier, Hinwendung, Kampfgeist und Leidenschaft tragen jeden Vortrag, jedes Essaystück mit einer Leichtigkeit im Gemüt voran, die die Lesenden sofort für sich einnimmt.

Ein wunderbares Buch, voller Ideen, voller Energie, das flink ist, aber auch kein noch so schwieriges Thema scheut; ganz im Gegenteil: nur zu gern legt Atwood den Finger auf das Problematische, das Ausgeklammerte – und verhilft ihm mit unerschütterlicher Klarheit zu Raum und Sprache.

»Wieso fühlen sich Männer von Frauen bedroht«, habe ich unlängst einen Freund von mir gefragt […] »Ich meine, Männer sind doch größer«, sagte ich, »meistens jedenfalls, können schneller laufen, besser würgen, und im Schnitt haben sie auch viel mehr Macht und mehr Geld.« »Sie haben Angst, dass die Frauen sie auslachen«, sagte er. »Ihre Weltsicht belächeln.« Und dann fragte ich in einem improvisierten Lyrikseminar ein paar Studentinnen: »Wieso fühlen sich Frauen von Männern bedroht?« »Sie haben Angst, dass sie umgebracht werden«, hieß es lapidar.

So unaufdringlich wie das Leben, so unterschwellig intensiv wie die Liebe. Zum Film “Lost & Delirious”


Bei so vielen Meinungen, die zu Filmen durchs Netz geistern- gibt es da überhaupt noch etwas, das noch ungesagt ist? Und was uns bei Kunst und gerade bei Filmen so mitreißt – lässt sich das überhaupt weiterreichen, lässt es sich teilen?
Vielen Kritikpunkten, die aufkommen, könnte widersprochen, viele begeisterte Äußerungen geteilt und bekräftigt werden. Aber weil ich Lost & Delirious für einen wirklich besonderen Film halte und doch für einen sehr eigenen, werde ich hier nur kurz meine Eindrücke schildern und versuchen, aufzuzeigen, was der Film ist und – sich daraus ergebend – was er nicht ist. Es ist, in allen Belangen, ein sehr konsequenter Film und als solcher sollte er gesehen werden.

Erste Liebe ist eine Empfindung, von der Pablo Neruda sagte, dass sie “das letzte Überbleibsel des Paradieses sei”. Jede andere Liebe sei “nur” ein “Gebet” zu jenem Gott, der sich damals offenbarte. Sicherlich eine etwas drastische Ansicht, es steckt aber auch darin ein kleiner Teil der Wahrheit. Immerhin ist die erste Liebe der Anfang. Mit ihr beginnt alles auf diesem Gebiet. Ein wenig bewegt, prägt und bestimmt sie unser ganzes weiters Handeln und unsere Denkstrukturen in Sachen Liebe für immer.

In Lost & Delirious geht es um eine solche erste Liebe – und obwohl es sich um eine lesbische Liebe handelt, ist doch für ihre Wesen sehr viel wichtiger, dass es eine erste Liebe ist, also eine Liebe, die noch kaum bis keine Regeln kennt, nur diesen neuartigen, wunderbaren, alle Gedanken anfachenden Zustand, den man nicht verlassen will, in dem man aufgeht und aufgeht und in dem sich die Angst vor Verlust sehr schnell verbreiten kann.
Für den Verlauf der Geschichte ist es natürlich schon sehr wichtig, dass es um eine gleichgeschlechtliche Liebe geht. Dennoch entsteht die Eindringlichkeit des Films gerade dadurch, das diese zwei Dinge zusammenfließen: Die Unschuld der ersten Liebe und die formenden, gesellschaftlichen Erwartungen – Faktoren, die ein Leben lang unser aller Liebesleben bestimmt und die in dieser Geschichte einen zerrissenen Ausdruck finden, eine wunderbare Darstellung, atmosphärisch, wie inhaltlich, vor allem aber atmosphärisch.

Der Umschwung, der die Geschichte dieser Liebe so mitreißend, aber auch ambivalent und sogar, zugegeben, etwas zwiespältig macht, kommt sehr plötzlich und die beiden Hälften des Films sind tatsächlich ein bisschen wie Tag und Nacht. Aber ich mag solche Filme, Filme, die mich wirklich bewegen, weil sie Unvorhergesehenes und doch Nachzuempfindendes mit sich bringen, weil sie durch ihre ganz eigene Darstellung aufrütteln und bewegen; Filme, die einfach ihre Geschichte so erzählen, wie sie erzählt werden muss – das Unabänderliche einer Geschichte ist nun mal auch das, was uns selbst über unsere Handlungen und Vorstellungen nachdenken lässt, die vielleicht gar nicht so unveränderlich sind. Geschichten sind der beste Weg, das Wesen eines Gegenstands ohne eine Definition zu erreichen.

Atmosphärisch wird die Geschichte, wie gesagt, wunderbar getragen, woran auch die Musik ihren Anteil hat – selten habe ich einen so treffenden und stimulierenden Soundtrack gehört. Und auch die Darsteller sind mehr als überzeugend, vor allem weil sie nicht über ihre Rollen hinausgehen, weder in der Mimik, noch in ihren Handlungen, sondern ganz bei sich bleiben, was ja auch ein Teil jeder menschlichen Tragödie ist: das man ist wer man ist und will was man will. Besonders die Darstellung von Piper Perabo hat mich wirklich und zutiefst beeindruckt, bis ganz zuletzt.

Nun habe ich soviel geschrieben und noch immer mag sich für den Leser keine Vorstellung von dem Film ergeben. Im Prinzip sagt die Überschrift alles, was zu diesem Film kurz und knapp zu sagen wäre und irgendwie ist es ja auch gut, wenn man nicht so viel Konkretes sagen kann, weil das Konkrete, das Faktische, oft das ist, das wenig zum Ausdruck und Eindruck beiträgt und die wirklichen Botschaften und Momente eines Films liegen meist ganz in sich selbst; dennoch ein letzter zusammenfassender Versuch:

Lost & Delirious ist kein heiterer Film, kein leichter Film und obwohl es ein paar wunderbar einzigartige, lebensnahe Szenen gibt, ist der Film doch im Ganzen eher leise und ebenso sparsam in seinen Nebengeschichten und seiner Eigenkommentierung. Im Zentrum steht eine Liebesgeschichte und die Ambivalenz des Versprechens, auf das wir alle ein Anrecht zu haben glauben: das die Liebe nicht aufhört und alle Grenzen überwindet. Die Geschichte, dieses Versprechen – sie sind beide schön und schlimm zugleich. Und am Ende verschmelzen sie zu etwas, das auch ein sehr, sehr gelungenes Beispiel für das Thema Toleranz ist, ein Thema, vor dem wir uns alle nicht verschließen können und sollten. Das ist vielleicht nicht die wichtigste, aber eindringlichste Botschaft dieses Films. “Denn da ist kein Glück, wo einer meinte, er wüsste wie es für alle aussieht.” Willa Cather

Link zum Film: http://www.amazon.de/Lost-Delirious-Piper-Perabo-Jessica/dp/B000069ATW/ref=cm_cr_pr_pb_t

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen