Tag Archives: Poesie

Widerständiges


Gestern, am ersten November 2021, wäre Ilse Aichinger 100 Jahre alt geworden. Es gibt wohl nur wenige moderne Schriftstellerinnen, denen trotz eines so schmalen Werkes eine so große Verehrung zuteil geworden ist ihr. Sie gilt als Meisterin der kurzen Prosa, ist so etwas wie eine literarische Ikone und es gibt wohl kaum eine*n Student*in des kreativen Schreibens (oder auch der Germanistik, Literaturwissenschaft, etc.), die*der nicht mit ihrer Spiegelgeschichte in Berührung gekommen ist oder mit sonst einer ihrer filigranen Erzählungen.

Nun ist zum Anlass ihres Geburtstags bereits Ende September dieser Band mit (genau hundert) verstreuten Publikationen erschienen, deren Spanne vom Jahr 1948 bis zum Jahr 2005 reicht. Betitelt ist der Band mit „Aufruf zum Mißtrauen“, ein programmatischer Titel (und der Titel eines Textes im Buch), der gewisse zentrale Aspekte von Aichingers Schreiben und Denken gut zusammenfasst, aber zumindest auf mich auch ein bisschen irreführend wirkt, so als handle es sich bei den verstreuten Publikationen vor allem um Glossen, Pamphlete und dergleichen.

Das ist nicht der Fall, vielmehr erwartet die Leser*innen ein Mix aus Gedichten, Feuilleton, Briefen, Beiträgen für Anthologien und andere Gelegenheitsschriften, dramatischen Fragmenten/Szenen, u.v.a.

Die Beiträge sind chronologisch geordnet, es gibt keine Gruppierung/Einteilung nach Art der Texte, was zunächst etwas beliebig anmutet, aber den Leser*innen eben die Gelegenheit gibt, dem einzigen roten Faden des Buches zu folgen, nämlich der mannigfaltigen Darstellung von Aichingers Positionen und ihrer Entwicklung.

Ich muss zugeben, dass ich mich, obwohl durchaus begeisterter Aichinger-Leser, mit dem Band etwas schwergetan habe. Das Konzept (100. Geburtstag = 100 Texte) klingt zunächst griffig, aber in der Praxis hätten vielleicht etwas weniger Texte dem Band gutgetan. Denn mancher Beitrag wirkt, trotz seiner unbestreitbaren Relevanz für die Aichinger-Forschung, deplatziert, weil nicht unbedingt von Interesse für Leser*innen, die sich mit Aichinger als Autorin, aber nicht unbedingt als Person auseinandersetzen wollen.

So erscheint der Band streckenweise weniger wie ein Lesebuch, das unbekannte Glanzstücke Aichingers dem Publikum präsentieren soll, und mehr wie eine Werkausgabenkomplettierung (was aber vermutlich nicht der Fall ist, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Zahl der Beiträge ein Zufall ist).

Trotzdem gibt es natürlich einige wichtige und auch starke Beiträge. Besonders interessant fand ich Aichingers Auseinandersetzung mit den Geschwistern Scholl. Aber auch ihre Gedanken zu Thomas Bernhards „Heldenplatz“, zu Gert Jonke und der Gruppe 47 fand ich sehr anregend, ebenso eine Rezension zu einem Buch von Julian Schutting. Und gefreut habe ich mich, dass auch ein paar mir unbekannte Gedichte von Aichinger enthalten sind.

Meine Bedenken habe ich angebracht und abseits dieser will ich von Kauf und Lektüre des Bandes nicht abraten. Es stellt einen guten Querschnitt durch unterschiedlichste Aspekte von Aichingers Werk und Wirken dar. Vielleicht ist auch gerade die unterschiedliche Relevant der Beiträge für manche Leser*innen eine spannende oder angenehme Abwechslung.

Eine Aufnahme meiner Lesung in der Poesiegalerie 2020


Auf der Seite der Poesiegalerie kann man meine Lesung dort aus meinem neusten Gedichtband “Nicht nochmal Legenden” nachhören:

poesiegalerie 2020 – Timo Brandt

Endlich eine umfassende Anthologie zur dänischen Dichtung


Licht überm Land
Es ist nur zu hoffen, zu wünschen, dass sich diese Tendenz fortsetzt, vielleicht sogar Schule macht: Mit „Licht überm Land“ bringt der Hanser Verlag die dritte größere Lyrikanthologie in zwei Jahren heraus (letztes Jahr „Grand Tour“ und „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“). Während diese letzten Anthologien eine breite Palette von Autor*innen aus verschiedenen Ländern und Zeiten vorlegten, ist die neuste einem einzigen Land und seinen Dichter*innen gewidmet: Dänemark.

Ich habe vorab ein bisschen recherchiert und festgestellt, dass es zwar einige Lyrikanthologien zur schwedischen (bspw. „Von Nordenflycht bis Tranströmer“, Edition Rugerup oder „Schlittenspur durch den Sommer“, Wunderhorn), zur isländischen („Isländische Lyrik“, Insel Verlag) und zur norwegischen („So schmeckt ein Stern“, Edition Rugerup oder „Sternenlichtregen“, Wunderhorn) Lyrik gibt, aber keine (lieferbare) zur dänischen. Das Buch füllt also eine Lücke.

Und füllt sie fulminant aus. Chronologisch wird hier die ganze Breite der dänischen Dichtung, von den mittelalterlichen Balladen, über Klassiker wie Hans Christian Andersen, Jens Peter Jacobsen und später Inger Christensen, bis zu den neusten Namen (einige der letzten Dichter*innen sind nach 1990 geboren) erschlossen, abgesteckt. Die Herausgeber haben zudem die Strömungen, Moden und Entwicklungen in den Epochen herausgearbeitet und grob voneinander abgegrenzt.

Beim Lesen fällt auf, wie eigenwillig sich die dänische Lyrik in der Nachkriegszeit, bis heute hin, entwickelt hat. Vom Lakonischen bis zum Brachialen lässt sich hier alles finden, aber eben voll der Eigenwilligkeit. In jedem Fall lohnt allein schon die Dichtung dieser Epoche die Anschaffung der Anthologie.

Wie gesagt, ich wünsche mir, dass diese neue tolle Anthologie auf absehbare Zeit nicht die letzte bleiben wird, die Hanser herausbringt, denn wieder fühle ich mich (wie schon zuletzt im Fall der anderen beiden Anthologien, sowie natürlich durch die regelmäßig erscheinenden Bände in der Edition Lyrik Kabinett) reich beschenkt. Ein ganzer Dichtungskosmos ruht hier zwischen diesen hellblauen Einbanddeckeln, wirft Licht über ein Land und seine Zeiten.

 

Hafis, großer Dichter persischer Zunge


Hafis-Kanani- Seinen bis heute bekannten, klingenden Namen verdankt der persische Dichter, der eigentlich Mohammed Schemseddin hieß, einer Fertigkeit, die er sich schon in jungen Jahren aneignete: er konnte alle 114 Suren des Korans auswendig, da war er gerade einmal acht Jahre alt. Dies brachte ihm den Ehrentitel Hafis ein, durchaus ein geläufiger Ehrentitel, auch heute noch, der aber bei ihm als Poetenname über sein Zeitalter hinaus erstrahlen durfte.

Geboren wurde Hafis Anfang des 14. Jahrhunderts, in den stürmischen Zeiten der letzten Mongoleninvasionen und zahlreicher weitere Konflikte und Rivalitäten auf dem Gebiet Persiens. Seine Heimatstadt Schiras, die er, abgesehen von ein paar unbedeutenden Reisen, nie verließ, lag im südlichen Teil des heutigen Iran und war immer wieder von türkischen, afghanischen und mongolischen Überfällen bedroht.

Dennoch war Hafis ein vergleichsweise langes Leben beschieden, in dem eine große Zahl von Gedichten (vor allem Ghaselen) entstand, die bis heute als unübertroffen in ihrer Formvollendung gelten; viele sind Teil des Allgemeingedächtnisses aller Persisch/Fārsi/فارسی sprechenden Menschen geworden.

Auch in Deutschland hat Hafis viele Bewunderer gehabt, einer der bekanntesten ist Johann Wolfgang von Goethe, der mit West-Östlicher Divan ein ganzes Werk schrieb, das von den Dichtungen des Hafis inspiriert ist; auch Friedrich Rückert hat sich zeitlebens mit dem persischen Dichter beschäftigt und einige der besten Übersetzungen zu seinem Werk angefertigt.

In seiner Studie arbeitet Nasser Kanani sehr gewissenhaft die Rezeptionsgeschichte von Hafis in der deutschsprachigen (vorrangig, aber auch internationalen) Literatur und Geschichtsschreibung heraus. Beginnen tut das Buch allerdings mit einem Kapitel, in dem es vor allem um die Geburtsstadt Schiras und ihre Rezeption (die allerdings von der Hafis-Rezeption schwer zu trennen ist) in der deutschsprachigen Literatur geht und warum sie in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Kernstück von Hafis Dichtungen ist.

Kapitel 2 und 3 beschäftigen sich dann mit Hafis Lebensgeschichte und seinen philosophischen Überzeugungen, immer auch im Spiegel seiner Werke, wozu Kanani umfangreich aus den Übersetzungen zitiert (die Originale sind auch abgebildet). Dadurch gelingt ein breit gefächertes, teilweise auch erschöpfendes Bild des widersprüchlichen und doch mit sich im Einklang liegenden Menschen, der Hafis gewesen ist.

Die letzten Kapitel 4 und 5 sind dann Hafis Dichtungen, genauer der Liebeslyrik und dem Divan, vorbehalten. Kanani präsentiert Deutungen und Rezeptionsansätze und zitiert wiederum umfangreich aus dem Werk. Auch wenn das ganze Buch eine spannende Aufbereitung ist, sind diese beiden Kapitel seine Meisterstücke.

Für wen Hafis bisher nur ein Name ist, der sollte sich diese umfangreiche Studie zulegen – sie ist ein guter Einstieg, bieter aber dennoch Tiefe und breite Auseinandersetzung. Kananis Leidenschaft und Begeisterung für Hafis sind nicht nur ansteckend, sie werden im Zuge seiner Ausführungen auch nachvollziehbar. Ob Hafis wirklich der größte Lyriker persischer Zunge war, das ist ungewiss. Gewiss aber ist: er war ein wunderbarer Poet, mit einem trefflichen Überschwang, der seinesgleichen sucht.

Zu der Lyrik-Anthologie “Im Grunde wäre ich lieber Gedicht”


Im Grunde wäre ich lieber Gedicht Drei Jahrzehnte Lyrik Kabinett in München (dessen Lyrik-Bibliothek mit mehr als ca. 60.000 Bänden Deutschlands größte Sammlung internationaler Poesie ist), unzählige Lesungen mit unzähligen Gästen aus nah und fern – das schrie förmlich nach einer Anthologie, aber allzu oft verhallen solche Schreie wohl ungehört oder werden barsch, vielleicht mit einem schmalen Jubiläumsheftchen, abgewatscht.

Nicht so in diesem Fall, einem Glücksfall für alle Poesie- und Lyrikliebhaber*innen. Denn Michael Krüger und Holger Pils haben eine Anthologie herausgegeben, die in Umfang und Akkuratesse tatsächlich eine Vorstellung davon geben kann, was für eine wichtige und inspirierende Institution das Lyrik Kabinett war und ist und was für spannende Veranstaltungen dort stattfanden und -finden – nebst einem wunderbaren Einblick in die verschiedensten Formen und Richtungen der Lyrik, deutschsprachig und international.

Das Buch geht chronologisch vor. Während im unteren Bereich der Buchseite eine Liste mit den Veranstaltungen des Jahres mitläuft, sind darüber Gedichte (nebst Original, falls sie aus einer Fremdsprache stammen) abgedruckt, die von einem/r Autor*in stammen, die an einem dieser Termine gelesen hat/Thema der Veranstaltung war. Die jeweiligen Jahreskapitel werden eingeleitet von kurzen, meist poetologischen Abschnitten aus Reden und Essays von Dichter*innen.

Nur wenige Anthologien sind in Sachen Lyrik unverzichtbar, aber der Hanser Verlag beschenkt uns seit einer Weile mit einigen solcher Anthologien, sei es zur italienischen Dichtung („Die Erschließung des Lichts“), zum Minnesang („Unmögliche Liebe“) oder zur europäischen Dichtung („Grand Tour“) – bald kommt eine umfassende Anthologie zur Dänischen Lyrik („Licht überm Land“) hinzu. „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“ ist ein weiterer dieser kostbaren Schätze, dem ich jeder/m ans Herz legen möchte. Es ist nicht nur selbst eine Reise, sondern lädt durch die Auflistung der vielen Namen am unteren Rand auch zu weiteren Reisen in die große, weite Welt der Lyrik ein.