besprochen beim Signaturen-Magazin
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Zu “Dissidentisches Denken” von Marko Martin
30 Jahre nach dem so genannten „Mauerfall“ muss in Europa eine erschreckende Bilanz gezogen werden: Nicht nur gibt es wieder verblendete Nationalphantasien und restaurative Gesellschaftsentwürfe, die Idee der Epochenwende, des Anbruchs eines befreiten Zeitalters, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Während in Ländern wie China eifrig eine Politik des unbedingten gemeinschaftlichen Ganzen (mithilfe von digitalen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen) betrieben wird, werden in Staaten wie Russland und den USA Entitäten wie die Wahrheit von den Regimen gepachtet und umgedeutet. Die Institutionen der Demokratie müssen derweil in vielen Ländern semi-demokratischen, in vielerlei Hinsicht schon plutokratischen oder autokratischen Machtverhältnissen weichen.
Diese Entwicklungen ähneln – so reißerisch und vorschnell diese Überlegung erscheinen mag und obgleich sich Geschichte nicht 1zu1 wiederholt – in einigen Punkten den Entwicklungen, denen in der letzten (und ersten) großen Ära demokratisch geführter Staaten (zwischen den Weltkriegen) viele Länder zum Opfer fielen (manchmal ohne echte demokratische Zwischenphase). Neben den faschistisch-autokratischen Staaten bildeten sich damals auch viele pseudosozialistisch-autokratische Staaten, allen voran die Sowjetunion, der viele andere dieser psa Staaten (zwangsweise) als Satellitenstaaten dienten oder zumindest in mancherlei Hinsicht auf sie angewiesen waren.
In allen Gesellschaften, die nicht demokratisch (oder anarchistisch) organisiert und/oder regiert werden, sind alle von den derzeitigen Regierungserlassen abweichenden (und verlautbarten) Meinungen unerwünscht, oftmals strafbar und sie werden unterdrückt/unterbunden. Die Träger*innen solcher Meinungen (und aus ihnen resultierenden Handlungen/Weigerungen) nennt man Dissident*innen. Ihre Spur zieht sich durch die Geschichte (auf gewisse Weise waren auch Figuren wie Sokrates oder Jesus, Johanna von Orleans oder Martin Luther Dissident*innen), viele der wichtigsten neueren Zeugnisse ihres Denkens und ihrer Position stammen aber aus den Ländern, die bis 1989 zum „Warschauer Pakt“ gehörten (oder ein faschistisches Regime hatten).
Marko Martin hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und ein großes Buch über eine Epoche geschrieben, deren widerständige Kräfte, dissidentische Erlebnisse, Erinnerungen und geistigen Potenziale allzu schnell ad acta gelegt wurden, als die Systeme und Welten, gegen die sie gerichtet oder in denen sie entstanden waren, endeten und (vermeintlich) untergingen. Aus den Schicksalen der Autor*innen und Intellektuellen, mit denen Martin gesprochen hat oder die er, in manchen Fällen, porträtiert, ergibt sich das Muster und der Stempel einer Zeit, der auch unserer Zeit erneut aufgedrückt werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.
Um einen klarere Blick auf die Vergangenheit zu bekommen, aber auch für eine Arbeit am Verständnis der Gegenwart und der (leider zeitlosen) Unterdrückung, eignet sich dieses Buch hervorragend. Es ist eine große Leistung und ein unverzichtbares Bildungsgut, ein Kaleidoskop verschiedenster Lebensläufe, sich kreuzend auf den Weltmeeren des Exils und des Widerstandes.
Zu der Anthologie “Grand Tour”
Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).
Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.
Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.
Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).
Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.
Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.
Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.
Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.
„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.
Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.
Zu “Der neue Antisemitismus” von Deborah Lipstadt
Deborah Lipstadt ist eine Art Ikone auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung – ihr Buch “Leugnen den Holocaust”, das leider derzeit nur antiquarisch verfügbar ist, war bei Erscheinen die wichtigste Studie über die Personen und Organisation, die aktiv diese Form der Geschichtsklitterung betreiben, und darüber wie diese Klitterung mit anderen Ideologien verknüpft und verbreitet wird.
Im Anschluss an diese Publikation wurde sie von David Irving verklagt, der von ihr ebenfalls als Holocaustleugner bezeichnet wurde. Der Prozess geriet zum Spektakel, weil Irving vor dem englischen Gericht nicht beweisen musste, dass er keine Klitterung betrieben hatte, vielmehr musste Lipstadt beweisen, dass er es getan hatte und sie ihn zurecht einen Leugner (und damit gleichzeitig einen Lügner) genannt hatte – folglich ging es darum, den Holocaust zu beweisen. Eva Menasse schrieb ein Buch über den Prozess, das erst kürzlich neu aufgelegt wurde (“Der Holocaust vor Gericht”) und 2016 wurde der Prozess unter dem Titel “Verleugnung” verfilmt.
Dies neuste Buch von ihr, das auch erst dieses Jahr in den USA erschien, beschäftigt sich nahezu mit dem ganzen Spektrum an antijüdischen Vorurteilen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen und Methoden, die sich vermehrt in unserer Gegenwart ausmachen lassen, von handfesten Verbrechen bis zu tendenziöse Aussagen und unbedarft wirkenden Relativierungen; trauriger Weise sind sie fast durch die Bank weg geradezu “klassisch” und reproduzieren antijüdische Klischees, die schon seit Jahrhunderten als Sündenbockmuster Verwendung finden.
Trotzdem wird alles haarklein ausdifferenziert, vom Klischee der Weltverschwörung bis zur Israelkritik. Lipstadt geht sehr gründlich vor, zu jeder Form von Antisemitismus gibt es eine Fülle von Beispielen und Abgrenzungen, Überlegungen und Hinweisen, sogar hin und wieder einen klassischen jüdischen Witz oder eine Anekdote.
Als Form des Buches hat die Autorin einen fiktiven Dialog gewählt – genauer gesagt ist es ein Mailwechsel, in dem sie auf die Fragen von einem Freund und einer ihrer Studentinnen eingeht, die diese aufgrund von allgemeinen Entwicklungen, aber auch aufgrund ihrer eigenen täglichen Erfahrungen beschäftigen. Lipstadt beschreibt die beiden Figuren im Vorwort als eine Art Destillat aus verschiedensten Personen, mit denen sie sich über das Thema ausgetauscht hat.
Diese Dialogform wirkt zwar sehr natürlich und gibt dem Buch eine persönliche Note, die Vertrauen weckt (und vielleicht auch die voyeuristische Neigung von begeisterten Romanleser*innen befriedigt), aber ob sie wirklich ein Feature ist, kann ich nicht abschließend sagen. Vermutlich ist sie aber wichtig für alle Leser*innen, die von den beschriebenen Aggressionen tatsächlich betroffen sind – auf sie geht das Buch damit zu und ein und das rechtfertigt wohl die etwas eigenwillige Form.
Ansonsten: eine sehr lesenswerte Schrift. Ein guter Überblick über die akute Zunahme von antijüdischen Aktionen und eine erschreckende Analyse, weil sie aufzeigt, wie tief dieses Gedankengut noch immer überall Wurzeln schlagen kann, ohne sofort ausgerissen zu werden – wie unscheinbar es daherkommen kann und wie wenig es oft benannt und beanstandet wird, wie leichtfertig toleriert.
Diese Form des Hasses ist, das wird klar, kein Kavaliersdelikt, keine aus der Mode gekommene Form der Diskriminierung oder eine überwundene und aufgeklärte Vorurteilswelt. Es wird immer Spinner*innen geben, die unbelehrbar sind – schlimm ist aber, wie breit sich antijüdische Positionen noch immer etablieren können, wie leicht viele Menschen mit ihnen – in unterschiedlichen Härtegraden – bei der Hand sind.
Zu den großartigen Gedichten von Adam Zagajewski in “Asymmetrie”
besprochen auf fixpoetry.com
Ein menschlicher Dichter – zur neuen Ausgabe der Milosz Gedichte bei Hanser
“Es ist gewiss eigentlich nicht statthaft,” bemerkte Kipling, “einen Dichter zu lieben, weil er spricht, wie man selber gerne spräche. Es mag darin nämlich mancher eine Schwäche sehen, sich immer dem Vertrauten zuzuwenden, wenn er auch das Neue oder sogar das Konträre entdecken könnte. […] Dies geht von der falschen Vorstellung aus, nur das Neue, Andersartige könne uns bereichern […] obwohl ja auch eine gute Maschine nicht aus allen Teilen gebaut wird, die man bekommen kann, sondern nur mit den Teilen, die für die Funktion unerlässlich sind, wobei zusätzliche Teile entweder Zierde sind oder Hindernis – in jedem Falle überflüssig. […] Was dabei eben oft übersehen wird ist die Tatsache, dass man sich nicht nur erweitern, sondern auch vertiefen kann. […] Ich glaube, dass derjenige in der Welt am wenigsten Schaden anrichten wird, der weiß wer er ist und wo er steht.” (Kipling, Essay on Criticism)
“Keine Sprache genügt der Schönheit.”
Ich wählte dieses Zitat von Kipling als Einstieg für diese Rezension, weil es (abseits der vielen Ansatzpunkte für Kritik und Diskussion) einen Gedanken enthält, den ich mit dem Werk von Milosz immer Zentral in Verbindung gebracht habe. Seit Jahren besitze ich die Auswahl seiner Gedichte aus der Bibliothek Suhrkamp, hatte bisher jedoch immer nur einzelne Gedichte und Passagen gelesen und mich nie ganz in ihn vertieft; er war für mich einer der wenigen Dichter, denen ich mich nicht mit Gedanken an das Gesamtwerk genähert habe, sondern die ich als Gesprächspartner aufsuchte, die ich als Möglichkeit betrachtete, die Stimme eines Dichters im Ton eines Freundes reden zu hören. Einem Freund, der keine Abstraktionen hinblättert, sondern mir Ideen eingibt, Ansichten, Bilder und Fragen, Meinungen und Streiflichter. Anders gesagt: In der Poesie von Czeslaw Milosz fühlt man sich wie ein werdender Mensch, der noch nicht fertig sein muss (ein Gefühl, was einem sehr wenige große Dichter geben). Ihm geht es um die eigene Bestimmung, den wirklich eigenen Blick und den Weg dorthin, der nie ein Ende findet.
Und er zelebriert nicht nur die Dinge für sich selbst – er lässt auch Dinge in seine Gedichte eintreten, gegen die er dann bis zum Schluss des Textes ankämpfen muss; Kämpfe, bei denen er die Regeln nicht bestimmen kann und in deren Verlauf er nur die Sprache hat, um zu agieren, zu widerstehen, und sich, die Poesie und das Glück zu verteidigen.
“Aus der Vorhölle für ungetaufte Jünglinge und Tierseelen
Soll ein toter Fuchs erscheinen und er soll Zeugnis
ablegen gegen die Sprache.”
Direkt zu Anfang möchte ich anmerken, dass Milosz nicht auf ein Zitat festgelegt werden kann und somit auch nicht auf eine einzelne Ausdrucksweise. Alle Beispiele hier sollen einen kleinen Eindruck der Vielfalt aufzeigen und keine repräsentativen Klarheiten schaffen.
Für repräsentative Klarheiten ist Milosz sowieso der falsche Dichter. Im Zusammenhang mit vielen Dichtern, die ich gelesen hatte, habe ich später in Besprechungen den Ausdruck “menschliche Poesie” verwendet, wenn ich eigentlich humanistische Prinzipien, eingebundene Anteilnahme oder subtile Nähe zum Leser meinte. Auf Miloszs Poesie passt diese Bezeichnung allerdings am besten; menschlich im Sinne von: unperfekt, stimmungsabhängig, ambivalent, bekennend, gefühlsbestätigend, nachdenklich, mit Gedächtnis und Gewissen operierend.
“Auf diesem selben Marktplatz
Verbrannte Giordano Bruno,
Das Feuer, geschürt vom Henker,
Wärmte die Neugier der Gaffer.”
1911-2004. Eine beachtliche Lebenspanne, in einem Jahrhundert voller Tod und vieler rapider Entwicklungen, die vor allem eins erhöhten: Die Undurchschaubarkeit der Welt und ihrer Systeme. Nachdem die Zeitalter davor das Ich stark in den Fokus gerückt hatten, war genau dieses Ich nun dabei, im Kampf der Ideologien und Zukunftsaussichten zu verschwinden.
Diese Unklarheit über den Wert des Ich, des Selbst, des Einzelnen: bei Schriftstellern, die nicht den Ideologien ihrer Zeit anhingen und sich trotzdem mit ihr befassen wollten, musste diese Problematik zwangsläufig (mit) zum Thema werden. Dabei ist, von sich selbst zu sprechen, in der Lyrik von jeher ein Risiko, wenngleich auch eine Chance.
“Der Vorteil der Poesie ist, dass sie uns daran erinnert,
wie schwer es ist, man selbst zu bleiben,
denn unser Haus steht offen, die Tür ist schlüssellos,
und unsichtbare Gäste gehen ein und aus.”
Ich bin der Ansicht (die manchen vielleicht seltsam erscheinen mag), dass das Leben eines Dichters zwar viel mit den Wesensinhalten seiner Gedichte zu tun hat, man aber von den Gedichten auf die Biographie schließen muss, und nicht umgekehrt. Anders gesagt: Man sollte Gedichte nicht nach Aspekten durchsuchen, die man zuvor in der Biographie gefunden hat, sondern lieber die Gedichte lesen und sich nachher über den biographischen Hintergrund des Gedichtes informieren. So wirkt das Gedicht als erstes, aus sich selbst heraus, und durch die zusätzlichen biographischen Daten wird dieser Eindruck eventuell noch klarer, evidenter – wenn man es umgekehrt handhabt, sieht man im Gedicht vielleicht nur die Bestätigung der Biographie und nicht den eigenen, tieferen, komplexeren Ausdruck.
Gerade bei Milosz, der in seine Gedichte seine Verzweiflung, ebenso wie seine Hoffnung legte (zwei Gefühle, so stark auf den Moment ihres Empfindens fokussiert, dass man sie in einer Biographie nicht wirklich auffinden oder nachvollziehen kann) ist diese Herangehensweise empfehlenswert.
Deswegen werde ich mich auch nicht weiter über seinen Lebenslauf auslassen (zumal Adam Zagajewski ein hervorragendes (zum Teil auch sehr biographisches) Nachwort zu diesem Band verfasst hat).
Zahlreiche frühe Gedichte von Milosz handeln vom Krieg, dem Warschauer Ghetto, seiner Verbindung zu und Sicht auf die Taten & Geschehnissen dieser Zeit. Die meisten Gedichte streifen jedoch in seiner persönlichen Geschichte; die natürlich, da er ein Dichter ist, sich oftmals mit den großen Geißelungen der Zeit konfrontiert oder vereint sieht.
“Wie soll ich leben in diesem Land,
Wo der Fuß über die Knochen
Der unbestatteten Nächsten stolpert?
[…]
War ich denn dafür geschaffen,
Klagelieder zu singen?
[…]
Lasst doch
Den Dichtern den Augenblick der Freude,
Sonst geht eure Welt zugrunde”
Die schmerzliche Erkenntnis, nicht schreiben zu können, was man will, weil es Dinge gibt, die man beschreiben muss, die also mehr Realität haben, als ein Gedicht, das sich nicht mit ihnen beschäftigt, jemals haben könnte… Der Dichter: als Warner oder als Künstler? In Milosz Werk sieht man die Schwierigkeit, beides auf einen Nenner zu bringen: Das Abbilden der Gegenwart, also auch das Bekenntnis zur eigenen Geschichte, und gleichzeitig das Aufgreifen der ewigen Themen der Dichtung, der Versuch, Sprache zu einer Epiphanie und nicht nur zu einer Dokumentation werden zu lassen.
Die Geschichte ist eben nicht alles, aber manchmal schafft sie es, die Menschen für sich zu verpflichten. Und der Dichter weiß, dass er eine komplette Okkupation nur verhindern kann, wenn er sich mit ihr auseinandersetzt – er weiß, dass es Dinge gibt, die Vorrang haben, vor seinen Ideen von Idylle, Farben und Genie. Einfache Dinge, elegische, schwierige Dinge; Gedanken, Bedenken, Geständnisse; Ansagen, Wiederworte, Wünsche.
Milosz ist auch deswegen ein großer Dichter, weil er sich trotz seiner regen Beschäftigung mit Zeitgeschichte und Ethik, nie davon vereinnahmen ließ. Er fand einen Mittelweg, eine Möglichkeit Farben und Ideen anzurufen und dennoch zu bedenken und zu berichten. Seine Verse sind selbstbezügliche Studien – Ansichten, die dem eigenen Ich vorgetragen werden und aus seiner Gedankenwelt, zusammen mit den Worten, den Raum für ein Gedicht erschaffen.
“Was ist die Poesie, wenn sie weder Völker
Noch Menschen rettet?”
Ein sehr direkter Ausruf – eigentlich zu wage für einen Diskurs und zu groß für viele Lyriker, die um solche einwandfreien Fragen eher einen Bogen machen. Aber Milosz ging es darum, ob es in seinem eigenen derzeitigen Gemütszustand, in den Umständen seines derzeitigen Gedichtes, eine wichtige Frage war, eine Frage, die hineingehörte in die poetische “Aufregung” seiner Zeilen und zu dem Selbstverständnis seines Textes. Das macht seine Verse authentisch, ehrlich, manchmal auch etwas willkürlich. (eine unwillkürliche Willkür – und das ist nicht nur ein essayistischer Stilsalto.)
Überhaupt ist Milosz ein sehr unstrukturierter Autor, für einen Lyriker. Trotz Intelligenz und Gespür merkt man bei ihm wenig Formwillen – nur einen schlichten, der die Worte nach der Art zusammenbringt, dass sie die Form eines Gedichtes annehmen, dass sie eine poetische Wirksamkeit beziehen, aber keine Umbrüche, keine Formung, die das Gedicht schon deutet, seine Ausgestaltung mitdiktiert.
“Ich war ein Instrument, ich lauschte, traf eine Auswahl
der Stimmen aus dem stammelnden Chor und
übersetzte sie in klare Sätze mit Punkt und Komma.”
[…]”Wir suchen nämlich nicht das Vollkommene, wir suchen
das Resultat von unaufhörlichem Streben.”
Bei all dieser “Un”beschaffenheit, zu der seine Poesie tendiert, ist doch jedes Glied seiner Gedichte von vollendeter Klarheit – worunter nicht hoch hinaus gefaltete Schönheit oder sensationelle Aspekte zu verstehen sind, sondern eine schlichte Präzision, eine Poesie, die immer bei sich selber bleibt, auch in sich selbst träumt oder von ureignen Fehlern spricht; die sich nicht in andere Räume oder Welten, andere Perspektiven begibt oder begeben muss. Inmitten dieser Selbstvertiefungen entstehen immer wieder Verse und Zeilen, die die Dinge auf den Punkt bringen – vielleicht nur für einen Moment, in etwa wie es der eigene Gedanke, die eigenen Eingebung tut, die uns tagtäglich überraschen kann.
“Zwischen Augenblick und Augenblick habe ich viel erlebt im Traum,
So deutlich, dass ich das Schwinden der Zeit fühlte,
Als das, was ständig fern war, nicht da war.”
“Der Duft des frischen Klees hat die kriegerischen
Märsche wiedergutgemacht und im Licht der
Autoscheinwerfer glänzen die Wiesen für immer und
ewig.”
Träumerische Facetten und utopische bis verzweifelte Imaginationen geistern durch Miloszs Werk. Der Titel (der Begriff) Dichter/Lyriker wird heute in Deutschland eher an dem formschaffenden Aspekt festgemacht, gepaart mit einem enormen Innovationsdrang, dem Streben nach einem rein exklusiven Ausdruck.
Auf Milosz kann man diese Bewertungskriterien unmöglich anlegen. (Ja, wenn man Dichter wie Milosz liest, muss man diese Kriterien vielleicht sogar in Frage stellen.) Er ist auch kein Dichter, der, wie die klassischen Poeten, größtenteils an der Veranschaulichung oder Darstellung des Schönen interessiert ist; auch sein Harmoniebedürfnis ist geringer, aber es ist vorhanden, es hat sich bloß gewandelt: von einer freudigen Antwort zu einer rastlosen Frage. In Milosz Werk treffen der Wille, dieser Stoff, mit dem Dichter die Welt in Worten ausdrücken, und der Zweifel, der sie dazu bringt, ihre Darstellungen zu bedenken, in einer besonderen Mischung zusammen – was sicherlich auch mit der Zeit zu tun hatte, in der Milosz lebte: eine Zeit, die viel Zerwürfnis kannte und doch auch sehr viele Entwicklungen. Größere Entwicklung, tiefere Abgründe. Was stellt man dagegen: den Willen oder den Zweifel? – Dichter suchen bis heute auf diese Frage eine Antwort.
“Früh erreicht uns der Aufruf, aber er bleibt
unverständlich und erst langsam stellt sich heraus, wie
gehorsam wir waren.”
“Was trennt, das zerfällt. Und dennoch ist mein Schrei
>>nein, nein,<<, noch nicht verhallt, obwohl er im Winde
verbrannte.
Nur das, was nicht trennt, zerfällt nicht. Alles andere ist
jenseits der Dauer.”
Gewissheiten hinter den Fragen – wie oben bereits angesprochen, war Milosz ein Suchender, ein Dichter, der sich selbst nicht als Teil des Jahrhunderts sehen, sondern das Menschliche in sich bewahren wollte und auch in seiner Poesie. Deswegen das “nein, nein” und die vielen tausend Wahrheiten und kleinen Wirklichkeiten, die man, über sein Werk verstreut, einzelnen Abschnitten entnehmen kann – ewige Wirklichkeiten, Wahrheiten, im Bruchteil einer Sekunde geschehen, da man sie vollends wahrnimmt und spürt, bis sie vergehen – was sind diese Abschnitte anderes als das Leben?
Auf jeden Fall sind es solche Momente, Schweife, für die man in Milosz Lyrik immer wieder dankbar ist; denn sie sind jenseits von Rhetorik oder Beweis. Es sind Einsichten, einfach beeindruckend und bemerkenswert, in ihrer feinen, inneren Ausrichtung.
“Was auch immer damals in das verriegelte Haus der fünf
Sinne gelangte, ist im Brokat des Stils erstarrt.
Wer, Hohes Gericht, kennt nicht solche Einzelfälle.”
“In dem einen gemeinsamen menschlichen Traum
wohnen pelzige Tiere.”
“Bin ich hier, in der Hoffnung, man könne neu beginnen
und das eigene Leben heilen, wenn man fest daran denkt,
was man erfahren hat.”
Die Hoffnung ist, wie wir wissen, in Wahrheit eine launische Kraft (wobei sie, wie Borges klug bemerkte, eigentlich nicht uns enttäuscht, sondern wir stets sie). In der Poesie ist sie im besten Falle eine Ausdrucksform/-variante der Sehnsucht, in welcher sie eigentlich nur als Abglanz enthalten ist; doch es ist dieser Glanz der einem Gedicht eine besondere, kommunikative Form von Schönheit verleihen kann.
“Derweil ich in Gedanken weiter Fräulein Jadwiga rette,
Die kleine Bucklige, Bibliothekarin von Beruf,
Die im Bunker jenes Hauses ums Leben kam,
Das als sicher galt, doch ist es eingestürzt
Und niemand konnte durch die Mauerplatten dringen,
Obwohl man viele Tage Klopfen hörte, Stimmen.
Ein Name also, verloren für Jahrhunderte, für immer;
Ihre letzten Stunden bleiben unbekannt
[…]
Der wahre Feind des Menschen heißt Verallgemeinerung.
Der wahre Feind des Menschen, die sogenannte Geschichte,
wirbt und erschreckt mit ihrem Plural.”
Wie weit ist dann der Weg von diesem Zitat zu jenem:
“Dazu bin ich berufen:
Die Dinge zu preisen, weil es sie gibt.”
Oder ist er vielleicht die Entfernung zwischen diesen Abschnitten gar nicht so weit? Ich denke nicht. Und ich denke weiterhin, dass jener Aspekt, jene Idee, die diese beide Abschnitte trotz ihrer Unterschiede verbindet, könnte sie anders als durch solche Verse ausgedrückt werden, das wäre, worum es in Milosz Werk geht.
“Es gibt derart Beharrliche; gib ihnen ein paar Steine
Und essbare Wurzeln, und sie werden die Welt erbauen.”
Inhalt:
Dieser Band enthält Gedichte aus allen Perioden von Milosz Schaffen, sogar einige der letzten. Angenehmerweise wurde ebenfalls keine Botschaft oder Richtung bevorzugt und der Band liest sich wie ein gut ausgesuchtes “Best of”, mit vielen Anliegen und Ideen, die in Milosz Werk als Ideen präsent sind. Das Nachwort tut, wie bereits gesagt, sein Übriges. Ein paar Anmerkungen wären schön gewesen, aber sie fehlen auch nicht wirklich.
Am Ende jeder Rezension kommen mir Zweifel, ob ich alles gesagt habe. Habe ich es richtig gesagt? Ich glaube, dieser Zustand lässt sich ein bisschen mit dem Lesen und Schreiben von Gedichten vergleichen. Ist denn jemals alles gesagt? Vielleicht das, was man sagen konnte. Vielleicht reicht das.
“Was bleibt vom Leben? Nur Licht,
Vor dem die Augen blinzeln an Sonnen-
Tagen. Man sagt: so ist es,
Und keine Fähigkeit, keine Gabe
Reicht hinaus über das, was ist.”
Link zum Buch