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Filigran wie ein revolutionäres Daseinsuhrwerk


Eine der schwierigsten Sachen beim Romanschreiben ist, so glaube ich, eine Figur nicht nur zu konzipieren, sondern sie stets auch zu Ende zu denken. In jeder neuen Szene muss man sich fragen: wie handelt die Figur und warum und was für eine Konsequenz hat das für den Fortgang der Erzählung. Denn die Erzählung ist ein Gewebe, das die Figuren anschlagen und worin sie sich verfangen sollen, dessen Fäden sie um sich winden und mit sich tragen sollen, aber zerreißen dürfen sie sie nicht (außer natürlich, wenn das das Konzept der Erzählung ist).

João Ricardo Pedro ist ein Meister im Erschaffen von Erzählgewebe, es scheint ihm so leicht wie das Schreiben selbst von der Hand zu gehen und seine Figuren wirken so behutsam in dieses Geflecht gesetzt und darin belassen, als wären sie als Gestalten geplant und nicht als Menschen. Seltsamerweise empfinde ich diese blasse Kontur der Figuren nicht einmal als großen Kritikpunkt, auch wenn die Ausstaffierung und die prägenden Momente oft zurechtgeschnitten erscheinen, sehr einfach ausgemalt; sodass man den Eindruck bekommt, sie seien bloß dazu da, den feinen Kosmos der Erzählung an den richtigen Enden zu erden und zu beschweren. Wahrscheinlich ist das kein Problem, weil die Erfahrungen und Erlebnisse der Gestalten so lebendig und bewegend sind, dass ihre Gestalthaftigkeit eher wie ein perfektes Gefäß und nicht wie eine schwache Ausführung wirkt.

Im Grunde setzt sich die Handlung des Buches aus den Erlebnisfacetten und individuellen Lebensläufen einer Familie in Portugal zusammen, deren letzter Spross ein begnadeter Pianist ist. Seine Musik, die Briefe von einem Freund des Großvaters, die über 40 Jahre hinweg eintreffen, ein Gemälde mit einer einbeinigen Frau, die Militäreinsätze des Vaters in Angola, um all diese wiederkehrenden Schwerpunkte kreisen die Geschichten und die Zentripetalkräfte dieser Gegenstände halten das Erzählte im Umfeld der Magie des Gewebes. Wobei Magie vielleicht das falsche Wort ist, denn die Erzählung hat nichts Phantastisches an sich. Aber es liegt eine spezielle Kunstfertigkeit in der Art, wie Pedro eine einzigartige Mischung aus Erstaunlichen und Gewöhnlichen ansammelt und ausbalanciert und diese Kombination zu seinem Stoff erklärt.

Auch in der Form ist das Buch sehr kunstvoll aufgebaut. Die Erzählebenen schieben sich mit jedem Kapitel der sieben Teile weiter ineinander, manche Elemente entfalten sich, manche geraten wieder in den Hintergrund, aber nichts ist je völlig entrückt, im Hintergrund wird weiter daran gedreht, bis ein weiterer Erzählbogen über die gespannten Saiten geht. Immer wieder spielen Rückblicke eine zentrale Rolle und die Erzählung scheint bis zuletzt keine Konsequenz, kein Ziel zu haben und doch verdichtet sich mit jeder Seite eine einmalige Tiefe; das Buch gerät zum Erkenntnisinstrument, zu einer Stimme, die permanent von Geheimnissen und Schicksalen spricht und in diesen Aspekten, in der Spannung zwischen dem eintretenden Tod und dem Erlebten, ihren Widerhall findet.

Die Kürze der Kapitel und die unaufdringliche Finesse haben mich ein ums andere Mal an Nabokov erinnert. Ich finde es vorschnell, dem Buch eine Einmaligkeit oder einen Klassikerstatus anzudichten. Klar aber ist, dass hier ein Buch vorliegt, das immer wieder aufs Neue zu faszinieren weiß und darüber hinaus von einem sehr fähigen Erzähler geschrieben wurde. Man wird sehen müssen, was auf dieses Debüt folgt. „Wohin der Wind uns weht“ jedenfalls ist ein eindrucksvoller Roman über die kleinen, spektakulären Dinge im Leben der Menschen, über die Dinge, denen sie bis zum Ende die Treue halten und denen, die sie bis zum Ende verfolgen.

Link zur Suhrkampseite des Buches