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Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu “Jennifer Blood 2 – Frühjahrsputz”


Frühjahrsputz Eigentlich war ja alles geklärt, alle Onkel waren erledigt, der Vater gerächt, die Woche vorbei und es könnte nach all dem Stress ein wunderbarer Sonntag auf dem Programm stehen. Aber nicht nur vergisst Jen (alias Jennifer Blood), die Hausfrau und Mutter mit der Nightime-Rächerin/Killerin-Persönlichkeit, die Waffenkammer im Keller fachgerecht zu schließen (woraufhin der Sohn sie findet), zusätzlich gibt es neuen Ärger wegen des albernen Cheerleader/Ninja-Killerkommandos, das sie während ihrem Rachefeldzug mal eben ausgeschaltet hatte, denn deren Eltern sind nun plötzlich ihrerseits auf Rache aus; außerdem rückt ihr die Polizei etwas näher auf die Pelle. Alle wollen also Jennifer Blood und das fast schon totgeglaubte Alias hat plötzlich wieder jede Menge zu tun…

Garth Ennis, Creater von Jennifer Blood, gab für die Issues #7-12 den Stab an Al Ewing weiter (und kehrte später zurück). Ewing (unterstützt von Kewher Ball, der bereits #5-6 gezeichnet hatte, und Eman Casallos bei #9) gelingt es erstaunlich gut, die abgedrehte und glatte Coolness von Ennis aufzugreifen und mit einer etwas komplexeren Storystruktur zu kombinieren. Auch bei ihm krankt der Comic noch immer an einigen Diskrepanzen, besonders was die Motivation mancher Figuren betrifft (z.B. scheinen die Eltern der Cheerleader nicht wirklich an Rache interessiert zu sein, mehr so als täten sie dergleichen aus Gewohnheit/Pflichtbewusstsein). Auch hat Jen wieder leichtes Spiel mit allen ihren Opfern. Aber statt sie einfach nur als aalglatte Killerin darzustellen, zeigt Ewing geschickt auf, dass sie auch viel von einer Psychopathin hat und ihre Rechtfertigungen für die neuen Gewaltausbrüche im besten Fall dürftig sind, nicht nur provisorisch, sondern vielleicht auch schlicht heuchlerisch.

Auch einige zwischenmenschliche Dimensionen bekommen endlich etwas Tiefe und Jens Familie ist nicht mehr komplett zum Statistendasein verdammt. Es gibt wieder einige witzig-gewöhnungsbedürftige Gags und Verrücktheiten, wirklich abgründig wird das Werk aber nie, höchstens die Figur Jennifer Blood. Viele sympathische Figuren und spannende Stränge gehen schließlich in Jens durchgestylten Actioneinsätzen unter.

Wieder sechs Tage im Leben von Jennifer Blood, turbulent, gnadenlos, spritzig und teilweise etwas antiklimaktisch. In mancher Hinsicht kündigen sich in diesem Band einige Entwicklungen an, die zumindest noch für einen dritten spannenden Band sorgen könnten und für Fans von Action mit ein bisschen gelungenem Drumherum ist der Band durchaus zu empfehlen. Wer übertrieben taffe Frauen als Comicfiguren mag, dem wird Jennifer Blood eh gefallen.

Fazit:

Lesenswert:
🌟 🌟 🌟
Grafik:
🌟 🌟 🌟 🌟
Story:
🌟 🌟 🌟 🌟
Aufmachung:
🌟 🌟 🌟 🌟

Zu “Jennifer Blood I – Selbst ist die Frau”


Jennifer Blood I Wäre Jennifer Blood ein Film, würde er wohl niemanden hinter dem Ofen hervorlocken, schließlich gibt es schon einige von dieser Machart: Frau/Mann rächt den Tod von Liebsten/nahen Verwandten, in dem sie nach und nach alle Killer*innen und Mitverschwörer*innen umbringt, schön der Reihe nach, möglichst erbarmungslos und rücksichtslos, unbeirrt, manchmal mit ihren eigenen Waffen, in ihren eigenen Umgebungen, dabei stets die Souveränität in Person. Uma Thurman lässt grüßen. Garth Ennis zieht das Ganze nicht wirklich neu auf und liefert solide Kost, mit vielen kleinen Bösartigkeiten und Gags.

Zusätzlich zu ihrem Rachefeldzug führt Jen (alias Jennifer Blood) noch ein Doppelleben: sie hat einen braven, vogelverrückten Mann und zwei Kinder im Grundschulalter, die allerdings im Verlauf der Ausgaben #1-6, die in dieser deutschen Edition zusammengefasst sind, nur als idyllische Kontrapunkte zu ihren nächtlichen Racheakten eine Rolle spielen, wirklich viel Persönlichkeit haben sie nicht. Jen will ihnen eine liebende Mutter/verlässliche Frau sein, doch in der Woche, in der wir sie begleiten dürfen (der Off-Text ist in großen Teilen ein Tagebuch, das Jen über den Fortgang ihre Racheakte führt) ist sie trotzdem jede Nacht unterwegs, um einen weiteren ihrer “Onkel” zu töten …

Wieso es Onkel sind und warum sie es auf sie abgesehen hat, erfahren wir Stück für Stück und erst ganz am Ende ergibt sich ein vollständiges Bild. Es ist zwar nicht direkt raffiniert, aber schon ordentlich, wie Ennis die einzelnen Kapitel und gleichsam den größeren Bogen inszeniert (er greift dabei auf manch altbewährte Schnörkel zurück, so haben bspw. die einzelnen Tage jeweils einen Songnamen als Motto). Er nimmt sich, wie bereits erwähnt, immer wieder Zeit für ein paar morbide Späße oder erschafft Gelegenheiten, in denen Jen ihre toughness einmal mehr unter Beweis stellen kann.

Psychologisch können der Charakter Jennifer Blood und der Verlauf der Handlung nicht wirklich überzeugen, dafür wirkt alles zu aalglatt, für Ambivalenzen bleibt zu wenig Raum. Dafür steigert sich die Serie, fachgerecht, mit jedem neuen Heft in Sachen Explosivität und Gewaltpotenzial – spätestens ab #3 ist es nichts mehr für schwache Nerven.

Graphisch sind die ersten drei Hefte mit Adriano Batista gelungen, gut schattiert und kantig, Marco Marz vierten Teil mit feineren Linien finde ich allerdings am besten, Kewber Baals Teile #5 und #6 sind eine Art Kompromiss aus den Stilen seiner beiden Vorgänger.

Alles in allem: wer eine fetzige, stylische und vor Kugeln und Blut nur so knallende Serie mit einer Powerfrau in der Hauptrolle sucht (die einen Fetisch für Waffen und coole Outfits und keine Scheu vor jeder Art von Gewaltanwendung hat), dem kann man Jennifer Blood wohl bedenkenlos empfehlen. Abgesehen von dieser soliden Kost und einem guten Aufbau bietet die Story allerdings wenig Eigenständiges, die Heldin hat keinen Knacks, es gibt keine Höhepunkte, hauptsächlich Prozedere, auch keine spannenden oder interessanten Wendungen. Graphisch ist alles gut bis sehr gut.

Fazit:

Lesenswert:
🌟 🌟 🌟
Grafik:
🌟 🌟 🌟 🌟
Story:
🌟 🌟 🌟
Aufmachung:
🌟 🌟 🌟 🌟 (leider löste sich bei mir sehr früh ein Teil der Seiten vom Einband)

Zu George Orwells zweitem Band mit Essays: “Rache ist sauer”


rache-ist-sauer_orwell In kaum einem Werk ist mir ein solches Maß an Scharfsinn, Gewissenhaftigkeit und Menschlichkeit begegnet, wie in den essayistischen Schriften und Berichten von George Orwell. Für mich persönlich ist es nicht übertrieben, bei der Beschreibung dieser 70 Jahre alten Texte von Aktualität, entlarvender Meisterschaft und moralischer Größe zu sprechen – ganz ohne Ironie oder den Wunsch, die Texte durch diese Bezeichnungen bedeutender zu machen, als sie sind.

Was Orwell vor allem eine Sonderstellung gibt, ist sein kompromissloses (jedoch nicht: radikalisiertes) Engagement, die Aufmerksamkeit, die er den Leidtragenden der industrialisierten und ideologisierten Gesellschaft zukommen lässt: den Soldaten an der Front, den Arbeitern in den Fabriken und den armen und von der Gesellschaft vergessenen Schichten der Bevölkerung. Dies alles in Kombination mit einem Intellekt, der größere Zusammenhänge erfassen und darstellen kann, wie sie selten auf den Punkt gebracht werden. Ihm gelingt es einfachste und nahezu nicht zu widerlegende Aussagen zu formulieren, zum Beispiel über den Krieg und die öffentliche Meinung:

“Was die breite Masse der Bevölkerung betrifft, so rühren die erstaunlichen Meinungsumschwünge der heutigen Zeit und die Gefühle, die sich auf- und abdrehen lassen wie ein Wasserhahn, von der Suggestivkraft der Zeitungen und Radios her. Bei den Intellektuellen, würde ich sagen, hat das mehr mit Geld und der Sorge um die persönliche Sicherheit zu tun. Je nach Lage der Dinge werden sie in einem gegebenen Augenblick ‘für den Krieg’ oder ‘gegen den Krieg’ sein, aber in beiden Fällen fehlt ihnen völlig die reale Vorstellung, was der Krieg ist.”

Seine Kritik an den Medien und den oberen Klassen ist sicher nicht allein auf weiter Flur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – aber nirgendwo habe ich so präzise formuliert gefunden, nirgendwo wird so schnell ersichtlich, ohne Umwege über die Abstrktion, wo der Hund vieler Problematiken begraben liegt: direkt vor unserer Nase, im Aufbau der Gesellschaft, die vor allem auf Unterdrückung und Kontrolle basiert und auf eine immer größeren Ausbeutung und Spaltung hinausläuft. Privilegien waren schon immer alles.

“Was mich am meisten bedrückt, wenn ich an die Antike denke, ist der Umstand, dass diese Hunderte von Millionen von Sklaven, auf deren Rücken ganze Zivilisationen generationenlang beruhten, nichts über sich hinterlassen haben. Wir kennen nicht einmal ihre Namen.”

Nietzsches Wahn von den wenigen Übermenschen, denen alle anderen dienen: längst hat die Geschichte seine Forderung in gewissem Maße eingelöst und wird sie weiter einlösen. Dabei geht es nicht einmal um Namen, sondern vielmehr darum, dass wir ausblenden, unter welchen Bedingungen Menschen leben mussten, während sich „große Geschichte“ ereignete und immer noch leben, während wir den Lebensstandard genießen, den ihre Arbeit gewährleistet.

Die Menschlichkeit: selbst für die meisten aufgeklärten Menschen endet sie am Rand der humanistischen Disziplinen, Schriften und Wissenschaften. Für Orwell endet sie dort nicht. Er weiß, dass ihr wahres Schlachtfeld ein oft nicht wahrgenommenes ist; ein Feld der Ausbeutung, von dem niemand sprechen mag.

Während der zweite Weltkrieg, vordergründig ein Krieg der Ideologien, tobt, schreibt Orwell:

“Den Lebensstandard der gesamten Welt auf das Niveau des englischen zu bringen, wäre kein größeres Unternehmen als der Krieg, den wir gegenwärtig führen. Ich behaupte nicht, und mir ist nicht bekannt, dass sonst jemand es tut, dass damit alles an sich bereits gelöst wäre. Es geht mir nur darum, dass Entbehrung und Knochenarbeit abgeschafft sein müssen, ehe man an die eigentlich menschlichen Probleme herangehen kann.”

Heute gibt es noch weitere Probleme, vom Klimawandel über Epidemien bis zum Atommüll, denen wir uns stellen sollten, anstatt Kriege und Scheinkriege auszufechten.
Es ist, dessen bin ich mir bewusst, eine sehr einfache Position, die Orwell bezieht. Aber obwohl sie einfach ist, macht sie mehr her, als ein Großteil des ganzen Geschnatters, Gezeters und Gebrülls unserer heutigen Debattenkultur, wo einer den anderen moralisch korrigiert und bezichtigt, ohne dass man einfach mal ehrlich von den grundsätzlichen Problemen unserer  Systeme redet. Orwell legt den Finger auf das Wesentliche, was heute viel zu selten getan wird.

Was ich an Orwell auch sehr schätze: dass durch die Schlichtheit und die nie auftretende Selbstüberschätzung in seinem Stil, keine moralisierende Atmosphäre oder Haltung aufkommt. Sein Impetus ist die Wahrheit und dass man sie gerecht betrachte. Selbst wenn er zu so einem schwierigen Thema wie Rache schreibt, bleibt er bei seiner analytischen Verfahrensweise und zeigt, dass es eigentlich ein nicht so schwieriges Thema ist:

“Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.”

Orwell hat hier meiner Ansicht nach zwar nicht bedacht, dass das Gefühl des Unvermögens durchaus bleiben kann, auch wenn andere Umstände eintreten. Aber unsere Generation, die den Plots von dutzenden Rachefilmen aus Hollywood kennt und denen die Wichtigkeit dieses Gefühls mit der Popkultur eingeimpft wurde, täte gut daran, sich einmal anhand von George Orwells Definition die eigenen Gefühle anzuschauen, um zu begreifen, dass Rache meist nur ein selbstgewählte, erniedrigte Position einem anderen Menschen gegenüber ist, die man auch schlicht überwinden kann.

Vieles, was George Orwell in diesem Band schreibt, ließe sich zusammenfassen mit einem Satz von ihm selbst:

“Die Tatsache, dass man eine derart banale Banalität niederschreiben muss, zeigt, was die Jahre des Rentier-Kapitalismus aus uns gemacht haben.”

Da kann ich nur noch meine Unterschrift druntersetzen. Ich will nicht den Antikapitalisten spielen, will Orwell nicht unter diesem Label abgestempelt, eingeordnet und vergessen wissen. Aber diese schlichte Aussage nagelt fest, was an vielen Stellen im Argen liegt, noch heute.

Es sei zuletzt noch erwähnt, dass es in diesem Band nicht nur um Politik & Gesellschaft geht – auch zu Shakespeare, Krimis und Avantgarde hat Orwell einige interessante Dinge zu sagen.

Orwell-Essays lesen, das heißt, eine gewisse Mündigkeit hochhalten und lernen. Ich bin froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte; sie war heilsam und zugleich schmerzlich und ich werde noch öfters auf sie zurückkommen.