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Zu “Die Mutter aller Fragen” von Rebecca Solnit


Die Mutter aller Fragen „Dies hier ist ein feministisches Buch, aber keines, das nur mit der Erfahrungswelt von Frauen zu tun hat, sondern mit der von uns allen – mit Männern, Frauen, Kindern und von Menschen, die Geschlechterbinarität und -grenzen infrage stellen.“ (aus dem Vorwort)

Mit jedem neuen Buch avanciert Rebecca Solnit für mich ein Stück weit mehr zu einem wichtigen Fixstern am Himmel derer, die wichtige Impulse und Ideen zu den Debatten unserer Zeit liefern. Schon ihre Bücher „Wenn Männer mir die Welt erklären“, „Die Dinge beim Namen nennen“ und „Wanderlust“ habe ich mit großen Gewinn gelesen und „Die Mutter aller Fragen“ reiht sich hier nahtlos ein und gibt mir dieses ganz besondere Gefühl der Dankbarkeit, das man mit den Autor*innen verbindet, die einen immer wieder aufs Neue prägen.

Wie auch schon bei „Wenn Männer mir die Welt erklären“ ist in „Die Mutter aller Fragen“ der Titelessay nur einer von vielen und der Band dreht sich nicht allein um Mutterschaft und deren zentrale Rolle bei der Bewertung weiblicher Existenzen; er ist sogar separiert und den beiden, sehr viel umfangreicheren Kapiteln des Buches wie ein Prolog vorangestellt.

In diesem Titelessay setzt sich Solnit mit der Vorstellung auseinander, zum Glück einer Frau gehöre unausweichlich auch die Mutterschaft und ihre Abwesenheit sei ein wichtiges Indiz – Ausgangspunkt ist (wie auch beim Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“) ein persönliches Erlebnis: bei einer Lesung wird sie vom Moderator anschließend direkt auf ihre Kinderlosigkeit angesprochen, statt auf ihr Werk. Von diesem Fall und ihrer persönlichen Geschichte ausgehend, dekonstruiert sie verschiedene herkömmliche Vorstellungen von Familienglück und stellt ihnen gleichsam die Freiheit der Wahl (ob Kind oder kein Kind) und weiterentwickelte Be- und Erziehungsmodelle gegenüber.

Der inbrünstige Glaube, der heterosexuelle Zwei-Eltern-Haushalt sei für Kinder etwas geradezu magisch Tolles, sitzt tief, und zwar in viel zu vielen Teilen dieser Gesellschaft. Das führt dazu, dass viele in unglücklichen Ehen verbleiben, was sich auf alle Beteiligten zerstörerisch auswirkt. Ich kenne Menschen, die lange gezögert haben, eine schreckliche Ehe zu beenden, weil eine Situation, die für einen oder sogar beide Elternteile unerträglich ist, sich angeblich auf Kinder segensreich auswirke.

Nachdem sie mit ein paar Gemeinplätzen aufgeräumt hat, geht sie noch einen Schritt weiter und legt durch einige Statistikern und Beispiele den Leser*innen nahe, die herkömmlichen Glückskonzepte (und dazugehörigen Narrative) der derzeitigen Gesellschaften generell zu hinterfragen:

Die Rezepte für ein erfülltes Leben, die uns unsere Gesellschaft anbietet, verursachen offenbar eine ganze Menge Unglück, sowohl auf Seiten derer, die nicht in der Lage oder willens sind, diese Rezepte zu befolgen, und deswegen stigmatisiert werden, als auch auf Seiten derer, die brav nach Rezept leben, aber das Glück trotzdem nicht finden.

So viel zum Eingangstext. Das erste Kapitel des Buches bildet dann größtenteils ein längerer Essay über das (aufgezwungene, unfreiwillige) Schweigen (in vielen Dimensionen – durch physische Gewalt herbeigeführt, durch Angriffe auf die Glaubwürdigkeit, durch das Verhindern von Öffentlichkeit, etc.). Der Text ist ein etwas havarierendes, sprunghaftes Gebilde mit vielen Zwischenüberschriften, das aber immer wieder Bemerkenswertes herausarbeitet und im Ganzen eine erschütternde Geschichte erzählt: die Geschichte von der Diversität und ihren Feinden. Und von einem Aufwind der Veränderung.

Im Kampf um die Freiheit ging es immer auch darum, Bedingungen zu schaffen, die denen, die vormals zum Schweigen gebracht wurden, zu Sprache und Gehörtwerden verhelfen. […] Wenn das Recht, sich zu äußern, glaubwürdig zu sein und gehört zu werden, eine Art Reichtum ist, dann wird dieser Reichtum momentan umverteilt.

In den anderen Essays des Kapitels geht es dann um diesen Aufwind, also um die Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren bemerkbar gemacht haben. Sehr schön ist, wie Solnit hier neben den vielen Aktionen von Aktivistinnen und Künstlerinnen auch über Männer spricht, bei denen sie immer mehr aufrichtiges Interesse für feministische Belange wahrnimmt und auch, dass sie dementsprechend agieren. Und sie geht sogar so weit, in einigen Abschnitten eine Theorie zu verhandeln, nach der auch viele Männer vom Patriachat kaputt gemacht werden, indem sie dazu angehalten werden, sich selbst emotional zu verkrüppeln, ihre Empathie abzubauen und keine Gefühle zu zeigen. Als kleines, noch harmloses Beispiel nennt sie:

Als ich noch sehr jung war, habe ich mit meinem Freund eine Reise mit dem Auto gemacht, und als wir losfuhren, sagte sein Vater zu uns: »Meldet euch mal. Deine Mutter macht sich sonst sorgen.« Die Mutter war die Platzhalterin seiner Gefühle, die er nicht ausdrücken konnte. […] [er war so ein Sinnbild für] Männer, die sich bei jeglichem Gefühlsausdruck im schlimmsten Fall konkret unwohl fühlten und meinten, dass das Verbindliche eben nicht ihre Aufgabe war. […] Diese Leute erinnern uns daran, dass dieses Abgestumpftsein im Kern aller Dinge ruht und nicht an deren Rändern […] eine ganze zentrale Angelegenheit ist und keine marginale.

Ein weiterer großer Themenkomplex ist der Umgang mit sexuellem Missbrauch – und wie sich auch hier in den letzten Jahren (im Zuge der Cosby-Affäre und #metoo, etc.) einiges verändert hat, aber immer noch von einer rape culture gesprochen werden muss, in der nicht nur pathologisch eine Täter-Opfer-Verschleierung stattfindet, sondern generell vieles ungeahndet und ungenannt bleibt.

Menschen werden u.a. deswegen verletzt, weil wir nicht über diejenigen sprechen wollen, die sie verletzen. […] und ich glaube fest daran, dass eine Welt, in der wir die Männer nicht so häufig von ihrer Verantwortung entbinden würden, eine bessere wäre.

Das zweiten Kapitel wartet dann noch mit allerhand großartigen Einzeltexten auf, u.a. einer Kritik an einer Liste mit „80 Büchern, die man als Mann gelesen haben sollte“, einem Essay zum erstaunlich progressiven 50er Jahre Spielfilm „Giganten“ und einem Text mit dem Titel „Wenn Männer mir Lolita erklären. Nebenbei fließen immer wieder prägnante Beobachtungen ein, zum Beispiel zur Pornographie:

Der Mainstreamware scheint es jedoch prinzipiell weniger um die Macht der Erotik zu gehen als um die Erotisierung der Macht.

Diese Beobachtung mag für manche offensichtlich oder hinlänglich bekannt sein, aber für mich fasst dieser Satz tatsächlich sehr gut das zusammen, was ich an Mainstreampornographie meist abstoßend, im gelindesten Fall irritierend finde. Es ist beeindruckend wie leicht Solnit solche Feststellungen und kurzen Abschweifungen von der Hand gehen und wie sie doch bei aller Prägnanz und allen Zuschreibungen nie eine potenzielle und unzulässige Verallgemeinerung aus dem Blick verliert, sich immer wieder Zeit nimmt, im richtigen Maß ihre Beobachtungen und Ausführungen zu kontextualisieren und zu relativieren, ohne sie abzuschwächen

In einem ebenfalls sehr lesenswerten Essay mit dem Titel „Die Flucht aus der fünf Millionen Jahre alten Vorstadtsiedlung“ geht es um den langegehegten und längst überholten Mythos von den ausziehenden männlichen Jägergruppen und den braven Frauengruppen, die Zuhause blieben, der gerne als Rechtfertigung für die Rollenverteilung in allen Zivilisationen herangezogen wird. Mit den letzten Sätzen dieses Textes möchte ich schließen und jeder/m die Bücher von Solnit ans Herz legen.

Wir müssen aufhören, das Märchen von der Frau zu erzählen, die passiv und abhängig zu Hause blieb und auf ihren Mann wartete. Sie saß nie wartend herum. Sie hatte zu tun. Und das hat sie immer noch.

 

Zu Bettina Wilperts “Nichts, was uns passiert”


Nichts was uns passiert „Sie wusste, was passiert war, rational. Aber war es wirklich eine Vergewaltigung? Die hatte sie sich anders vorgestellt: Ein Mann, der einen nachts auf dem Nachhauseweg überfällt, oder der Onkel, der die Nichte als Kleinkind missbraucht. Oder der Nachbar. Aber kein Doktorand, den man kennt, zu dem man Vertrauen aufgebaut hat. Ein Geliebter. Ein Freund.“

Vergewaltigung ist nicht nur deshalb ein brisantes Thema, weil viele von uns mit patriarchalen Denkmustern großgezogen werden, wir alle mehr oder weniger in patriarchalen Strukturen leben und sexuelle Gewalt und sexuelle Nötigung diesem System mit eingeschrieben sind, sondern auch, weil es fast unmöglich ist, sich dem Thema rein rational zu nähern.

Eine Freundin sagte einmal zu mir: „Ich hätte nichts dagegen, wenn man Sexualstraftäter einfach am nächsten Baum aufknüpfen würde. Es gibt solide Rechtfertigungen und mildernde Umstände für viele Arten von Verbrechen, sogar Mord, und deshalb sollten solche Verbrechen akribisch verhandelt werden, aber es gibt schlicht keine Rechtfertigungen und mildernden Umstände für Vergewaltigungen, von mir aus könnte man mit den Tätern kurzen Prozess machen.“ Ich habe damals nichts erwidern können und bis heute fällt mir nichts ein, was ich erwidern könnte – wenn man mal von der Leier über die Wichtigkeit des Rechtsstaats, die Wichtigkeit des menschlichen Umgangs mit dem Unmenschlichen absieht, die ich sonst gern und meist auch mit Überzeugung anstimme.

Aber die Wahrheit ist, dass auch mich diese Verbrechen ungeheuer wütend machen, auch ich kann sie nicht rational betrachten, möchte nicht rational argumentieren, wenn es um Vergewaltigungen und andere Formen von sexueller Nötigung geht. Und gerade weil dieses Thema dermaßen aufgeladen ist, ist es gut, dass es Bücher wie den Debütroman von Bettina Wilpert gibt.

In diesem Roman, der aus der Perspektive einer unbekannten Erzählerin (oder eines unbekanntes Erzählers, ich glaube, selbst das wird nicht spezifiziert) geschrieben ist, die (der) alle anderen Figuren zum zentralen Vorkommnis, der Vergewaltigung, und der Vorgeschichte und den Folgen „interviewt“, bekommt man als Leser*in die ganze Mischung aus Gefühlen, Fakten, Zweifeln, Überlegungen vorgesetzt, die sich für das Opfer und den Täter, sowie das soziale Umfeld, aus dem Tatbestand/Vorwurf der Vergewaltigung ergeben.

Anna und Jonas lernen sich in der Zeit der Fußball-WM 2014 kennen. Nach einem Abend mit viel Alkohol und Debatten über Literatur, den Ukraine-Konflikt und andere Themen, haben sie das erste Mal Sex. Aus diesem One-Night-Stand entwickelt sich nichts Größeres, schließlich begegnen sie sich auf einer Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes wieder, reden und trinken den ganzen Abend. Am Ende ist Anna viel zu betrunken, um nach Hause zu gehen und der Freund und Jonas bringen sie in Jonas Zimmer. Später, so behauptet Anna, vergeht sich Jonas, obwohl sie mehrmals Nein sagt, an ihr. Am Morgen flüchtet sie aus dem Zimmer, ohne ihn zu konfrontieren.

Jonas fällt angeblich aus allen Wolken, als er, erst einige Wochen später, durch eine Anzeige mit den Vorwürfen konfrontiert wird. Schnell sind die Frontverläufe gezogen und viele Stimmen versuchen für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen, Beteiligte, Freund*innen und Familienangehörige schildern ihre Sicht auf die Dinge. Fakten werden gewendet, Widersprüche tun sich auf, klar und deutlich bleibt jedoch die Verletzung, die Anna erlitten hat, die Erschütterung, die man ihr ansieht.

Es ist beeindruckend, wie Wilpert in ihrem Roman die zentralen Problematiken des Themas anhand einer Geschichte zum Ausdruck bringt. Obgleich wohl viele Leser*innen dazu neigen werden, Annas Version zu glauben, kann man dank ihrer umsichtigen und genauen Darstellung auch Verständnis aufbringen für die Menschen, die nicht glauben wollen, dass Jonas etwas dergleichen getan hat, die für eine Unschuldsvermutung plädieren (Dennoch analysiert man natürlich permanent deren Motive).

Das Buch wirft einige Fragen zum derzeitigen Umgang mit Sexualstraftaten auf, ist aber vor allem die gelungene Darstellung eines Falls, wie er wohl tatsächlich vorkommt (leider vielleicht sogar öfter als vermutet), und all der emotionalen Verwicklungen, menschlichen Unsicherheiten, die damit verknüpft sind, und den Positionen, die sich daraus ergeben. Dass das Buch durchgehend bei der Darstellung bleibt, ohne Wertung von höherer Stelle, und dennoch die ganze ungeheuerliche Dimension des Themas enthüllt, das ist wirklich (again) beeindruckend. Und große Literatur.

„Jonas war kein böser Mensch. Er hatte etwas Schlimmes getan, das war ein Unterschied. Er war kein Teufel, und er müsste nicht wie einer behandelt werden. Nein, wahrscheinlich könnte sie ihm nie verzeihen, sagte Anna.“