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Eine wichtige Schrift, die Rassismus auf den Punkt bringt


How to be an antiracist

„Genauso funktionieren rassistische Ideen und Mechanismen – und generell jede Form der Intoleranz: Wir werden dahingehend manipuliert, dass wir die Menschen als das Problem sehen und nicht die Politik, die sie hereinlegt.“

Es gleicht einem schweren Urteil, wenn man heute jemandem unterstellt, eine Aussage oder eine Handlung sei „rassistisch“. Als Feststellung kann eine solche Aussage kaum gelten – fast immer wird sie als Angriff, zumindest als Feindseligkeit ausgelegt. Anders gesagt: ein unaufgeregter, neutraler Diskurs über Rassismus ist kaum möglich. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, schließlich reden wir von massiver Ungerechtigkeit, jahrhundertelanger Unterdrückung und fortdauernder Marginalisierung. Andererseits wäre ein halbwegs sachlicher Diskurs über Rassismus wichtig, damit es nicht einfach nur um Schuldige und Opfer, sondern um die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft gehen kann.

Erstmal ist Rassismus kein Schimpfwort, sondern die geäußerte, verinnerlichte oder zumindest unbewusst angenommene Überzeugung, dass es so etwas wie Merkmale gibt, die bestimmte Menschengruppen teilen und – dies der verwerfliche Aspekt des Ganzen, der Rassismus zu einem Übel macht – das man von diesen Merkmalen und der Zugehörigkeit zu jener Menschengruppe Rückschlüsse auf den Charakter und Status eines einzelnen Menschen ziehen kann.

Es gibt diese Überzeugung in verschiedenen Ausprägungen: es gibt vehemente Verfechter und es gibt Gesellschaften in denen bestimmte Formen des Rassismus sehr präsent sind, geradezu verankert, so zum Beispiel in großen Teilen der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber letztlich hat fast jeder Mensch hier und da rassistische Tendenzen. Sie gehören zu den normalen Vorurteilen, dem schematischen Denken, mit denen wir die Welt einteilen, erklären. Teilweise beruhen Vorurteile auf eigenen Erlebnissen, die wir haben, teilweise bekommen wir sie anerzogen, von den Eltern oder den Gesellschaften, in denen wir leben – zumindest werden wir mit einigen so oft konfrontiert, dass wir sie teilweise übernehmen, wenn wir nicht das Glück haben, Erfahrungen zu machen, die den uns umgebenden Meinungen widersprechen. Wir sind also alle, auf gewisse Weise, Rassisten/Rassistinnen. Leugnen ist dabei der erste Schritt in die falsche Richtung.

„Leugnen ist der Herzschlag des Rassismus, der quer durch alle Ideologien, Races und Nationen pulsiert. Er schlägt in uns. Viele, die Trumps rassistische Ideen anprangern, leugnen ihre eigenen.“

Wie können wir der Falle entgehen, einen Rassismus gegen den anderen auszuspielen und wirklich antirassistisch werden, also uns von Vorstellungen lösen, die glauben, ein Individuum über seine Hautfarbe, seine sexuelle Orientierung, seine Herkunft, sein Geschlecht, etc. definieren zu können, nicht über seine individuellen Meinungen und Handlungen?

Nun, hier in Ibram X. Kendis Buch finden wir eine Anleitung zu genau diesem Thema. Es ist eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des Rassismus in den Vereinigten Staaten, aber auch ein Leitfaden für die Bekämpfung rassistischen Denkens und Handelns, spezifisch und generell.

„Ich glaube nicht mehr länger, dass eine schwarze Person nicht rassistisch sein kann. Ich lasse nicht mehr jede meiner Handlungen davon bestimmen, wie ein imaginärer »weißer« oder »schwarzer Richter« sie beurteilen würde, versuche nicht mehr, weiße Menschen davon zu überzeugen, dass ich ein gleichwertiger Mensch bin, und Schwarze Menschen davon, dass ich eine Race gut vertrete. Ich schere mich nicht länger darum, wie die Handlungen anderer Schwarzer Menschen auf mich zurückfallen, denn keiner von uns ist ein Repräsentant von Race, und kein Individuum ist verantwortlich für die rassistischen Vorstellungen eines anderen.“

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu Roxane Gays Essays in “Bad Feminist”


Bad Feminist „Ich bin eine schlechte Feministin, weil ich nicht auf einen feministischen Sockel gestellt werden will. Von Menschen, die man auf Sockel stellt, wird erwartet, dass sie etwas darstellen, und zwar perfekt. Und wenn sie es versauen, stürzt man sie. Ich versaue es regelmäßig. Betrachten sie mich also als bereits gestürzt.“

Wer nach diesen Eingangsworten fürchtet, Roxane Gays Essays könnten ein weiteres unausgegorenes antifeministisch-feministisches Manifest (wie etwa Jessa Crispins „Warum ich keine Feministin bin“) sein, den kann ich sofort beruhigen: sie sind weit davon entfernt.

Denn obgleich Gay im Vorwort lang und breit ihre Schwierigkeiten beschreibt, zu dem Begriff und der Idee des Feminismus eine gesunde Beziehung aufzubauen, zeigt sich im Verlauf des Buches, dass gerade dieser anfängliche Zweifel die Grundlage einer vielschichtigen und sehr tiefgehenden Auseinandersetzung ist.

Wenn man mich [früher] als Feministin bezeichnete, hörte ich: » Du bist ein zorniges, Sex und Männer hassendes weibliches Opfer. « Diese Karikatur haben Menschen aus Feministinnen gemacht, die den Feminismus am meisten fürchten.

Der Kern des Problems, den Gay mit dem derzeitigen US-amerikanischen Feminismus hat, ist sein mitunter einförmiges Denken, kurzum: seine Heteronormativität und das oftmals fehlende Bewusstsein für Klasse und Race. Wie Gay schreibt:

Frauen of Color, queere Frauen und Transgender-Frauen müssen im feministischen Projekt besser verankert werden. Frauen aus diesen Gruppen sind vom Ideal-Feminismus beschämenderweise immer wieder vernachlässigt worden.

Auch finde keine differenzierte Auseinandersetzung mit den Verhältnisse in unterschiedlichen kulturellen Kontexten statt oder mit der Lage in anderen Ländern:

Ich glaube, dass Frauen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern überall auf der Welt Gleichheit und Freiheit verdienen, aber ich weiß auch, dass ich nicht befugt bin, Frauen aus anderen Kulturen zu sagen, wie diese Gleichheit und diese Freiheit aussehen soll.

Nachdem Gay im Vorwort viele kleinere bis größere Kritikpunkte an der derzeitigen Perspektive des US-amerikanischen Feminismus vorgebracht hat, kann man die folgenden Essays u.a. als Versuch begreifen, einige Felder zu er- und einige von ihr genannte Lücken zu schließen. Sie betritt kein feministisches Neuland, aber bereichert den Feminismus um eine wichtige Perspektive.

Folgerichtig steuert Gay konsequent nur etwas zu den Themen bei, zu denen sie einen klaren Bezug hat: als Autorin, als Frau, als People of Color, etc. Ein Großteil der Essays sind bspw. authentische und gewissenhafte Dekonstruktionen und Analysen von Race in den Kontexten von Literatur und Film, Gesellschaft und Politik.

Hier leistet sie in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit (zumindest für mich, der ich vermutlich viele andere Autor*innen, die dasselbe Feld bearbeitet haben und bearbeiten, mangels Übersetzungen und/oder Publicity nicht kenne), schreibt über Reality-TV, Filme wie „The Help“ und „Twelve Years a slave“, Serien wie „Orange ist the new black“ und erzählt, wie sie Tarantinos „Django“ überlebte und warum sie der Serie „Girls“ zwiespältig gegenübersteht.

In der Literatur äußert sie sich zu Guilty Pleasures wie etwa Teenager-Schundromanen, schreibt über die Diskrepanz zwischen der Rezeption von männlichen und der von weiblichen Romanfiguren, bekennt sich ungeniert zu Die Tribute von Panem und nimmt in einem meisterhaften Text Fifty Shades of Grey, auf mehr als nur der literarischen Ebene, auseinander.

Es geht in Fifty Shades um einen Mann, der Glück und Frieden findet, weil er endlich eine Frau findet, die gewillt ist, seinen Scheiß lange genug zu ertragen. […] Ich lache nur bis zu einer gewissen Grenze über Fifty Shades. Die Bücher sind im Wesentlichen ein detaillierter Leidfaden, um Beziehungen zu führen, in der Kontrolle und Missbrauch an der Tagesordnung sind.

Zusätzlich schreibt sie auch noch über sexistische Lyrics und setzt sich mit Vergewaltigungs- und anderen problematischen Witzen in der Comedy-Kultur auseinander.

Aber auch mit dieser Bandbreite an kulturellen Themen ist der Band noch nicht ausgeschöpft. Gay schreibt auch noch über ihre große Liebe zum Spiel Scrabble und wie sie in der dortigen Community eine neue Familie fand, schreibt über Abtreibungspolitik und Polizeigewalt, Racial-Profiling und erzählt Geschichten von Männern, die von Männlichkeitsbegriffen kaputtgemacht werden.

In einigen sehr bemerkenswerten Texten setzt sie sich außerdem mit sexueller Gewalt auseinander, u.a. auch mit dem Phänomen des Verschweigens und Herunterspielens, wenn es sich bei den Tätern um große Persönlichkeiten oder einfach lokale „Helden“ oder Mitglieder in bestimmten Organisationen handelt, bspw. Footballspieler.

In den meisten Fällen entschuldigt man die Drogen- und Alkoholvergehen der Spieler, die Anschuldigungen gegen sie wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung wurden fallengelassen, weil sie fähig waren, auf dem Footballfeld Punkte zu machen. […] Sie konnten für unser Team die Meisterschaft gewinnen, immer wieder.

Auch nach all diesen Aufzählungen habe ich das Gefühl, gerade mal an der Oberfläche von Gays Themenvielfalt gekratzt zu haben. Egal ob Popkultur oder Politik, Race oder Gender, Gay behandelt jeden dieser Themenkomplexe mit der gleichen Sorgfalt und dem gleichen Ernst, ist selbstkritisch, spricht aber auch im richtigen Moment unverhohlenen Klartext.

„Bad Feminist“ ist eine Sammlung von Essays, die weit über den Titelbegriff hinausweist. Gays aufrichtige, unverstellte Beschäftigung mit ihren Themen macht ihre Texte nicht nur unterhaltsam, lehrreich und lesenswert, sondern ist auch beispielhaft und sollte Schule machen.

Ich erzähle einige Geschichten immer und immer wieder, weil mich bestimmte Erfahrungen tief berührt haben. Manchmal hoffe ich, dass ich durch das wiederholte Erzählen dieser Geschichten besser verstehe, wie die Welt funktioniert.

 

Zu Florian Hartlebs “Einsame Wölfe”


Einsame Wölfe “Einem Einzeltäter traut man es scheinbar [anscheinend! – Anmerkung des Rezensenten] nicht zu, sich ohne direkte Anbindung an eine Gruppe zu radikalisieren und danach unter dem Denkmantel von politischem Fanatismus in Eigenregie loszuschlagen – als Ultima Ratio. […] Die Bezeichnung ‘Einzeltäter’ steht in diesen Fällen lediglich für die konkrete Tatplanung. Sie verneint nicht, dass die einschlägige Gewalt- und Ideologiefixierung der Täter Ursachen hat, dass ihre Taten Folge von Kommunikation und Interaktion mit Gleichgesinnten sein können und dass die Akteure sich angesichts von zunehmender Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft und des damit einhergehenden Diskurses motiviert fühlen. […] Sie wollen in erster Linie eine ethnische Minderheit im eigenen Land ins Mark treffen und stellvertretend die Gesellschaft als Ganzes. Gerade die Opferwahl unterscheidet den Rechtsterrorismus von anderen Varianten des Terrors – vom Linksterrorismus, der sich gegen Symbole des Kapitalismus richtet, und vom islamistischen Fundamentalismus, der den Westen und ‘Andersgläubige’ ins Visier nimmt. […] Dieses Buch will die längst notwendige Auseinandersetzung mit dem neuen rechten Terrorismus anstoßen, der gerade nicht importiert ist, sondern mitten unter uns entsteht.”

Einer der schlimmsten Terrorakte des 21. Jahrhundert wurde von einem rechtextremistischen Täter verübt: am 22. Juli 2011 zündete Anders Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe und erschoss anschließend 67 Menschen auf der Insel Utøya. Obwohl er zu einigen rechtsextremen Gruppen Kontakt hatte, plante er die Tat allein und führte sie auch allein aus. Genau fünf Jahre später erschoss der 18 jährige David Sonboly neun Menschen (die meisten mit Migrationshintergrund) im Olympia-Einkaufszentrum in München; auch er war ein Einzeltäter, der fast ausschließlich via Internet seine rechtsextremen Kontakte pflegte.

U.a. diese beiden miteinander verwobenen Terrorakte nimmt Florian Hartleb zum Anlass, in seinem Buch von einem Terrorismus der „einsamen Wölfe“ (von rechts) zu sprechen und ihn als eine der großen Gefahren unserer Zeit zu bezeichnen. Die Figuren, auf die er sich im Folgenden konzentriert (es sind etwa ein Dutzend konkrete Fälle) haben allesamt rassistisch oder ideologisch motivierte Straftaten begangen – von Amokläufern unterscheidet sie, dass nicht die persönliche Kränkung, sondern eine rechtsextreme Gesinnung, ein Weltbild oder ideologische Überzeugungen der Antrieb für die Taten waren; im einen Fall haben die Täter eine Sendungsauftrag, im anderen geht es ihnen nur um die Aufhebung ihrer Kränkung.

“Während bei islamistischen Tätern die Ideologie als zentraler Erklärungsansatz gilt, wird bei rechten Tätern die rassistische Gesinnung oft als Nebenaspekt abgetan.”

Hartleb durchleuchtet auch, in aller Kürze, die Ursprünge des rassistisch motivierten Terrors, die Standardwerke und Leitmotive dieser Szene, kommt auf den NSU und andere Formen des Terrors zu sprechen. Sein Buch ist ohne Frage ein wichtiger Beitrag und es weiß über weite Strecken mit seiner These zu überzeugen. Schwieriger wird es, wenn Hartleb die Psyche der einzelnen Täter zu analysieren beginnt – dabei häuft er teilweise zu viele Details an, manche davon werden einfach mal so in den Raum gestellt, manche genauestens hinterfragt; mitunter verirrt man sich in diesen Details und auch wenn Hartleb durch seine Darstellungsweise einen vielschichtigen Eindruck gewährt, wäre es doch besser gewesen, wenn er manchen Passagen ein einheitlicheres Narrativ gegeben hätte oder sie klarer sturkturiert hätte.

“Einsame Wölfe sind Teil eines globalisierten Rechtsterrorismus, eines virtuellen Netzwerks, in dem potenzielle Täter miteinander verbunden sind.”

Hartleb deckt einige klare Versäumnisse der Behörden auf und fördert Erschreckendes über die Vernetzung von Extremisten untereinander zutage. Sein Buch ist erfreulicherweise selbst kaum ideologisch aufgeladen, ihm geht es um die fehlende Auseinandersetzung und die Wichtigkeit seines Themas, nicht um die Einrichtung einer Front im Bedeutungskampf Rechtsterrorismus vs. islamistischer Terror (Julia Ebner hat in ihrem Buch „Wut“ eh schon gezeigt, wie wesensgleich diese beiden Extremismen sind).

Als Schlaglicht und übersichtlicher Einstieg taugt dieses Buch ganz wunderbar, zum Standardwerk dagegen nicht, dafür deckt es nicht genug ab, lässt einige Wege unbeschritten. An seinem Umfang gemessen ist es dennoch ausgesprochen informativ.

Die Spaltungen in der Gesellschaft (und generell unser Zeitalter) bringen eine höhere Anzahl radikalisierter Individuen hervor und darauf müssen Staat und Behörden vorbereitet sein, sie müssen möglichst früh eingreifen und bekannte Radikalisierungsprozesse irgendwie unterbinden. Hartleb nennt am Ende seines Buches ein paar gute Ansätze. Allein deswegen ist es lesenswert.

Zu Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie”


Eine amerikanische Tragödie besprochen bei Fixpoetry

Zu Joan Didions Essays in “Sentimentale Reisen”


Sentimentale Reisen Joan Didion ist neben Susan Sontag wohl die bekannteste amerikanische Essayistin des 20. Jahrhunderts. Oft ist sogar von einem besonderen Didion-Stil die Rede, dessen Abklatsche sich in vielen amerikanischen und europäischen Zeitungsbeilagen, Blogs und anderswo finden.

Auf ihre Essays trifft tatsächlich die Wendung „par excellence“ zu. Über lange Strecken gelingen ihnen umfassende Darstellungen und doch sind sie auf kleinster Ebene noch Auslotungen, freie Radikale, sie fügen viele Dinge zusammen und brechen sie unverhofft wieder auf. Es sind denkende Gebilde, die nicht nur um ein bestimmtes Thema kreisen, sondern die Darstellung Zeile für Zeile erweitern, zu einem neuen Aspekt vorstoßen, viele Töne anschlagen.

In „Sentimentale Reisen“ sind Texte versammelt, die zwischen 1982 und 1992 geschrieben wurden. Den Reagan-Jahren (und den Jahren seines Vize-Präsidenten Bush sen.), eine Zeit des Kapitalbooms, der deregulierten Märkte, des neuen Aufflammens der US-amerikanischen Interventionspolitik. Jahre, in die das Ende des kalten Krieges fällt, aber von denen auch die starke Prägung der letzten Verschärfungen dieses Konflikts geblieben ist.

Warum sollte man, wenn man von einem Interesse am Historischen absieht, diese Essays im Jahre 2018 noch lesen? Aus zwei einfachen Gründen: zum einen, weil die Texte eine wichtige Lehrstunde in Diversität sind, im Aufbrechen von Oberflächen, in Vielschichtigkeit. Didions Sprache ist ein Prisma, das den schönen Schein – zusammengesetzt aus Hörensagen, vereinfachter Darstellung und schematischem Denken, Zeitungsgebrüll und bequemen Versatzstücken – bricht und auffächert, das Farbspektrum dekodiert.

Zum anderen, weil das heutige Amerika in vielerlei Hinsicht ein Produkt jener Zeit ist, die Didion beschreibt. Ihre Berichte aus Washington (das Buch ist in drei Teile unterteilt, die „Washington“, „Kalifornien“ und „New York“ heißen) über die Mentalität der Leute in Reagans Weißem Haus, die Inszenierung einer Reise von Bush sen. in den Nahen Osten und den Parteitag der Demokraten, auf dem Bill Clinton zum demokratischen Kandidaten gekürt wurde, gewähren einen guten Einblick in das gleichsam vital-glänzende und innen marodiert-chaotische, hyperbolische Räderwerk des US-amerikanischen Politik- und Gesellschaftsverständnisses und dessen Praxis.

Ihre Essays über Ereignisse und Themen aus Kalifornien (die am meisten Platz einnehmen), präsentieren sehr anschaulich die Westküstenmentalität und veranschaulichen überdies, fast nebenbei, die Diskrepanz zwischen den Staaten/Gebieten in den USA, auf zu weit voneinander entfernt Formen von Lebenswirklichkeit (die letztlich auf eine Vereinzelung der Staaten hinausläuft). Mit scharfer Feder legt sie offen, wie sehr die Vorstellungen der US-amerikanischen Gesellschaft von unbewusst mitgetragenen Legenden und Mythen, betonierten Mentalitäten und medialen Schablonen geprägt sind. Natürlich trifft letzteres auf viele nationale Gesellschaften zu, aber bei der US-amerikanischen im hohen Maß, was das Angesicht dieses Landes (und seiner Probleme) nach wie vor entscheidend prägt, ebenso die Haltung seiner (weißen) Bevölkerung.

Eine sentimentale oder falsche Legende über die disparate und oft zufällige Erfahrung zu stülpen, die das Leben einer Stadt oder eines Landes ausmacht, bedeutet notwendigerweise, dass vieles von dem, was in dieser Stadt oder in diesem Land geschieht, lediglich illustrierend wiedergegeben wird, als eine Reihe von Versatzstücken oder Gelegenheiten zur Selbstdarstellung.

Das wird noch einmal sehr deutlich im letzten Text „Sentimentale Reisen“, dem einzigen Text im Kapitel „New York“. Ausgehend von einem Überfall im Central Park, bei dem eine Joggerin vergewaltigt und fast totgeschlagen wurde, sowie dem anschließenden Prozess, entwirft sie Stück für Stück ein Panorama der New Yorker Wirklichkeit und zeigt die Stadt als misslungenen Schmelztiegel, in dem weder von Aufstiegschancen, noch von kultureller Durchdringung die Rede sein kann. Es ist eine Stadt mit klaren Hierarchien, deren (fast ausschließlich weiße) Bildungs- und Wirtschaftselite immer wieder das Lied von der widerständigen und einzigartigen Bevölkerung der Stadt anstimmt, damit aber eine bestimmte Gemeinschaft meint und bestimmte Viertel, die schon vor Jahren quasi aufgegeben wurden, gar nicht miteinbezieht.

Dieser letzte Text zeigt eine Gesellschaft, die hinter ihrem selbstdarstellerischen Pathos von immer größer werdenden gesellschaftlichen Gräben auseinandergerissen wird; die eine glorreiche Oberfläche pflegt, die schon nach wenigen Schritten zu knacken beginnt, wenn man darüber geht. Didion knackt diese Oberfläche, zerbricht sie, bis aus den einzelnen Splittern Spiegel werden. Darin und darunter kommen Mentalitäten und Realitäten zum Vorschein, die die Vorläufer von Trumps-Amerika und ein paar der Grundursachen für die Probleme der Vereinigten Staaten sind.

Trotzdem bleiben es natürlich 25-35 Jahre alte Texte. Sie bilden sehr viel ab, aber sie können dadurch ihr Alter nicht gänzlich verstecken. Sie sind lesenswert, als literarische Werke und historische Dokumente. Die Aktualität, die darin liegt, ist subtiler Natur.

Zu Toni Morrisons “Die Herkunft der anderen”


Die Herkunft der anderen besprochen auf fixpoetry.com