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Kritik der Begriffskraft in Klimadiskursen


Klima, Sprache, Moral

„Um von den Fakten zu konkreten Handlungszielen zu gelangen, bedarf es eines großen Schrittes. Über diesen Schritt wird verhältnismäßig wenig gesprochen – und zu diesem Schritt hat die Philosophie einiges zu sagen.“

Dass der Klimawandel zu den großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört, ist zwar nicht unbestritten, aber mehr als ausreichend beglaubigt. An diesem Faktum will auch Johannes Müller-Salo nicht rütteln, wenn er in seinem Buch „Klima, Sprache und Moral“ einige Fallstricke und Problematiken in den heutigen Klima-Diskursen aufzeigt.

Ihm geht es nicht darum, die Bewegungen für den Klimaschutz in Verruf zu bringen – aber er will deutlich machen, dass dieses Thema ein Schlachtfeld ist, auf dem es vor allem auf eine Waffe ankommt: die Sprache. Narrative und Begriffe vermögen es, Menschen zu überzeugen und zu motivieren. Fakten und Zahlen sind schön und gut und wichtig, aber ohne eine Erzählung, ohne die richtige Sprache, ziehen nicht genug Menschen mit.

Und so fühlt Müller-Salo der Sprache der Klimadiskurse, mit ihren Leitgedanken und zentralen Aussagen, auf den Zahn, analysiert Begriffe wie Klimanotstand, Zukunftsraub und Natur, auf sprachlicher und auf moralischer Ebene. Sein Fazit lautet, in vielerlei Hinsicht: so gut gemeint viele Schlagworte & Wendungen auch erscheinen, wie oft sie auch ins Feld geführt werden, wie sehr sie Dinge auf den Punkt zu bringen scheinen (als Beispiel: „Wir haben die Erde nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“), philosophisch gesehen sind sie alles andere als wasserdicht, voller sprachlicher und moralischer Untiefen, Fragwürdigkeiten.

Natürlich ist der Klimawandel nicht die erste Krise, bei der mehr mit Emotionen als mit Konkretionen, mehr mit großspurigen Ansagen als mit filigranen Überlegungen gearbeitet wird. Müller-Salo pocht auf die Philosophie, sieht sie (und beruft sich dabei auf Wittgenstein) „als Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Das kann sie ohne Zweifel sein und seine Darlegungen sind in dieser Hinsicht hilfreich, geben zu denken.

Die Frage ist, ob eine solche philosophische Kritik in irgendeiner Form Chance auf Gehör hat, in einer Welt, deren mediale Öffentlichkeit von schnelllebigen Sprüchen, liebgewonnenen Vorstellungen und komplexen Abhängigkeiten bestimmt wird. Oder vielleicht ist das nicht die Frage. Eher: Wie gelangt man von den Fakten, die unbestreitbar sind, zu Zielen, die überzeugen und gut umzusetzen sind? Hier hat die Philosophie einiges anzumerken, allerdings, in diesem Buch, mehr über das „so nicht“ als über das „so“.

Vom Verhältnis der Intelligenzen bei Mensch und Maschine


Ramge KI

„Auf den kommenden rund 100 Seiten versuche ich […] der Frage nachzugehen, warum es uns so schwerfällt, Entscheidungen zu treffen, und wie maschinelle Entscheidungsassistenz uns genau in einem solchen Fall dabei helfen könnte, unsere menschliche Entscheidungsintelligenz zu erhöhen.“

Maschinen wissen immer, was zu tun ist. Menschen nicht. Diese Feststellungen sind das Fundament für die Glaubensgrundsätze/Ausgangslagen in einer großen Anzahl von dystopischen Sci-Fi-Filmen und Büchern, in denen es um das Verhältnis von/den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, Berechnung und Intelligenz, Verstand und Gefühl geht.

Oft die zentrale Frage: können Maschinen (vor allem KIs) bessere Entscheidungen treffen als wir? Der Mensch ist Geist, aber auch Körper, mit Bedürfnissen, Trieben, Ängsten, Abhängigkeiten, etc., die allesamt unsere Entscheidungen in einem hohen Maß bedingen, vielleicht sogar mehr als unsere intellektuellen Kompetenzen. Im Prinzip ist eine KI die Vision eines Geistes ohne Körper; Verstand, der durch nichts mehr von seiner Kernkompetenz abgelenkt wird.

In all diesen Filmen und Büchern haben die KIs meist beeindruckende Fähigkeiten im Bereich der Berechnungen, aber auch der selbstbestimmten Entscheidungen erlangt. Fast immer kommt es dann zur Katastrophe, weil es ihnen trotzdem an sozialer Kompetenz mangelt. Hat soziale Kompetenz Auswirkung auf die Qualität von Entscheidungen?

„Wer eine Entscheidung trifft, macht sich angreifbar. Wenn alles klar ist, treffen wir keine Entscheidung, sondern setzen eine logische Schlussfolgerung um. […] Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Thomas Ramge Buch ist im Prinzip eine mit Beispielen unterfütterte Erläuterung des Entscheidungsverhaltens von Menschen und Maschinen, und wie dieses, kombiniert oder voneinander lernend, verbessert werden kann. Er machte im Verlauf des Textes aber auch ein paar interessante Definitionsunterschiede fest, z.B.: was Entscheidungen sind und wo der Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Entscheidungen liegt.

In Ersteren sind Maschinen, KIs und Algorithmen besser, denn dort geht es vor allem darum, auf einen bestimmten Feld, das klar definierten Funktionen und Parametern unterliegt, eine große Datenmenge zu überblicken, zu analysieren und statistische Wahrscheinlichkeiten daraus abzuleiten. Bei komplexen Entscheidungen wiederum, ist der Mensch (tendenziell) besser, weil es hier oft darum geht, auch außerhalb von bestimmten Parametern zu denken, die Dinge nicht nur unter einem Gesichtspunkt zu betrachten. Es braucht eben doch soziale Kompetenz um komplexe, das Menschliche betreffende Entscheidungen zu fällen. Oder wie Ramge es formuliert:

„Das Leben ist aber nicht kompliziert. Es ist kein Schachspiel. Das Leben ist komplex. Es ist ein Fußballspiel. […] Maschinen haben mit Exponentialfunktionen freilich keine Schwierigkeiten, nicht einmal Taschenrechner. Doch verfügen wir Menschen im Unterschied zu fast allen ausgefeilten KI-Anwendungen über die Fähigkeit, logische Systeme zu wechseln, wenn wir merken: Die Situation ist anders als erwartet. Dann ziehen wir aus unserem Erfahrungswissen Rückschlüsse auf bis dahin unbekannte Situationen.“

Ramge weist des Weiteren darauf hin, dass KIs und Algorithmen die Welt nicht nur durchschaubarer, sondern gleichsam undurchschaubarer gemacht haben:

„Unser Leben im Allgemeinen und wirtschaftliche Abläufe im Besonderen sind dank der Rechenkraft im Zeitalter der Daten im Wortsinn berechenbarer geworden. Und zugleich bewirkt die Digitalisierung das genaue Gegenteil. Sie macht die Welt viel unberechenbarer, weil sie die Rahmenbedingungen für ihre Berechnungen destabilisiert.“

Auch wenn Ramge einiges Interessantes aufmacht, wiederholt und verzettelt er sich hier und da und springt manchmal allzu schnell von Beispielen zu Erläuterungen zu Zusammenfassungen, etc. Er argumentiert trotzdem gut, warum KIs und Algorithmen mit ihrer Rechenkapazität, vor allem in geschlossenen und klar definierten Systemen, wertvolle Arbeit leisten können, die, kombiniert mit unserer eigenen natürlichen Intelligenz, eine effektive Steigerung von Prozessen herbeiführen kann. Auf absehbare Zeit aber, wird keine Maschine uns das Denken abnehmen oder uns darin überflügeln können. Immer wieder, so Ramge:

„sehen [wir] uns zurückgeworfen auf die Kernkompetenz menschliche Intelligenz: herauszufinden, was zu tun ist, wenn wir nicht wissen, was zu tun ist.“

Zu “Ich erwarte die Ankunft des Teufels” von Mary MacLane


Ich erwarte die Ankunft „Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.“

Auch der Titel eines Spielfilms aus dem Jahr 2019 wäre wohl ein brauchbarer Titel für dieses wiederentdeckte Werk von Mary MacLane aus dem Jahr 1902 (übersetzt und mit einem Nachtwort von Ann Cotten + einem Essay von Juliane Liebert) gewesen: „Portrait einer jungen Frau in Flammen“.

Denn nicht mehr und nicht weniger ist dieses Buch: eine flammende und knisternde, sich selbst in Ansätzen verzehrende und auf alle Bestandteile der Welt übergreifende Selbstverortung einer jungen 19jährigen, die sich zu größerem als dem vor ihr, in Landschaft und Gesellschaft, ausgebreiteten Dasein berufen fühlt und schier platzt vor Bedürfnissen und dem Wunsch nach Erfahrungen, die es mit der Spannung, den Bewegungen in ihrem Geist aufnehmen können.

„In mir trage ich den Keim eines intensiven Lebens. Wenn ich leben könnte, und wenn es mir gelingen könnte, mein Leben aufzuschreiben, würde die Welt seine schwere Intensität spüren.
Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. […]
Kann ich sein, was ich bin – kann ich ein seltsames, seltenes Genie besitzen und doch mein Leben verborgen in diesem ungehobelten, verzerrten Städtchen in Montana fristen?“

In Tagebuchform breitet Mary MacLane vor uns ihr Leben aus. Wobei, es ist weniger ihr Leben, es sind vielmehr ihre Vorstellungen, die in ihrer überbordenden Art nur dann und wann auf den schmalen Raum zurückweisen, der ihr im ländlichen Montana im Jahr 1901 zum Leben gegeben ist und den sie mit allen Zügen ihrer Philosophie und ihrer Gedanken und Hoffnungen zu verlassen sucht.

Fast phänomenologisch muten ihre teilweise ins Gewaltige gehenden, dann wieder manisch an einem kleinen Gegenstand oder Gedanken hängenden Eintragungen an, manchmal erscheinen sie eher wie Gesänge, ja, wie ein Anti-Walt-Whitman-Gesang, ein Gesang von einem Ich, das sich nicht auflöst und niederschlägt in den amerikanischen Städten und Landschaften, sondern diese mit seinem Geist, seinem Wesen übertrumpfen, überflügeln will.

„Sie dürfen das Bild vorne in diesem Buch betrachten und bewundern. Es ist das Bild eines Genies – eines Genies mit einem guten, starken, jungen Frauenkörper, – und im Inneren des abgebildeten Körpers befindet sich eine Leber, eine MacLane-Leber, von bewundernswürdiger Perfektion.“

In mancherlei Zügen habe ich mich an Emmy Hennings „Brandmal“ oder auch, sehr viel entfernter, an manche Passagen bei Djuna Barnes erinnert gefühlt. Wobei der Vergleich mit Hennings noch am ehesten greift, da in beiden Büchern das Ausleben der Selbstbeschreibung/-erschließung, der Versuch, das eigene Innenleben als das Leben, das Lebendige schlechthin abzubilden und zu propagieren, bis zur Erschöpfung betrieben wird.

In MacLanes Tagebuch noch erschöpfender als bei Hennings. Die ausufernden und gleichsam immer wieder um fixe Ideen kreisende Wucht des Textes trägt dabei durchaus repetitive, beschwörende Züge, als würde die Autorin ein einziges langes Plädoyer zur Verteidigung ihrer Gefühle und Ansprüche halten und dabei eine eigene, ciceronische Rhetorik entwickeln. Auch manche Motive sind in diese Wiederholungen eingespannt: ihre Leber bspw., die sie immer mal wieder erwähnt und der Teufel, den sie als eine Art besseren Schöpfer inszeniert und dem sie sich, teils spielerisch, teils ernsthaft, andient; auf dessen „Ankunft“ sie wartet, da mit ihm, so hofft sie, eine neue Freiheit in ihr Leben Einzug hält.

„Die Welt besteht hauptsächlich aus nichts. Davon kannst du dich überzeugen, wenn ein bitterer Wind deine falschen Vorstellungen davongefegt hat.“

Es gibt großartige Passagen, zum Beispiel einen Abschnitt, in dem sie in vollster Zufriedenheit von ihrem Essen, einem Steak und ein paar Zwiebeln, erzählt und in denen auch eine kompromisslose Komik durchscheint. Letztlich steht im Zentrum dieser zweihundert Seiten, inmitten dieses geballten Manifests von der Notwendigkeit einer Perspektive, einer Aussicht auf etwas, jedoch die Verzweiflung. Wo MacLanes Schreiben ein Feuer ist, rauchen Verzweiflung und Einsamkeit daraus hervor – und sind gleichsam das Brennmaterial, an dem sich das Feuer entzündet.

Ist das Buch als Dokument oder auch als Literatur wertvoll, diese Frage könnte sich für manche Leser*innen stellen, die mit einer zweihundertseitigen Rekapitulation der eigenen Bestimmung im Jahr 1901 nicht viel anfangen können. Ich glaube, man muss tatsächlich die poetischen (und teilweise die humoristischen) Aspekte des Buches schätzen (lernen), um wirklich Genuss bei der Lektüre zu empfinden.

Aber natürlich ist das Werk auch ein Dokument und muss auch als solches gesehen werden – als Portrait eines Individuums, geboren in die Zwänge einer Zeit und einer Gesellschaft, mit ihren Idealen und Vorstellungen, das versucht, seinen Status als Individuum auf irgendeinem Weg Geltung zu verschaffen, hier vor allem durch die Niederschrift, durch die Gestaltung des eigenen Mythos. Ein Thema, das auch in unserer Zeit nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hat, sondern, im Gegenteil, wohl eine Art ewiges Narrative darstellt, wenn man sich die „Weltliteratur“ anschaut.

Teilweise wirkt das Buch naiv in seiner Unbedingtheit, aber gerade diese „Naivität“ hat auch etwas Erfrischendes, Unumgängliches.

„Wenn ich vierzig bin, werde ich mich auf mich selbst zurückblicken und auf meine Gefühle mit neunzehn – und ich werde lächeln.
Werde ich wirklich lächeln?“

Zu “100 Seiten – Emanzipation” von Katrin Rönicke


Emanzipation „Ja, das Ende des Mittelalters, die Reformation, der Beginn des Kapitalismus und die Demokratie haben viele äußere Zwänge abgeschafft – aber bei genauerem Hinsehen bringen sowohl die Neuzeit als auch der Kapitalismus und die Demokratie neue Formen von Ungleichheit und Diskriminierung mit sich“

Die Emanzipation rückt das menschliche Individuum und seine individuellen Bedürfnisse in den Mittelpunkt und wendet sich gegen die Hoheit und das Diktum einer bestimmten Klasse, Ethnie, eines bestimmten Geschlechtes oder einer bestimmten Weltanschauung.

Emanzipation bedeutet wörtlich die „Entlassung aus der väterlichen Gewalt“, wobei man wohl eher von der „Befreiung aus“ sprechen müsste, denn selten wurden Menschen aus dieser väterlichen Gewalt freiwillig „entlassen“. Egal ob es um Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Anhänger*innen von Religionen oder anderen Gruppen von unterdrückten, stigmatisierten und diskriminierten Menschen ging – fast immer war Emanzipation ein Akt, der von ihnen ausging und nicht von einer herrschenden Macht ermöglicht wurde.

Und als eine solche Bewegung, ein solcher Zug zum Ungehorsam und zur Befreiung, wird Emanzipation auch nie aus der Mode kommen; jede Emanzipation, die von herrschenden Kräften vorangetrieben wird, sollte dagegen genauestens darauf abgeklopft werden, ob sie überhaupt emanzipatorisch ist oder nur als Freiheit verkauft werden soll, aber eigentlich im gewissen Sinne versklavt, Unfreiheit und Ungleichheit fördert.

„Menschen ringen nicht nur um die Emanzipation und den Fortschritt, sondern auch um Macht und Privilegien. Das eine kann dem anderen im Weg stehen.“

Katrin Rönicke hat in der 100 Seiten Reihe von Reclam eine wirklich fabelhaft vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema gewagt, zusammengesetzt aus einer Einführung, der anschließenden Konzentration auf verschiedene Schwerpunkte menschlicher Emanzipation in den letzten fünfhundert, vor allem aber den letzten hundert Jahren und außerdem Interviews (das erste mit Matthias von Hellfeld und das zweite mit Sineb El Masrar), biographischen Abrissen, Begriffserläuterungen.

Das Buch zeigt und begreift Emanzipation als Prozess und nicht als einmalige Tat. Es erzählt des Weiteren nicht einfach nur ein Märchen über Fortschritt, Liebe zur Freiheit und großen Errungenschaften, sondern zeigt die Schwierigkeiten in den Emanzipationsprozessen, in der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft. Zur Wahrheit gehört zum Beispiel auch, dass über lange Zeit Emanzipationsbewegungen nicht allen Menschen zugutekamen, meist nur den Männern, oft nur weißen Menschen; immer blieb irgendwer von neu erworbenen Privilegien aufgeschlossen. Eben deshalb sind die meisten Emanzipationsprozesse, die in dem Buch genauer in Augenschein genommen werden, noch längst nicht abgeschlossen.

Rönicke legt in ihrem Text Schicht für Schicht das Thema frei, beginnend bei der Historie, über die Befreiungskämpfe von Schwarzen und Frauen, endend bei der Digitalisierung; am Ende hat man eine umfassenden Eindruck davon, wo Emanzipation überall stattfindet – und stattfinden sollte. Zwischendurch geht sie auch sehr gut auf den Backlash-Effekt ein, also restaurative und regressive Prozesse (wie wir sie auch gerade in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft erleben).

Überhaupt beschreibt sie vieles überraschend einfühlsam (aber nicht gefühlig), was eine zusätzliche Stärke des Buches ist: einem wird das Thema nicht einfach hingeblättert, sondern nahegebracht.

Fazit: ein solches Thema kann nicht auf 100 Seiten ausgeschöpft werden, aber trotzdem deckt das Buch sehr viel ab, vor allem sehr viel Reflexives; und da hinten sogar einen Liste mit Lektüretipps enthalten ist (die ich ergänzen will um die Bücher von Margarete Stokowski, Ta-Nehisi Coates, Rebecca Solnit und Jessica Crispin), kann man das Buch auch als Ausgangpunkt sehen, als Anstoß. Viel ist schon passiert, aber vieles ist noch zu tun, im Großen, aber auch im Kleinen, wie Rönicke richtig anmerkt:

„wir brauchen noch immer viel Mut, wenn wir das Studium schmeißen, den Vater unserer Kinder verlassen, den Twitteraccount löschen oder den Job an den Nagel hängen wollen.“

 

Zu “Trumps Amerika” von Martin Klingst


Trumps Amerika„Dieses Buch widmet sich Trumps Wählern. Sie vor allem kommen zu Wort, mal in einer Reportage, mal in Form einer Gesprächsaufzeichnung. Trumps Wähler erzählen, was sie beschäftigt und auf die Barrikaden treibt, wie sie leben, was ihnen Sorgen macht und insbesondere, was sie am 8. November 2016 dazu bewogen hat, ihr Kreuz bei Donald Trump zu machen.“

Martin Klingst kennt die Vereinigten Staaten sehr gut. Nicht nur war er jahrelang Korrespondent der ZEIT in Washington, er verbrachte auch mit 16 Jahren einen Schüleraustausch in Colorado, kennt viele Leute in anderen Staaten des „Mittleren Westens“.

Hier, in diesen Gebieten der USA, verortet er auch den Grund für den Sieg Donald Trumps; genauer in der weißen Mittelschicht und Arbeiter*innenklasse, deren Lebensstil in den letzten Jahren nicht nur durch finanzielle Schwierigkeiten tangiert wurde, sondern die sich generell „fremd in ihrem Land fühlen“, wie Arlie Russell Hochschild es in ihrem ebenfalls lesenswerten Buch zusammengefasst hat. Oft sind es Verlierer*innen der Globalisierung, sie finden sich nicht mit dem Abbau traditioneller Werte zurecht, mit dem Fokus auf die Städte und Themen wie Umweltschutz, Gender und dergleichen und fühlen sich von der Politik der letzten Jahre mehrheitlich im Stich gelassen; auch stellen sie längst kaum mehr die Mehrheit der Wähler*innen.

Klingst lässt in seinem Buch viele von Ihnen selbst zu Wort kommen (schön ist, dass er dabei fast ebenso viele Frauen wie Männer auswählt). Er korrigiert, in Fußnoten, nur ihre gröbsten sachlichen Schnitzer oder erläutert die komplexeren Hintergründe, lässt ihre Positionen aber ansonsten unangetastet. Und in den meisten Fällen sind diese Positionen sogar erstaunlich unproblematisch. Denn abgesehen von einem Vorzeigerassisten zeigt dieses Buch keine Personen mit überaus extremen Ansichten, sondern Menschen mit schlichten, sich nur in manchen Ecken zuspitzenden Überzeugungen und dem Wunsch nach einer Welt, in der sie mit diesen Überzeugungen und ihrem eigenen Ethos existieren können.

„Auch das möchte ich in diesem Buch zeigen. Sie haben mich mit offenen Armen empfangen, mich stolz herumgeführt, fürstlich bewirtet und mir ihr Herz ausgeschüttet. Es gibt keinen Grund auf sie herabzusehen.“

Den gibt es in der Tat nicht. Natürlich fehlt vielen dieser Menschen (aber da sind sie nicht allein, wer hat den schon wirklich) der Überblick über das große Ganzen; man kann dem einen oder der anderen von ihnen eine begrenzte Perspektive vorwerfen und ihre Weltsicht ist durchaus durchzogen von Unverhältnismäßigkeiten. Aber viele ihrer Ansichten und Positionen wirken vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensumstände nicht gänzlich unberechtigt.

Erstaunlich ist in jedem Fall, wie unterschiedlich die Leute sind, die Trump gewählt haben, vom Harvard-Juristen bis zum Kohlebergbauarbeiter. Fast alle sind mit bestimmten Aspekten von Trumps Person und Politik nicht einverstanden, aber sie alle haben Punkte gefunden, in denen er ihnen, für ihre persönliche Lebenswelt, als einzig mögliche Wahl erschien. Und viele von ihnen sind zufrieden mit den ersten beiden Jahren seiner Politik – in ihrer Welt geht es tatsächlich oft ein wenig aufwärts. Natürlich müssen sie nicht die Kosten dieses Aufschwungs zu spüren bekommen.

Dieses Buch ist fast unverzichtbar, wenn man einen Einblick in das Seelenleben von Trumps gemäßigteren Wähler*innen bekommen will. Es sind Menschen, die sich auf Kennedy berufen (frage nicht, was dein Land für dich, frage dich, was du für dein Land tun kannst), die sich oft für die Inklusion, für gerechte Arbeitsverhältnisse und viele andere gute Dinge einsetzen – natürlich haben sie auch Angst um ihre Privilegien, gehen falschen Vorstellungen auf den Leim. Aber ihre Triebfeder ist selten der Hass oder eine stupide Ideologie, sondern meist der begreifliche Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.

Natürlich kann ein so schmales Buch nicht alles abdecken, aber ich glaube es hilft, die Gräben nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen und Vorurteile abzubauen (und dennoch Urteile sprechen zu können). Es hilft zu verstehen, wie leicht Trump als die richtige Wahl erscheinen kann. Für uns ist er einfach ein Vollidiot oder ein Monster. Für viele Amerikaner*innen ist er schlicht ein Mann mit gewaltigem Ego, unflätiger Sprache, der sich aber doch in Teilen für ihre Belange einsetzt.

Am Ende landet man wieder bei der Lüge des amerikanischen Traums. Solange ein Teil der USA sich weiterhin in diesem Traum wiegt, bleibt es eine gespaltene Nation, eine Nation in der Menschen wie Trump zum Präsidenten gewählt werden.

„Die Reise in ein weißes Land hat, so hoffe ich, ein kleines Fenster öffnen können in Trumps Amerika, in diese nahe und doch so ferne Welt. Denn auch wenn Donald Trump schon morgen Geschichte sein sollte, werden seine Wähler und deren Gedankenwelt bleiben.“

Zu den Schriften von Olympe de Gouges in “Die Rechte der Frau und andere Texte”


Die Rechte der Frau Olympe de Gouges (mit bürgerlichem Namen Marie Gouze) war eine Theaterautorin der Aufklärung und Feministin der ersten Stunde, die sich in den bewegten Zeiten vor und während der französischen Revolution für die Gleichheit aller Menschen (sowohl in Bezug auf Frauen als auch auf afroamerikanische Sklaven) einsetzte.

In dieser kleinen Edition ihrer Texte im Reclam Verlag wurden vier Texte versammelt. Den Anfang machen die „Réflexions sur les hommes Nègres“. Darin setzt sich de Gouges mit der Kritik an ihrem Theaterstück „Zamore et Miza“ (ein Stück über die Konsequenzen der Sklaverei am Beispiel zweier Sklaven) auseinander, begründet ihre Aversionen gegenüber der Sklaverei und verleiht ihrer Überzeugung Ausdruck, dass eine Befreiung und Gleichberechtigung der Sklaven*innen die einzig vernünftige und richtige Handlung darstellt.

Sie beschreibt, wie sie schon früh an der Sklaverei zu zweifeln begann und wie ihr die Verdammung aufgrund der Hautfarbe stets unsinnig erschien; ihre Mitmenschen beantworteten ihre Zweifel mit pauschaler Rassenlogik.

Doch als ich älter wurde, erkannte ich sehr deutlich, dass es Gewalt und Vorurteil waren, die sie zu dieser schrecklichen Sklaverei verdammt hatten, dass die Natur hieran keinen Anteil hatte, und alles nur auf das ungerechte und mächtige Interesse der Weißen zurückzuführen war. […] Ein Handel mit Menschen! … Gütiger Gott! Dass die Natur nicht erzittert! Wenn sie Tiere sind, sind wir es nicht ebenso wie sie?

Der zweite Text „Ein nützliches und heilsames Projekt“ beschäftigt sich mit dem Theater in der Revolutionszeit und ist außerdem ein Aufruf zur Einrichtung von Frauenhäusern. De Gouges beklagt, dass, obgleich es zahlreiche Einrichtungen für Kriegsversehrte und andere Gruppen gibt, keine Einrichtungen allein für Frauen, vor allem für Schwangere, zur Verfügung stehen, in denen Sauberkeit und professionelle Betreuung eine Geburt ermöglichen, die für die Frau nicht das hohe Risiko des Kindbetttods bereithält. Es ist, über diesen konkreten Vorschlag hinaus, generell ein Aufruf zur Würdigung des gesellschaftlichen Beitrags der Frau und zur Beschäftigung mit ihrer Lage.

Oh, Bürger! Oh, Monarch! Oh, meine Nation! Möge meine schwache Stimme im Grunde eurer Herzen wiederhallen! Möge sie euch dazu bewegen, das bedauerliche Schicksal der Frauen anzuerkennen. […] Welche zahllosen Schmerzen erleiden die jungen Damen, bis sie heiratsfähig sind? Welche furchtbaren Qualen empfinden die Frauen, wenn sie Mütter werden? Und wie viele von ihnen verlieren dabei ihr Leben […] oft sieht man junge Frauen, die, nachdem sie Tag und Nacht unter heftigen Schmerzen gelitten haben, in den Armen ihrer Geburtshelfer verscheiden, um im Sterben Männern das Leben zu schenken, von denen sich bis zu diesem Augenblick niemand ernsthaft darum bemüht hat, auch nur das geringste Interesse an diesem allzu unglücklichen Geschlecht zu bekunden, für all die Qualen, die sie ihm verursacht haben.

Der zentrale und längste Text der Sammlung ist die Schrift „Die Rechte der Frau“, der ein Brief an Marie Antoinette vorangestellt ist (mit der Bitte, nicht gegen das französische Volk zu konspirieren und sich lieber für die Rechte der Frauen einzusetzen) und die sowohl einen Rechtekatalog, als auch den Entwurf eines Gesellschaftsvertrages zwischen Mann und Frau beinhaltet.

In den Rechten heißt im Artikel 1:

Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

Abschließender Text ist de Gouges politisches Testament, in dem sie ihre wichtigsten Überzeugungen noch einmal festhält, geschrieben im Juli 1793, wenige Monate vor ihrem Tod durch die Guillotine.

Es fehlt mir schwer, das Buch zu bewerten. Natürlich ist es ungemein wichtig, eine Vorläuferin und Initiatorin wie Olympe de Gouges zu ehren und ihrem Namen und ihren Schriften den Platz in der Geschichte zu geben, der ihnen gebührt. Und sieht man sie in ihrer Zeit, sind diese Schriften allesamt auf gewisse Weise bahnbrechend.

Trotzdem möchte ich eine Warnung an jene Leute aussprechen, die sich von diesen Texten möglicherweise zu viel erhoffen. Es sind wichtige Dokumente, die starke Gedanken enthalten, sie sind aber ansonsten nicht ganz so gut gealtert. Das mag allerdings auch daran liegen, dass sie innerhalb von historisch-brisanten Kontexten entstanden sind und sowohl das Zeitgeschehen, als auch allgemeine Themen in einem Zusammenhang verhandeln wollten. Diese Verbindung hat ja durchaus etwas Reizvolles, aber die Leser*innen unserer Tage müssen sich das Allgemeine halt aus dem Historischen herauspicken.

Das Nachwort von Margarete Stokowski ist hier eine Hilfe, denn es bringt das Wesentliche und Wichtige in De Gouges Biographie und Werken auf den Punkt, ohne falschen Flair. Als Denkerin sollte De Gouges in jedem Fall allen ein Begriff sein und es schadet sicher nicht, sich mit ihr und ihren Schriften auseinanderzusetzen. Einige ihrer Rufe hallen nach bis in unsere Tage.

Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; du wirst ihr wenigstens dieses Recht nicht nehmen. Sag mir, wer hat dir die souveräne Herrschaft verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?

Zu “Das Buch der klassischen Haiku”


Das Buch der klassischen Haiku „Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“

So heißt es bei Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik allgemein, aber das Haiku im Besonderen, hat sich dieser Kostbarkeit des Augenblicks verschrieben, des unverfänglichen Eindrucks, der aus Millionen sich ausdrückenden Lebendigkeiten eine Facette ausgewählt, einfängt.

„Den roten Nelken
Scheint auf die Stengelknoten
Die Abendsonne“
(Seibi)

Die hier vorliegende Sammlung wurde zusammengestellt und übersetzt von dem im Jahr 2000 verstorbenen Jan Ulenbrook. Vom ihm stammt auch das erfreulich ausführliche Nachwort, in welchem er auch freimütig die Vor- und Nachteile seiner Übersetzungsmethoden anführt und viele Aspekte von Auswahl und der Idee des Haiku erläutert.

Die Sammlung ist unterteilt in fünf Kapitel: eines zum Neujahr und jeweils eines zu einer der vier Jahreszeiten. Innerhalb der Kapitel finden sich wiederum – nicht extra separierte, sondern lediglich durch das Aufeinanderfolgen gruppierte – Sammlungen zu Themen und Motiven der jeweiligen Jahreszeit.

„Vom grauen Himmel
Fällt Schnee auf Schnee herab:
Ein Schmuck den Häusern!“
(Kigô)

Die Haikus sind, wie es der Titel schon ausdrückt, klassisch und auch möglichst formgetreu übersetzt (Silbenanzahl, Wortstellung). Das kann man bemängeln, auch mit guten Argumenten. Aber letztlich muss man bei Gedichtübersetzungen immer Abstriche machen. Manche von Ulenbrooks Übertragungen wirken etwas hölzern, aber die meisten seiner Haikus sind immer noch schöne, gelungene Verdichtungen.

Obgleich es hauptsächlich klassische Haikus sind, stammen auch einige von Dichter*innen, die im 20. Jahrhundert lebten. Im Anhang kann man zu allen Verfasser*innen zumindest die Lebensdaten nachschlagen, Kurzbiographien von einem Satz sind nur wenigen vorbehalten.

„Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.“
(Issa)

Man wird schwerlich eine umfangreichere Sammlung finden: über tausend Haikus hat Ulenbrook zusammengetragen. Das heißt natürlich auch, dass man sich seine Lieblinge erst herauspicken muss. Wenn man sich damit zeitlassen will, was zu empfehlen ist, begleitet einen das Buch vermutlich eine ganze Weile. Es ist auch möglich, erst in der jeweiligen Jahreszeit zu dem Band zu greifen.

So oder so: ein Bändchen, das in keiner Büchersammlung fehlen sollte.

„Der Frühlingswind, horch,
Läuft durch die Weizenfelder
Wie Wasserrauschen.“
(Mokudô)

Zu “Weimarer Verhältnisse?”, einer Anthologie aus dem Reclam Verlag


Weimarer Verhältnisse „Die Rückkehr des Nationalismus und die Erfolge des Rechtspopulismus haben eine neue Debatte über die Grundlagen und Gefährdung der Demokratie in Gang gesetzt. Auch die etablierten Demokratien des Westens machen die Erfahrung, dass der politische Grundkonsens, auf dem sie ruhen, nicht mehr so selbstverständlich ist, wie noch bis vor kurzem angenommen.“

In der Bundesrepublik Deutschland hat der im Vorwort beschriebene »Rechtsruck« zu Debatten geführt, in denen immer wieder von „Weimarer Verhältnissen“ die Rede ist. Im Gegensatz zum Geschwafel von „spätrömischer Dekadenz“ wirkt dieser Rückgriff auf das Beispiel der ersten bundesdeutschen Demokratie seriös: Das Schicksal der Weimarer Republik war ein wichtiger Fehlerkatalog für die Ausarbeitung von Verfassung und Grundgesetzes der Bonner Bundesrepublik und bleibt ein Menetekel deutscher Geschichte.

Dennoch droht einem Vergleich der gegenwärtigen politischen Lage mit Weimar dasselbe, wie einem Vergleich von derzeitigen politischen Akteuren mit der Person von Joseph Goebbels: diese Vergleiche drohen zu hinken. Was können wir also wirklich bis heute aus Weimar lernen und was an diesem Rückgriff muss, bei näherer Betrachtung, zum bloßen Schreckgespenst verkommen?

Sieben Autorinnen und Autoren (namentlich Ute Daniel, Jürgen W. Falter, Hélène Miard-Delacroix, Horst Möller, Herfried Münkler, Werner Plumpe, Andreas Wirsching) gehen dieser Frage anhand von verschiedenen Facetten nach, bei deren ein Vergleich zwischen Weimar und der derzeitigen politischen Lage ansetzen könnte.

Die verschiedenen Gesichtspunkte sind durchaus interessant, wobei die beiden stärksten Texte vom Mitherausgeber Andreas Wirsching stammen, der auch neben Jürgen W. Falter am meisten Position zur Gegenwart bezieht. So liefert er bspw. eine gelungene Definition von Populismus:

„Populisten lehnen die politisch-soziale und kulturelle Vielgestaltigkeit demokratischer Gesellschaften ab. Sie behaupten hinter dem verfassungsmäßig zustande gekommenen politischen Willen gebe es ein anderes, ein »wahres«, »eigentliches« und in sich einiges Volk, das sie zu repräsentieren vorgeben. […] Sie lehnen es ab, die komplexe Realität zum Ausgangspunkt der Politik zu machen. Stattdessen zwängen sie die Konflikte moderner Gesellschaften in die Kategorien eines pseudomoralischen Rigorismus ein, der, konsequent zu Ende gedacht, nur Schuldige und Opfer kennt.“

Nach Wirschings Eingangstext beschreibt Werner Plumpe die wirtschaftlichen und Horst Möller die systempolitischen Probleme der Weimarer Republik. Ihr Resümee, obgleich vorsichtig mahnend, ist im Prinzip das Resümee der gesamten Anthologie: Ja, Weimar hat uns noch etwas zu sagen, aber ein Vergleich zwischen den Weimarer Verhältnissen und unsere politischen Lage hinkt nicht nur, er greift schlichtweg an einigen Stellen ins Leere, so sehr er auch mancherorts zu haften scheint.

Schon eher vergleichen kann man AfD und NSDAP, was Jürgen W. Falter anhand von deren Wählerschaft und Ideologie tut. Wohlgemerkt: es geht ums Vergleichen, nicht ums Gleichsetzen. Das Ergebnis ist in Sachen Wählergruppen doch sehr ähnlich, in der Ideologie aber stellenweise abweichend; und die verschiedenen Zeiten, in denen diese Parteien existierten, sowie die Erinnerungskultur der BRD, tun ihr Übriges. Die AfD muss natürlich auch keine NSDAP werden, um potenziell gefährliche oder potenziell antidemokratische Ausmaße anzunehmen. (Antidemokratisch waren beispielsweise auch die KPD der Weimarer Republik und andere Splitterparteien.)

Ute Daniel beschreibt in ihrem Text die Weimarer Presselandschaft und deren Dynamik, Herfried Münkler beleuchtet die euro- und geopolitischen Bedingungen, die sich in der Zwischenkriegszeit um die erste deutsche Demokratie herum entwickelten. Hélène Miard-Delacroix überfliegt dann noch einmal die deutsche Mentalität.

Ist das Büchlein lesenswert? Ja, aber nur zum Teil aus aktuellem Anlass. Manches darin taugt eben nur als Geschichtsstunde (die nie schaden kann), als politische Bildung, aber nicht als tagesaktuelle, politische Bildung. Denn letztlich: Mit Globalisierung, Umweltkrise, Digitalisierung, etc. steht unsere Zeit vor Problemen, die mit denen der Weimarer Zeit nicht vergleichbar sind – und umgekehrt! (Allenfalls die Entwertung der Arbeit ist vielleicht ein Überschneidungspunkt)

Wozu Weimars Beispiel weiter anhalten sollte sind allgemeine Wachsamkeit und die Bereitschaft im Ernstfall gemeinsam gegen extreme Positionen einzutreten. Auch wenn in Deutschland ein »Rechtsruck« spürbar ist, sind die Auswüchse derzeit weniger destabilisierend für das politische Gefüge als in vielen anderen europäischen Nationen – eben auch weil Weimar und seine Folgen bekannt sind. Es muss nun darum gehen, die Konflikte zu lösen und die Themen anzugehen, mit denen die Populisten derzeit noch ihren Wählerfang betreiben. Die Bühne, auf der das geschieht, bietet sich heute besser dar, als einst in Weimar.

„Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine langetablierte Tradition. Sie definiert sich nicht über machtstaatliche Ansprüche, weder nach innen noch nach außen, sondern ist geprägt von der verheerenden Erfahrung von Diktatur, Krieg und Verbrechen.“

Zu Michael Zeuskes Werk über “Sklaverei” als Phänomen und Fakt


Sklaverei „Sklaverei bedeutet Gewalt von Menschen über den Körper anderer Menschen, es bedeutet in den allermeisten Fällen körperlichen Zwang zu schwersten und schmutzigsten Arbeiten oder zu Dienstleistungen sowie Mobilitätsbeschränkung. Dazu kommen alle Formen und Folgen von Statusdegradierung“

Begegnet man dem Wort Sklaverei, fallen den meisten Menschen wohl zunächst zwei Standorte der Geschichte ein: die klassischen antiken Staaten (Ägypten, Griechenland, Rom) und der europäische Kolonial- und Imperialismus. Natürlich hatten auch die Inkas und Azteken, die Mongolen, die Araber und die Perser Sklaven. Aber wenn man von historisch von Sklaverei redet, wird zumeist davon ausgegangen, dass die Verschleppung und Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung (vor allem in den USA und den Inseln der Karibik) gemeint ist – oder eben ein Aspekt des antiken römisch-griechischen Staats- und Ständewesens.

Dieser historische Fokus könnte leicht darüber hinwegtäuschen, dass Sklaverei kein begrenztes und an bestimmte historische Perioden und System geknüpftes, sondern ein allgemeines Phänomen ist. Allein wenn man sich Zeuskes Ansatz einer Definition (siehe Zitat oben) ansieht, fallen einem hoffentlich zahlreiche Beispiele ein, die zumeist nicht mit dem Begriff Sklaverei zusammengebracht werden: Zwangsheirat, Marginalisierung & Stigmatisierung. Das alles sind (bspw.) Wege in und Formen von Sklaverei.

Der große Verdienst dieses Buches, das manchmal etwas umständlich formuliert ist (wobei das natürlich Gründe hat, die mit Seriosität und Umsicht zu tun haben – ich will Herrn Zeuske keinen schlechten Stil unterstellen), ist dann auch die Tatsache, dass es Sklaverei als allgegenwärtiges Phänomen, historisch und aktuell, begreift und darstellt.

Dabei wirft es einen Blick weit zurück, in die Anfänge der menschlichen Sozialsysteme noch vor dem Auftreten erster großer »Zivilisationen« und ebenso Blicke in die Realitäten vieler unterschiedlichster Ausprägungen von Sklaverei und Versklavung, bekanntere und unbekanntere. Zeuske arbeitet viel mit Zahlen, seine Stärke sind aber vor allem die umfassend-knappe, präzise Darstellung von Entwicklungen und die Vielfalt seiner Beispiele.

Kurzum: ein wichtiges Buch, das letztlich brandaktuell ist. Noch immer ist Sklaverei ein großes Thema; es hat nie aufgehört eines zu sein. Europas Reichtum der letzten Jahrzehnte stützt sich auf Arbeits- und Lohnumstände in vielen anderen Erdteilen, die nur durch spitzfinge Definitionsheuchelei von dem Wort Sklaverei getrennt sind. Und selbst in Europa wird Arbeit derzeit stark entwertet. Wo beginnt Sklaverei – nicht schon dort, wo man keine Wahl hat, obgleich man nicht direkt in Ketten liegt? Wo man niederste Tätigkeiten ausführen muss, weil es keine anderen Perspektiven gibt oder wo einem alle anderen Perspektiven verstellt werden?

„Sklaverei ist nur scheinbar tot. Bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass die großen und klar erkennbaren Sklavereien sich zu illegalen, meist kleinen und getarnten Sklavereien gewandelt haben. In diesem Wechsel des Aggregatszustandes der Sklaverei von groß und fest zu eher flüssig und klein sowie oft opportunistisch liegt der Bruch, den ihre formalen Abschaffungen im »Westen« oder auf seinen Druck hin 1792-1970 weltweit langfristig bewirkt haben.“

Zu der Anthologie “Querulantinnen” mit siebenundzwanzig weiblichen Kabarettistinnen im Reclam Verlag


Querulantinnen „Wenn das Scheitern nicht wär,
wo wären wir da –
Du würdest mich nicht fragen müssen
wo ich gestern war, weil –
Ich wär dir überhaupt niemals
begegnet mon cher.

Wenn das Scheitern nicht wär,
wo wären wir da –
und wär ich jetzt gescheiter
oder nicht, oder blabla
Und wo nähme ich denn
meine ganze Kraft her,
wenn das Scheitern nicht wär.“

So singt die wunderbare Uta Köbernick. Es ist eigentlich schon ein Versäumnis, dass dieser ambitionierten Anthologie mit von Frauen gemachtem Kabarett, mit weiblicher Poesie und Liedkunst, keine CD oder sogar DVD beigelegt wurde. Denn so stark viele Texte sind, gerade die Poetry-Slam- und Liedtext leben nun mal von der Lakonie/dem Drive/den Nuancen des Vortrags und erscheinen auf dem Papier in manchen Momenten etwas eindimensional.

Aber auch ohne audiovisuelle Aufbereitung kann man sich an den Texten der 27 Kabarettistinnen und Poetinnen dieser Anthologie größtenteils erfreuen, sich von ihnen erheitern und vor den Kopf stoßen lassen, sich mit ihnen und gegen sie empören.

Ein häufig auftauchendes, allzeit präsentes Thema ist natürlich die Frage nach dem feministischen Aspekt von weiblichem Kabarett: sollte man Klischeethemen bewusst vermeiden oder gerade diese Themen angehen? Muss sich weibliches Kabarett irgendwie besonders positionieren oder sollte es sich gerade gegen dieses mögliche Stigmata wehren. Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Daniela Mayer:

„Denn heute gilt mehr denn je: die Erwartungen vor allem an Frauen sind auch in der Kleinkunst besonders hoch. Und werden sie nicht erfüllt, wird eben das Ticket der weniger ambitionierten Konkurrentin gekauft.“

Es ist interessant zu beobachten, wie diese Diskussion oft mitschwingt in den Texten und einem dadurch auch einfällt, wenn ein Text nicht in irgendeiner Weise daran anknüpft. Es ist bedenklich, dass es anscheinend einen weitverbreiteten Reflex gibt, der weiblichem Kabarett den Stempel „Frau wehrt sich, Frau schießt zurück“ aufdrücken will – und es dadurch nur zum bloßen Widersacher, zum Antagonisten männlichen Kabaretts macht, zu einer Kunst, die nur reagiert und nicht für sich selbst steht, die sich permanent behaupten muss und nicht einfach sein kann. Die meisten Kabarettistinnen in diesem Buch gehen diesem Label nicht auf den Leim, aber nicht alle finden einen Weg drumherum.

„Zwischen Männern und Frauen gibt es viele unausrottbare Missverständnisse. Und viele Klischees. Eines davon ist das Klischee, dass Männer nicht gerne reden. Dieses Vorurteil kann ich in der Form eher nicht bestätigen. Mag sein, dass Männer über manche THEMEN nicht so gerne reden, aber will ich als Frau einen Mann in ein Gespräch verwickeln, so brauche ich nur die richtigen Themen auszuwählen und schon bin ich bei Männern auf der ganz, ganz sicheren Seite. Wenn ich einen Mann dazu auffordere, darüber zu erzählen, wie schlecht und/oder hinterhältig seine Ex(en) ihn behandelt hat (haben), dann geht’s los.“ (Aus einem Text von Lioba Albus)

Der Diskurs, der sich an solchen Fragen entzündet, ist sicher wichtig und die Selbstkritik und die mannigfaltige Reflexion, die die Querulantinnen an den Tag legen, sind bewundernswert. Aber man wünscht ihnen, dass daraus kein Teufelskreis wird, dass die Leute sie aufgrund ihres Humors, ihrer Intelligenz und ihrer auf den Punkt gebrachten, entlarvenden Pointen feiern und nicht, weil sie sich gekonnt innerhalb dieses Diskurses positioniert haben. Emanzipation soll doch heißen: Unabhängig sein von seinem Geschlecht und seiner Rolle im Diskurs, oder nicht? Wohl auch wieder eine Frage, die einen Diskurs entzündet.

„Was wir Frauen im Kabarett an veralteten Rollenklischees zelebrieren, da kriegen Islamisten einen Ständer. […] Interessant ist aber, dass es immer die Humorlosen sind, die über Humor urteilen. […] Darum: mehr Humor und mehr Spott den Idioten. Weil es sie herunterschrumpft, auf das richtige Maß. Oder wie man jetzt in Amerika sagt: Make assholes small again.“ (Aus einem Text von Lisa Catena)

Es geht ja vor allem um Humor, um Satire, um die Kunst, die Dinge verquer auf den Punkt zu bringen – auch weil das, was sehr ernst ist, nicht am Schlechtesten in einem klugen Scherz aufgehoben ist, in einem trefflichen Spruch. Und Humor sollte kein Geschlecht haben müssen, zumindest nicht aufgrund seines Geschlechts beurteilt werden. Sondern aufgrund seiner Cleverness, seiner Qualität. Und Qualität findet man hier überall: in den Tweets von Lea Streisand:

„Sorgen sind wie Nudeln: man macht sich immer zu viel davon.“

Den Miniaturen von Uta Köbernick:

„Angst
ist der rote Teppich
für den Mut.“

und den Liedern von bspw. „Suchtpotenzial“:

„VIELEN DANK DISNEY – (danke Disney)
Für die scheiß Illusionen und die Herbstdepressionen
DANKE DISNEY – (Vielen Dank Disney)
Hätt ich damals mal lieber Pornos geguckt
und früher gemerkt, dass ihr lügt wie gedruckt
VIELEN DANK DISNEY – (danke für nichts)

Er ruft nicht: Rapunzel lass dein Haar herunter
sondern nur: Ey Mädschen! Was trägstn du drunter?“

In Querulantinnen gibt es eigentlich kein Thema, das nicht gestreift wird: Politik, Alltag, Klima, Religion, Liebeskummer, Sex und kaum eine Form, die nicht wenigstens einmal vorkommt: Geschichte, Aphorismus, Lied, Gedicht, Anekdote, Comedy, Poetry-Slam, Satire, Apell, Rede, etc. Manchmal geht es sehr munter zu, dann wieder bissig, dann nachdenklich, dann und wann auch albern, wie bei Maria Vollmers Version der zehn kleinen Zinnsoldaten, äh, Eizellen

„Fünf kleine Eizellen riefen ganz laut: „Hier!“
Doch Horst hat ihn nicht hochgekriegt, da war’n es nur noch vier.

Vier kleine Eizellen rollten flink herbei,
die Wodkaparty ging zu lang, da warn es nur noch drei.

Drei kleine Eizellen, die gingen jetzt aufs Ganze,
am Ende war’n es nur noch zwei, das Date das hieß Konstanze.“

Alles in allem: eine tolle Anthologie, wichtig für den Diskurs, noch wichtiger fürs Zwerchfell, das Hirn, Youtubenächte und das Herz. Ein Buch, über das man nicht einfach sagen sollte: es zeigt, dass auch Frauen großartiges Kabarett machen. Es geht schließlich nicht bloß um das Aufheben einer Negation. Es ist schlicht zu sagen: hier kann man ein Buch voller Beiträge von großartigen Künstlerinnen erwerben, gut ausbalanciert zwischen Kritischem, Spaßigem, Nachdenklichem und Banalem.

Natürlich will ich nicht falsch verstanden werden: die emanzipatorische Dimension des Buches will ich keinesfalls kleinreden (und es ist ja auch erfreulich, dass der Reclam-Verlag ein solches Buch rausgebracht hat, Daumen hoch). Kabarettistinnen gehören gesehen und gehört. Und natürlich ist es wichtig, dass wir uns in unseren Gesellschaften für die Menschen einsetzen, die es nachweislich schwerer haben, gehört und gesehen zu werden. Zum Schluss, ein letztes Mal zitiert, ein Satz von Uta Köbernick:

„Wegschauen hilft leider nicht,
Da siehts nämlich auch nicht besser aus.“