besprochen beim Signaturen-Magazin
Tag Archives: Reime
Ein bisschen was auf Brecht
I – Die Hauspostille
“O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!”
Die Hauspostille war der erste bedeutende Gedichtband den Brecht veröffentlichte (1927). Größtenteils besteht er aus Liedern – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Brecht hat den Vertonungen seiner Gedichte immer viel Bedeutung beigemessen – mit zahlreichen Strophen und oft auch Refrains (im Folgenden sind z.B. die letzten vier Zeilen der Refrain):
“Kein Kleid war arm, wie das ihre war
und es gab keinen Sonntag für sie,
keinen Ausflug zu dritt in die Kirschtortenbar
und keinen Weizenfladen im Kar
und keine Mundharmonie.
Und war jeder Tag, wie alle sind
und gab’s kein Sonnenlicht:
Es hatte die Hanna Cash, mein Kind
die Sonn stets im Gesicht.”
Viele der längeren Gedichte haben die üblichen Balladenthemen; Seeräuber oder Abenteuer, Tunichtgute und Säufer, und häufig trübes Menschenschicksal, verdammt, das alles steht im Mittelpunkt; vielfach kommt auch der Tod vor, allerdings wird Brecht dann meistens sehr lyrisch. Die wenigen Gedichte zum Zeitgeschehen, die vor allem im ersten Teil -Bittgänge- stehen, sind dagegen von frontaler Sachlichkeit (So hier am Ende eines Gedichts über eine Kindermörderin):
“Ihr, die ihr gut gebärt in sauberen Wochenbetten
und nennt gesegnet euren schwangeren Schoß
wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen,
denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid war groß.”
Das Schöne an den Gedichten ist, dass sie tatsächlich eingängig sind, man kann sie tatsächlich fast mitsingen, allein deswegen fühlte ich mich, auch wenn thematisch keine Verbindung besteht, doch an Heinrich Heines Das Buch der Lieder erinnert, ebenfalls ein Debüt. In beiden findet sich die einfache Form, eine Form von erzählender Lyrik, zusammengefügt mit einfachen, sich wiederholenden Klängen und Motiven, lesegenüsslich schnell zu konsumieren.
“Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese
still und grinsend vergehenden Gesichts
träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese
mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.”
Sicherlich ist dieser Gedichtband mehr ein schöner Sing-Sang als ein großes, lyrisches Meisterwerk. Aber wie in vielen Dingen, ist auch in der Einfachheit der Zeilen hier eine karge Schönheit aufbewahrt worden.
Schließen tue ich mit einem Gedicht, einem Liebesgedicht, dass viele von Brecht vielleicht kennen und das eine der wenigen feinsinnigen Ausnahmen in diesem Band darstellt:
Erinnerung an die Marie A.
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheur oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär’
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumebäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
II – Svendborger Gedichte
“Die Regierung
schreibt Nichtangriffspakte.
Kleiner Mann
schreibe dein Testament.”
1933 floh Bertolt Brecht mit seiner Familie ins dänische Svendborg, wo, in relativer Nähe zu Deutschland, dieser 6teilige Gedichtband entstand. Hauptsächlich sind es Widerstandsgedichte, die die deutschen Geschehnisse kommentieren, parodieren und untersuchen. Natürlich ist mit dem Anstreicher, der häufig vorkommt (und wie Brecht ihn nicht nur in seinen Satiren nannte) Hitler gemeint.
Brecht sah sich auch nach der Aberkennung der Staatsbürgerschaft 1935 noch als Deutscher, weshalb er auch stets von “unserem Land” spricht.
“Es ist möglich, dass in unserem Land nicht alles so geht, wie es gehen sollte.
Aber niemand kann bezweifeln, dass die Propaganda gut ist.
Selbst Hungernde müssen zugeben,
dass der Minister für Ernährung gut redet.
[…]
Und noch etwas macht ein wenig bedenklich
über den Zweck der Propaganda: je mehr es in unserem Land Propaganda gibt,
desto weniger gibt es sonst.”
Obwohl Emigrant, versuchte Brecht die Verbindung zum deutschen Volk nicht zu verlieren, zu wahren, zu kritisieren und vor allem, mit ihnen zu leiden, was vor allem im zweiten Teil deutlich wird, der vor allem Gedichte über das Schicksal von Juden und von Deutschen im neufaschistischen Klima enthält. Im sechsten Teil dieses Bandes setzt er sich mit dem Emigrantendasein selbst auseinander und schreibt:
“Schlage keinen Nagel in die Wand,
wirf den Rock auf den Stuhl!
Warum für vier Tage vorsorgen?
Du kehrst morgen zurück!”
Diese Bestimmtheit verlor er wohl erst mit Anfang des Krieges, von dem er weiter weg, erst nach Schweden, dann nach Finnland flüchtete; ein Krieg, vor dem er schon viel früher zu warnen begann:
“Auf der Mauer stand mit Kreide:
Sie wollen den Krieg.
Der es geschrieben hat
ist schon gefallen.”
Diese Gedichte sind zwar hauptsächlich vom zeithistorischem Interesse und verraten viel über Brechts Persönlichkeit (der vierte Band z.B. besteht aus Gedichten, die sich mit dem Kommunismus und dem sozialistischen System auseinandersetzen, sehr intensiv und anschaulich), aber so manches Gedanke und manches Gedicht mag sich hier auch finden, welche ihre Überlegungen, Schlüsse und Bilder über die Zeit hinaus zu schicken vermögen. Sei es eine einfach Lehre gegen Krieg:
“Wenn es zum Marschieren kommt, wissen viele nicht,
dass ihr Feind, an ihrer Spitze marschiert.
Die Stimme, die sie kommandiert
ist die Stimme ihres Feindes.
Der da vom Feind spricht
ist selber der Feind.”
oder eine der frei gereimten Chroniken aus dem dritten Teil, aus dem auch das bekanntere Gedicht “Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration” stammt und in welchem sich noch so manch andere gute Geschichte findet.
Ein vielseitiger Gedichtband, auch heute immer noch interessant und lehrreich.
III – Gedichte aus dem Widerstand (Chinesische Gedichte + Studien + Steffinische Sammlung)
“Mein Bruder war ein Flieger
Eines Tages bekam er eine Kart’
Er hat seine Kiste eingepackt
Und Südwärts ging die Fahrt.
Mein Bruder ist ein Eroberer
Unserm Volke fehlt’s an Raum
Und Grund und Boden zu kriegen ist
Bei uns ein alter Traum.
Der Raum, den mein Bruder eroberte
Liegt im Quadaramamassiv
Er ist lang einen Meter achtzig
Und einen Meter fünfzig tief.”
Die Studien und die chinesischen Gedichte sind sehr kleine Sammlung. In den Studien geht es um Werke anderer Dichter, Shakespeare, Dante, Kant, Schiller, Goethe, die in Sonetten abgehandelt, kommentiert oder zusammengefasst werden, manchmal auch alles gleichzeitig. Die Chinesischen Gedichte behandeln allgemeine Themen vor dem Hintergrund der chinesischen Mentalität und Geschichte.
Die “Steffinische Sammlung” ist ein Dokument von Brechts Exilreise, seinem Aufenthalt in Schweden und Finnland und enthält auch Chroniken und Satiren auf die Geschehnisse vor und im Krieg.
Die “Gedichte aus dem Messingkauf” sind Gedichte über das richtige Theater (ebenso wie die Dialoge aus dem Messingkauf)
-Gedenktafel für 4000, die im Krieg des Hitler gegen Norwegen versenkt wurden-
“Wir liegen allesamt im Kattegat.
Viehdampfer haben uns mitgenommen.
Fischer, wenn dein Netzt hier viele Fische gefangen hat
Gedenke unser und lass einen entkommen!”
IV – Buckower Elegien
“Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?”
Die Buckower Elegien, immer als Reaktion auf den 17. Juni 1953 verstanden, sind die letzte Gedichtsammlung Brechts. Bedeutend sind sie vor allem wegen ihrer komprimierten Konzeption und ihrem allegorischen Charakter. Wie zum Beispiel “Der Radwechsel”(oben) oder dieses:
“In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
vor einem halben Jahrhundert
vor zwei Weltkriegen
mit jungen Augen.”
Am schönsten empfinde ich gerade bei diesen Gedichten die freie Form. Sie sagen so viel mehr und ihre Melodie ergibt sich bei jedem Gedicht, am Schluss, rückwirkend. Ein Eindruck manifestiert sich mit ihnen, gerade groß genug für ihre kleine, meditative Gestalt.
Der zweite Teil dieses Bandes sind die “Gedichte im Exil”, sehr wenige kurze Gedichte (plus eine Erweiterung der Satiren aus den Svendborger Gedichten), die während der späten Phase des Krieges und danach entstanden. Fast jedes von ihnen ist ein kleines Meisterwerk und zugleich sehr persönliche Erschütterungen, wie dieses Gedicht -Ich, der Überlebende-:
“Ich weiß natürlich: einzig durch Glück
Habe ich so viele Freunde überlebt. Aber heute Nacht im Traum
Hörte ich diese Freunde von mir sagen: “Die Stärkeren überleben.”
Und ich hasste mich.”
Über alle Zeit werden diese Gedichte lesenswert bleiben.
Zum Abschluss, ein letztes Brechtgedicht, das ihn ganz umreißen kann: gewitzt, kaltschnäuzig, herablassend und demütig:
“Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.”
Eine Erwähnung zu Gottfried Benns Gedichtwerk
“Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
Die Sterne, schneeballblütengroß und schwer.
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer -”
Gottfried Benn, vielleicht der erste große deutsche Dichter der Moderne, wird bis zum heutigen Tag hauptsächlich als wichtigster Vorreiter und Vertreter des Expressionismus gesehen und ist vor allem dafür bekannt, dass er in seinen frühen Gedichte neue Tabuthemen wie Verwesung, Krankheit, körperliche Prozesse und ärztliche Detailuntersuchungen auf den Plan brachte; und obwohl man mit diesen Gedichten nur ein Drittel seines Gesamtwerks erfasst – den frühsten, drängendsten Teil – scheint er auf diese frühen Werke unwiderruflich abgestempelt zu sein. Ich selbst wurde damals im Deutschunterricht lediglich mit “Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke” konfrontiert, einem Gedicht, das ich, wie ich direkt klarstellen will, ganz scheußlich finde; es ist ein schlechtes, das Werk Benns kein bisschen wiedergebendes Gedicht, vielleicht expressiv-innovativ oder historisch interessant, aber lyrisch ohne Wert.
“Niemand ist Alles auf Erden.
In die Blüte des Lichts,
in die Aue des Werden,
strömt die Seele ihr Nichts
Wie dann die Stunden auch hießen,
Qual und Tränen des Seins,
alles blüht im Verfließen
dieses nächtigen Weins”
Warum wird Benn oft allein als dieser Dichter frühster Stunde gesehen, warum werden seine heute fragwürdigen “Innovationen” als seine größten lyrischen Triumphe gefeiert, wo er doch in reiferen Jahren so tiefsinnige und ehrliche Verse geschrieben hat. Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir denken. Denn auch mich hat es Überwindung gekostet, mich durch die frühen Gedichte zu wühlen; nicht durch alle, denn es sind sie nicht alle schlecht, aber so manche blutleere und von Schlamm übersprudelnde Quelle unpoetischer Verbalisierungen muss man überspringen, wenn man die guten frühen Gedichte herausfiltern will.
Und das kann zu dem Gedanken verleiten, es gehe weiter wie es anfängt. Und genau da liegt der große Irrtum, von dem ich hoffe, dass letztlich vielleicht nur ich und wenige andere ihm aufgesessen sind und für die meisten diese Mahnung lächerlich ist – es würde mich freuen! (Übrigens: Wer sich jetzt irgendwie angegriffen fühlt: Wenn sie Benn schon entdeckt haben oder seine frühen Werke mögen – ich spreche von mir aus und ich schreibe dies hier aus Sorge und nicht aus dem Wunsch nach Polemik)
“Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben,
allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,
er kann vom Augenblick nicht leben,
obwohl er sich dem Augenblick verdankt;”
Panta rhei – Alles fließt. Diesen Satz könnte man, weiß auf schwarzem Marmor, als Einband für Benns mittlere und spätere Gedichte benutzen, als Stichwort, als Motto, als Credo. Hauptsächlich haben diese Gedichte nichts mehr mit den frühen Werken aus Morgue oder Schutt gemein, außer vielleicht den Hang zu kulturellen Anspielungen und der immer noch kräftig wirkenden, am Zügel gehaltenen Sprache. Man kann sich bei den meisten förmlich vorstellen, wie ein älterer, weiser, ruhiger Mann an einem Tisch sitzt und die Reime ihm aus der Feder fließen, hinein in die Ewigkeit der Bücher.
Es geht um Metaphysik und um den Wunsch zu entkommen oder zu bleiben. Eins von beidem will gelingen, aber beides steht dem Menschen nur scheinbar offen. (“Wenn Du noch Formen willst,/ um nicht zu enden,/ wenn Du noch Normen stillst,/ statt dich zu wenden.”) Die Angst ist kein Wegweiser, aber sie hält uns klein. Der Tod ist kein Übel, aber er ist das Ende des Lebens, wie wir es kennen. Das einzige, was es gibt, ist das Andere. Die Leere und Du.
“Vor keiner Macht zu sinken,
vor keinem Rausch zur Ruh,
du selber bist Trank und Trinken,
der Denker, du.”
Gewiss, dieser kleine Themeneinblick ist nichts, was einen zärtlich oder freudig stimmt. Aber es stimmt einen nachdenklich und ist wundervoll zu lesen, als würden sich die Reime Sinn und Wort zugleich reichen. Und immer wieder erscheinen Verse, die einen wie der Ton einer tiefen Glocke treffen, weithin gut zu hören, durch Jahre, Zeit und Papier – und andere, die begegnen einem wie ein Gedanke in der Nacht, wenn man in völliger Dunkelheit am Fenster steht, Verse
wie:
“Die dunklen Fluten enden,
als Fremdes, nicht dein, nicht mein,
sie lassen dir nichts in den Händen,
als der Bilder schweigendes Sein.
Die Fluten, die Flammen, die Fragen –
und dann auf Asche sehn:
‘Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn’.”
Knapp könnte man sagen: Die Gedichte haben etwas Meditatives. Noch später kommen sogar einige erzählende, geradezu leichte, reimlose Gedichte auf, aber auch diese haben eine Art, einen nicht loszulassen mit ihrem Fluss, ihrem Gedankengut, ihren beobachtenden Augen.
“Der sah dich hart, der andre sah dich milder,
der wie es ordnet, der wie es zerstört,
doch was sie sahn, das waren halbe Bilder,
da dir das Ganze nur allein gehört.”
Ich glaube, dass Benn in seinem Spätwerk zu den größten Dichtern der deutschen Sprache gehörte und gehört. Mag sein Werk auch düster und über die Melancholie hinaus sogar kalt sein; nur in dieser Dunkelheit konnte diese dunkelrote Note entstehen, die ein paar seiner Verse zu dem Trefflichsten und Ausgeglichensten machen, was ich bisher an Lyrik lesen durfte. Vor allem die letztgenannte Ausgeglichenheit, selbst schon in frühen Gedichten teilweise vorhanden, ist ein Merkmal Benns das immer wieder zu verblüffen weiß – der klare Ton, die tiefe Stimme.
“Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann vergessen hieß.
Es ist ein Spruch, den oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt –
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: ‘tu sais’ – du weißt.”
Zu den frühen Gedichten von Marie Luise Kaschnitz
“Denn einer Masche gleich in den Geweben/ scheint unser Leben zwischen tausend Leben.”
“Gebt mir das Kästchen mit den goldnen Reifen
Den bunten Steinen und den kalten Ringen,
Ich kann das Leben anders nicht begreifen
Als in den Dingen.”
Marie Luise Kaschnitz ist wohl eine der eher unterschätzten Dichterinnen deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Trotzdem ist sie eine der wenigen, mit einem erhöhten Bekanntsgrad – auch wenn ihre Gedichte nicht unbedingt Besteller waren, erfreut sie sich bis heute doch einer großen, nur eben anonymen, Leserschaft. Im Januar des kommenden Jahres wäre sie 113 Jahre alt geworden.
“Wie lang und auch dein Haus gerät ins Wanken,
Wie lang und auch dein Werk erfährt Zerstörung,
Dann ist die Zeit, da Träume und Gedanken
Gereinigt stiegen aus den Fieberschauern.
Sei fest im Hoffen. Stark in der Beschwörung.
An Liebe reich. So wirst du überdauern.”
Die frühe Kaschnitz, das sind die Jahre von 1928 bis 1945/47. Genau wie im Fall von Peter Huchel wird diese erste Phase von gereimten Gedichten dominiert (die Gedichte aus den Kriegsjahren sind sogar fast ausnahmslos Sonette), bevor dann die Hauptschaffensphase beginnt, die viel von längeren und an die Form der Elegie angelehnten, moderner orientierten Gedichten geprägt ist. Mir haben diese frühen Gedichte, genau wie im Fall von Huchel, sehr gut gefallen, auch wenn sie gewiss keine übergroße metaphysische Tiefe aufweisen; dafür aber diese besondere Art der Einbeziehung des Lesers, mit Wortflächen herbeigeführte Berührungen auf einer bestimmten sinnlichen Ebene.
“O Ewigkeit der Sinne, denen Rose
Für immer Rose bleibt, ob auch indessen
Die Gärten schwinden und der Tag gewaltsam
Das freudige Haupt dir tief und tiefer zwinge.
Es wachsen neue Kräfte unaufhaltsam
Zum Herzen dir aus dem Bereich der Dinge.
Und schauernd, lauschend, ahnst du in der Zeit,
Der wandelbaren, die Beständigkeit.”
Marie Luis Kaschnitz ist keine Sängerin, sie ist keine Träumerin. Mit ihren Versen will sie, möglichst in einer vollendeten Geste, die Dinge einfangen, ihre Präsenz in Worten erfinden, ohne sie konkret zu nennen. Und wenn sie, wie im Vers, der dieser Rezension vorangestellt ist, eine Behauptung und Betrachtung macht, dann ist das, als würde sie einen Blick in den Spiegel werfen und schon der nächste Vers ist eine Erwiderung, eine Feinjustierung, eine Idee, die den Abschluss, die Vervollkommnung sucht.
Es ist eine Gefühlslyrik, die sich aber zurückzieht von jedem Hinausgehen über das Nahe, Fassbare. Kaschnitz versucht sozusagen nicht, in ihren Gedichten noch etwas in größere, ferner Verbindung zu setzten; lieber legt sie ihre Botschaft direkt in jede Zeile, die der Leser gerade liest, sodass sich das Bild mit jeder Zeile, Schritt für Schritt, erschließt, ohne dabei je im Unklaren über seine Räumlichkeit zu sein. Natürlich gibt es trotzdem auch Gedichte, die über sich hinausweisen. Aber im Prinzip herrscht bei ihr vor jedem Gedicht eine Art Dunkelheit und der letzte Satz ist die darin entstandene Kerzenflamme, jeder Satz davor ein Streichholz.
“Ach, vom Felsen, wo zum steilen Hange
Winde flügeln und die Welle bricht,
Irrt der Blick am weißen Säulenhange
Und er findet Licht und lauter Licht.”
In ihrer eher strengen Form erschaffen und entfalten diese frühen Gedichte trotzdem große Weisheit und Stabilität, wobei das letzte eine allgemeiner Wesenszug von Kaschnitz Lyrik ist, der mir so nur bei wenigen Dichtern begegnet ist; dieses Gefühl, dass nichts in der Dissonanz zwischen Metaphern oder Bildern verschwindet, dass das Gedicht quasi sich selbst bis zum Rand beim Lesen auffüllt, wie eine Schale mit Wasser, ohne überzulaufen, selbst wenn der Rand sehr niedrig ist.
Ich kann nur zum Schluss sagen, dass für jeden Freund der gereimten Lyrik diese ersten Gedichte sicherlich eine Fundgrube sind.
Die besten der Gedichte daraus finden sich natürlich auch in Sammelbänden, die beste davon: “Überallnie“.
Mit einer hauchdünnen, später hervorstechenden modernen Note, bewegte sich Kaschnitz stets zwischen Innerlichkeit, Impressionismus und Symbolismus. Feinsinn und ihre klare, gesetzte Art die Figuren ihrer Gedichte in ihre Verse einzuzeichnen, machen ihre Gedichte zwar unscheinbar, aber wertvoll. Sie sollte wieder gelesen werden.
“Was ist es, das an diesen Ort mich bannte
Und immer neu das Bild mich deuten ließ,
Da ich die Absicht nimmermehr erkannte,
Die solche Fülle schuf und leben ließ?
Ein Spiel der Schöpferkraft nur muss ich wähnen,
Ungleich gemischt aus Heiterkeit und Tränen,
So dünkt mich Schein und Finsternis verwirrend
Auch auf der Erde Angesicht gelegt
Und Menschen seh ich durch die Zeiten irrend
Von jedem Hauch getragen und bewegt.
Und doch erkenn ich Tag um Tag genauer:
Es wiegt die Freude schwerer als die Trauer.”