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Eine Reise den Fluss hinab und zu den Untergründen menschlichen Daseins


Obgleich es in Olivia Laings erstmals 2011 erschienenen Reiseessay viele literarische Bezugspunkte gibtallen voran Virginia Woolf, aber auch Kenneth Grahame, Iris Murdoch, Lewis Carroll, um nur einige zu nennenfühlte ich mich schon zu Beginn der Lektüre vor allem an ein knapp fünfzehn Jahre vorher erschienenes Buch erinnert, nämlich W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn.

Im Zentrum beider Bücher steht eine Wallfahrt, die angetreten wird, um einer inneren Leere zu entkommen. Bei Sebalds Ich-Erzähler ist es der Abschluss einer größeren Arbeit, bei Laing das Ende einer Liebesbeziehung. Natürlich ist Laings Reise echt, während Sebalds nur Fiktion ist, aber gerade deshalb ist es faszinierend, dass sie oberflächlich betrachtet zahlreiche Ähnlichkeiten aufweisen.

Da ist zum Beispiel die Tendenz, die Umgebung zu einem Abbild, einer Chiffre der Menschheitsgeschichte zu machen. Beide, Sebald und Laing, ziehen mit Vorliebe Details heran, Beobachtungen, und schlagen aus ihnen ein paar Funken, in deren Licht man mit einem Mal tiefe Einblicke in Mythologie, Zivilisation und Philosophie erhält. Beide beschreiben wie sie von der Welt um sie herum mit dem Menschsein konfrontiert werden, seiner Erhabenheit und seiner Nichtigkeit.

Und beide Werke, Saturn und Fluss, tragen außerdem ein nie endendes Memento Mori mit sich: Vergänglichkeit ist sowohl in Sebalds Prosa, seiner Schilderung des Verfalls und der Unwirtlichkeit des ländlichen Suffolks, als auch bei Laings flirrend-essayistischen Reiseschilderungen, den Fluss Ouse hinab, ein ständiger Begleiter der Narration und sogar beide Titel sind Metaphern für das Auseinanderfallen bzw.

Vorbeirinnen der Dinge.
Freilich gibt es auch Unterschiede. So sind Laings Schilderungen nicht selten in zärtliche Melancholie getaucht und mit einer liebevollen Offenheit geschrieben, die Sebalds Buch nicht besitzt, da es mehr zu einer gemessenen Ironie neigt. Was bei Sebald Entropie ist, ist bei Laing immer noch Pracht, sei es auch verfallene, entgangene Pracht. Bei ihr ist alles unmittelbarer und deshalb manchmal auch unstet, bei Sebald hat alles seinen Platz, der Stil ist präzise und geschliffen.

Man könnte es auch anderes formulieren: Bei Laing geht es um die Dinge, auf die es ankommt, bei Sebald um das, was fehlt. Sebalds Prosa schürt ein Ende, Laing einen immerwährenden Neuanfang, eine Wiederholung, an der man noch teilhaben kann.

“Zum Fluss” ist ein tröstliches Buch. Es zeigt uns, dass wir einfach nur den nächsten Wanderweg nehmen, in die nächste ländliche Ecke der Welt fahren müssen, uns zum nächsten Fluss oder Meer begeben können, um wieder ergriffen zu werden vom ganzen Schauspiel der Natur und seinem Nachhall in all unserem Tun und Denken. Zwar erinnert es uns permanent an das Verschwinden und Enden, entsinnt sich aber in diesem Erinnern und Aufzählen auch permanent des Glücks, der Freude, des Genusses.

Kurzum: ein Buch, das viel zuwege bringt und in das man sich versenken, mit dem man sich treiben lassen kann. Wer an geradliniger Narration interessiert ist, dem*der dürfte der Stil zu viele Abzweigungen nehmen. Wer aber essayistische Prosa schätzt, die weite Bögen spannt und dann wieder Unmittelbares schildert, sich also hin und her, auf und ab bewegt, dem dürfte Olivia Laings Wanderung an der Ouse eine schöne Zeit bescheren.

Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.

 

Zu “Junger Mann” von Wolf Haas


junger mann „Junger Mann“, das kann man direkt vorweg sagen, ist eine Wehmutsgeschichte, eine Geschichte über die Jugend, die erste Liebe. Es ist keine schlechte Geschichte, aber wer den wilden Wolf Haas kennt, den Haas von „Das Wetter vor 15 Jahren“ oder „Ausgebremst“ oder „Die Verteidigung der Missionarsstellung“, den Haas der schiefen Komik, dem wird dieses schöne Buch, trotz gewisser Schnörkel und dem ein oder anderen eigenwilligen Witz, doch allzu brav erscheinen.

Aber eins nach dem anderen, zunächst zum Inhalt: Haas junger Mann lebt Anfang der 70er Jahre in der Nähe des Deutschen Ecks in Österreich und jobbt bereits mit zwölf Jahren an einer Tankstelle. Oft frequentiert wird diese Tankstelle von Tscho, einem Lastwagenfahrer, der oft die Strecke bis hinunter nach Griechenland fährt und in seiner Freizeit an Autos herumschraubt, Totalschäden wieder auf Vordermann bringt. Tscho ignoriert den jungen Mann, den viele wegen seiner blonden Locken und seiner fülligen Figur nur „junges Fräulein“ nennen. Als der junge Mann aber zum ersten Mal Tschos neue Freundin Elsa erblickt, ist es um ihn geschehen – er will abnehmen und er will vor allem: Elsa …

Der in vielen anderen Büchern so originelle Haas gibt sich kaum Mühe, diesem schon oft gestrickten Plot einen eigenen Stempel aufzudrücken. All die üblichen Zutaten finden sich: leicht skurrile Figuren, Scham und Neugier des jungen Mannes, Anekdoten und Anekdötchen, schließlich eine Heldenreise, auf der sich das Erwachsenwerden einzustellen beginnt, ein dunkles Geheimnis, viel Hoffnung, viel Jugend.

Natürlich hat jeder Autor (und jede Autorin) das Recht auch so ein Buch zu schreiben, ein leichtes, aber nicht allzu leichtes Buch, einen harmlosen, aber berührenden Entwicklungsroman light. Weder wird die Fettleibigkeit des jungen Mannes über Gebühr thematisiert, noch gibt es sonst irgendwelche größeren Konflikte. Wäre mit diesem Wort nicht auch Verachtung verbunden, die dieses Buch nicht verdient hätte, könnte man es ganz einfach mit einem Adjektiv beschreiben: seicht.

Seicht nicht im Sinne von belanglos. Aber schon in dem Sinne: ohne Beißen und Stechen, ohne eine Spur wirklicher Tragik. Es ist eine heile Welt, die Haas da serviert, so sehr sie auch von kleinen Erschütterungen durchzogen ist. Diese Erschütterungen halten zwar den Plot in Bewegung, dringen aber nicht bis zu den Lesenden vor, die sich einfach in der schönen Spannung der Liebesgeschichte und der Abenteuergeschichte sonnen können. Warmherzig hat jemand darüber geschrieben – ja, das stimmt. Wem danach ist, wer ein solches Buch lesen will: Voila.

Zu “Tagebuch eines frischvermählten Dichters” von Juan Ramón Jiménez


Tagebuch eines frischvermählten Dichters besprochen beim Signaturen-Magazin.de

Zu Joan Didions “Süden und Westen”


Süden und Westen „Alles entlang des Golfes scheint zu vergammeln: Wände werden fleckig, Fenster rosten. Gardinen schimmeln. Holz verzieht sich. Die Klimaanlagen funktionieren nicht mehr.“

Golfküstenregion: Wildnis, Abgeschiedenheit, Riten, Rauheit, Zivilisationsabhang. Die drei Staaten zwischen dem weitläufig-erzkonservativen, cowboygeprägten Texas und dem sonnig-paradiesischen Florida, namentlich Louisiana, Mississippi und Alabama, gelten in vielerlei Hinsicht als spezielle US-amerikanische Bundestaaten.

Große Teile der Bevölkerung von dort müssen regelmäßig (wie der Süden von Amerika im Allgemeinen) als Blaupause für jenes Klischees vom hinterwäldlerischen, immer leicht soziopathischen Amerikaner herhalten, stur und allem Fremden gegenüber skeptisch, dabei oft brutal und abgestumpft.

Die Atmosphären in diesen Gegenden, mit denen Schriftsteller und Filmemacher immer wieder gearbeitet habe (zuletzt zum Beispiel in der Staffel 1 der Serie „True Detective“), sind geprägt von einer Mischung aus verquerem Lokalstolz, einfachen Traditionen, Mystik und einem tiefsitzenden Fatalismus (nicht umsonst ist diese Region die Quelle des Blues), der sich aus den zermürbenden klimatischen Bedingungen und der Abgeschiedenheit der Region ergeben.

„Das war ein Fatalismus, der, wie ich feststellte, zu diesem bestimmten Sound des Lebens von New Orleans gehörte. Bananen verfaulten und beherbergten Vogelspinnen. Das Wetter kam über das Radar herein und war schlecht. Kinder bekamen Fieber und starben, häusliche Streits endeten in Messerstechereien […]
der Fatalismus ist der einer Kultur, die von der Wildnis bestimmt wird.“

Joan Didion ist 1970 in diesen Staaten unterwegs gewesen. Zusammen mit ihrem Mann, der aber in den Notizen kaum auftaucht – in den wesentlichen Szenen ihrer Notizen wirkt es so, als wäre Didion allein in den Gespräche, bei den Begegnungen, mit ihren Überlegungen. Eine Frau aus Kalifornien im Kontakt mit Menschen vor Ort.

Die Notizen, die einmal zu einem Artikel über diese Staaten des Südens werden sollten (aber nie wurden), sind in Kapitel eingeteilt, die jeweils Abschnitte der Reise markieren, sodass man allein anhand der Kapitelüberschriften Didions Route auf der Karte verfolgen kann.

Während ihrer Reise kommt sie ins Gespräch mit Menschen, beschreibt die örtlichen Gegebenheiten, ihr eigenes Herausstechen (als einzige Frau, die Bikini trägt, die selber Auto fährt, die so weit weg von ihrer Heimat angetroffen wird), ihren Versuch die Lebenswelt der Menschen zu begreifen.

„Die Abgeschnittenheit dieser Menschen von den Strömungen des amerikanischen Lebens der siebziger Jahre war erschreckend und verblüffend anzusehen. Alle ihre Informationen kamen aus fünfter Hand und waren im Weitergeben mythisiert worden. Spielt es überhaupt eine Rolle, wo XY liegt, wenn XY nicht in Mississippi liegt?“

Trotz der Chronologie wirkt „Süden und Westen“ eher unsortiert, weil die Themen und die Art der Darstellung stark variieren und Zusammenhänge nicht immer erkennbar sind und auch nicht immer geliefert werden. Didion gibt schon am Anfang zu, dass das Buch ein Skizzenbuch ist und des Weiteren vor allem fasst, was ihr unverhofft passierte – sie recherchierte selten bewusst.

„Ich versäumte es, die Menschen anzurufen, deren Namen ich hatte, und hielt mich stattdessen in Drogerien auf. In einem wörtlichen Sinne war ich unter Wasser, diesen ganzen Monat.“

Gerade weil es nur eine Art Notizbuch ist, verblüffen allerdings die Klarheit und der Stil der meisten Schilderungen. Zwar variiert die Darstellung, aber der Fokus in der jeweiligen Darstellung ist immer gestochen scharf und die jeweiligen Überlegungen wirken zwar manchmal willkürlich, sind aber in sich geschlossen.

„Süden und Westen“ ist ein Reisebuch und gut, geradezu angenehm zu lesen. Es streift einen konsequent, aber oft auf eindringliche Art. Manche Abschnitte, wie etwa die Suche nach dem Grab William Faulkners, des Schriftstellers, der diese Regionen so gut beschrieb und doch (oder: deswegen) von den meisten Südstaatlern gehasst wird, bleiben im Gedächtnis.

Alles in allem ist das Buch natürlich auch eine minimale Sozialstudie – inwiefern noch immer gültig, lässt sich schwer sagen. Aber wenn man „True Detective“ sieht oder Bücher wie „Fremd in ihrem eigenen Land“ liest, bekommt man den Eindruck, Didion würde heute, 45 Jahre später, nicht wirklich eine andere Region bereisen.

Nachtrag: Es gibt auch noch ein kleines Kapitel über Kalifornien, in dem es u.a. um den Patty Hearst-Fall geht. Es ist allerdings mehr ein beigegebener Schnipsel und als eigenständiger Text eher nicht ernstzunehmen.

“Nick & Norah” – eine Reise durch Nacht und Musik


“We all start as strangers.”

Musik und Liebe haben etwas gemeinsam: man kann nur sehr schwer Worte finden, um sie lang und ausführlich zu beschreiben. Oft steckt die Wahrhaftigkeit dieser beiden Phänomene in einem kurzen Satz, einem Wort und noch häufiger einfach in ihnen selbst, als eine Wahrheit, die sie mittragen, ohne sie dir auszuhändigen; sie verbleibt dort, unauslotbar, eine Erscheinung der Wirklichkeit, die zwar wirkt, aber nicht bleibt – dem Kopf nicht zu vermitteln.

Jeder neue Liebesroman ist auch ein neuer Versuch, jene ganz spezielle Wahrheit einer Liebegeschichte zu beschreiben; jede Zeile, die man über Musik jeglicher Art schreibt, ist ein neuer Tanz auf dünnem Eis, fast genauso, als würde man versuchen, Musik zu genießen, in dem man sie kognitiv während des Hörens aufbricht, zu erschließen und in die richtigen Kanäle zu leiten versucht.

Aber nur fast… denn in der Sprache kann es noch gelingen, das man mit einem Mal, für einen Lese-Schritt, für eine Zeile, wirklich weiß, was der Autor meint – diese eine Zeile reißt einen dann mit, über weitere 10, 20, 30 weitere Sätze. Und man liest sich selbst die eignen Sehnsüchte, Gedanken und Erinnerungen von der Seele – und erschließt sich dabei ein Stück von den Weisheiten des Lebens. Auf denen mag stehen: Vorsicht – flüchtig. Aber selbst das was flüchtig ist, kann einem der Moment, in dem man liest und liest und erkennt, nicht nehmen.

“Die Seele hat ihr eigenes Ohr und manchmal ist die Erinnerung der gnadenloseste DJ aller Zeiten”

Alle meine Rezensionen zu Büchern sind nicht nur Empfehlungen und Besprechungen, sondern auch Meditationen zu den Themen, dem Tempo, der Sprache, der Botschaft eines Werkes. Als solche können die oberen beiden Abschnitte gelesen werden. Nun eine etwas sachlichere Ergänzung.

Wegen seiner unkonventionelle Erzählungen einer Liebesgeschichte in Das Wörterbuch der Liebenden, die mir sehr gut gefallen hat, war mir David Levithan schon ein Begriff – zusätzlich noch, weil er ja auch ein Buch zusammen mit John Green geschrieben hat, dessen Werke ich ebenfalls sehr schätze. Ich lese immer mal wieder gerne Jugendbücher – warum, diese Frage habe ich in meiner Rezension zu Die erste Liebe nach 19 vergeblichen Versuchen auf Amazon.de beantwortet; trotzdem sei hier erneut gesagt, dass ich glaube, dass Jugendbücher Erfahrungen bereithalten, die wir über unser ganzes Leben nicht vergessen sollten.

“und da hab ich mich nur noch wie eine Feuerwerksrakete gefühlt.”

In zwanzig Kapiteln (die ungeraden gehören Nick, in den geraden erzählt Norah, immer abwechselnd) begleiten wir die zwei durch die Nacht und die Clubs von New York City. Worum es geht, ist von Anfang an klar: es geht um die Liebe und um die Musik – und darum, dass man sich in beiden verlieren, aber auch finden kann. Beides leichter gesagt als getan, unentwegt passiert das eine wie das andere, scheinbar ohne, dass wir etwas daran tun können; schließlich sind wir, wer wir sind, die Musik ist, was sie ist. Das Leben ist, was es ist.

Manches kann man teilen, das andere nicht. Manches ist kompliziert, manches einfach – und manches, manches ist schöner als man glauben kann und manches gelingt nie, obwohl es anderen gelingt.

Und darum geht es doch, in der Musik und in der Liebe: um das, was den Glauben übersteigt. Es geht nicht darum “Wissen” zu werden oder “Gewissheit”. Eher darum etwas zu befühlen und zu erfahren, wie es sich anfühlt.

Auf dem Weg zu ein paar kleinen Erkenntnissen, reisen Norah und Nick durch die Nacht. Sie kommen sich näher, entfremden sich, lachen und reden, hören Musik, erleben und spüren, denken und erzählen. Der Rest: den muss man Lesen. Denn soviel sei gesagt: Auch sprachlich hat dieser kleine Roman den einen oder anderen genialen Riff drauf.

“Ich schaue nach oben, versuche, hinter dem Wolkenkratzer ein Stück vom Nachthimmel und am Nachthimmel einen schimmernden Stern zu entdecken, und als mir das nicht gelingt, schließe ich die Augen und versuche, mir auf meine Augenlider selbst einen Stern zu zaubern, und ich bin froh, dass Norah in diesem Moment Augenblick nicht meine Gedanken lesen kann, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass irgendjemand von mir solche Sachen weiß.”

Warum wir lesen? Ich glaube, ich werde diese Frage nie beantworten können, während ich vor diesem Bildschirm sitze, oder während ich mit anderen irgendwo zusammensitze – und wenn, dann nur unzureichend. Ich könnte es immer nur sagen, wenn ich gerade vor einem richtig tollen Buch sitze. Doch dort bin ich mit mir allein und das ist gut so. Denn im Lesen geschieht mehr, als die Sprache wieder herausklauben könnte. Andeuten, ja das kann man und ich hoffe, dass die Andeutung ankommt, wenn ich abschließend sage, dass ich Nick & Norah für einen lesenswerten Jugendroman halte – kein Meisterwerk, aber eine kurzweilige Fuge in meinen Leseerfahrungen, die ich nicht missen möchte. “Atemlos”, nannte ein anderer Rezensent das Buch. Dem kann man zustimmen, auch wenn nicht das ganze Buch dieser Idee folgt. Es gibt auch sehr ruhige Stellen und ein paar die wiederum zum Schießen sind. Es gibt Stellen, wo alles Musik ist und dann wieder welche, wo alles fast süßlich ist, dann wieder kommt die Melancholie, dann die Zurückgezogenheit, dann der Überschwang, dann gehen die beiden Protagonisten wieder in einen filmreifen Schlagabtausch. Und das ist letztlich die Besonderheit des Buches, dass es einen die Intensität von Gefühlen in der Nacht nachempfinden lässt, auch von Enttäuschung oder Liebeswunsch oder simpler Freude am Gespräch – dass es seinen Ton, seine Windungen, sein Tempo sehr gut nach der Erzählung richtet, nach der Stimmung, die die Geschichte gerade betritt – einen wirklich durch diese Nacht, mit allen Höhen und Tiefen trägt. Diese eine Nacht. Was will man mehr?

Zum Schluss drehen wir die sprachliche Musik dieses Buches noch mal voll auf und lassen sie für sich selbst sprechen:

“Mein Herz schlägt schneller. Ich bin. Hier und jetzt. Ich bin. In der Zukunft. Ich umarme sie. Wir sind. Und wollen, fühlen, begehren, wissen, hoffen, alles wird eins. Wir sind die, die das Ding, das alle Musik nennen, mit dem Ding, das alle Zeit nennen, zusammenbringen. Wir sind das Ticken, wir sind das Pulsieren, wir sind die, die in diesem Augenblick alles vorantreiben. Es gibt nur uns in diesem Augenblick. Für eine Ewigkeit. Kein Publikum. Keine Instrumente. Nur unsere Körper, unsere Gedanken, unser Flüstern, unsere Blicke. Das ist die Musik, die größer ist als alles.”

Link zum Buch

*diese Rezension ist bereits auf Amazon.de erschienen

Austers “Leviathan”


Der Leviathan ist eigentlich ein Ungeheuer aus der Mythologie des Zweistromslandes, eine riesige Wasserschlange, mit biblischer Zerstörungskraft. Bekannter und für die westliche Geisteswelt von größerer Bedeutung ist jedoch das, nach diesem Ungetüm benannte, Buch aus dem 17. Jahrhundert (Der Leviathan), geschrieben von dem Mathematiker und Philosophen Thomas Hobbes. Es ist ein politik-/staatsphilosophisches Werk, der Form und dem Grundwesen nach ähnelt es dem Buch Der Fürst von Machiavelli oder Rousseaus Gesellschaftsvertrag – genau wie diese ist es weniger eine konkrete Ausarbeitung eines Staatsapparates, als vielmehr eine Abhandlung über der menschlichen Natur und wie der Staat (also die Gemeinschaft der Menschen) dieser Natur in seinen Mechanismen und Aufgaben Rechenschaft zollen muss. Hobbes sah den Menschen als ein sehr düsteres Wesen, das stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und eigentlich nicht für ein Zusammenleben geeignet ist. Deswegen muss der Staat, als allmächtiger Leviathan (in der Mythologie kann kein Mensch die Macht des Leviathan brechen) dafür sorgen, dass seine Instanz die Menschen und ihre Natur stets kontrolliert und sie davon abhält, übereinander herzufallen. Dazu sind dem Staat kaum Beschränkungen auferlegt, solange die Sicherheit gewahrt bleibt und Chaos, Anarchie und Verbrechen vermieden oder zumindest bestraft werden können. Dies wird von Hobbes nicht nur als Notlösung, sondern als höchste ideele Möglichkeit des Staates angesehen.

Es ist interessant wie viele Künstler sich auch danach noch mit dem Leviathan-Motiv beschäftigt/es aufgegriffen haben. Julien Green zum Beispiel (Leviathan) und Joseph Roth. Aber auch Arno Schmidt hat eine seiner wichtigsten Erzählungen nach dieser doppeldeutigen Idee benannt. Dabei ist den Texten von Schmidt und Green eigen (den von Roth kenne ich leider nicht), dass sie nur sehr unkonkret auf das Phänomen, das ihren Werken den Titel gab, eingehen – oder anders gesagt: nur der Titel schafft die Verbindung zwischen der Idee des Leviathans und dem Text, obwohl sie dann ganz offensichtlich oder zumindest naheliegend ist. Überhaupt hat diese Idee, in abgewandelter, libertinärer Form, etwas sehr modernes, in Zeiten des Internets, des organisierten Terrorismus und solchen Gesetzen wie dem Patriot Act, etc.

Paul Auster ist bisher der letzte große Autor, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, obwohl bei ihm der Titel während und nach der Lektüre schon fast als ein Rätsel auftritt, als etwas Nebulöses, schon beinahe unkenntlich gemacht. Das mag enttäuschend sein, aber nur wenn man konkrete Erwartungen hegt. Und das Paul Auster aus so einem Motiv keinen hochgestochenen Verschwörungsthriller, sondern eine zutiefst ambivalente, menschliche Geschichte gemacht hat, ist ihm letztlich sogar hoch anzurechnen. Dadurch wirkt das Buch zwar manchmal auch etwas unentschlossen und nicht gerade zielstrebig, was aber wiederum zu der Geschichte passt.

Trotzdem sei dies schon mal klar in den Raum gestellt: Wer nicht in die Beschaffenheit/Welt eines Buches, mit all seinen Abzweigungen, Änderungen am Grundthema und dem Verschieben der Perspektiven, eintauchen kann, ist mit diesem Werk wahrscheinlich schlecht beraten. Dabei ist es nicht mal ein sonderlich kompliziertes Buch. Aber, und dies hat auch mit den fiktiven Begleitumständen der Niederschrift des Berichtes, aus dem das Buch besteht, zu tun: es ist ein eher unordentliches, nicht gerade lineares Werk – bewahrt sich dadurch allerdings eine stille, dem Leben angeglichene Authentizität.

Wie nicht selten bei Auster beginnt das Buch mit einer Ausgangslage, die das ganze spätere Werk auf gewisse Weise prägt, weil sie im Kern Form und Rahmen der ganzen Erzählung bereits festlegt. In diesem Fall ist es der Anfang eines Bekenntnisses oder eines Berichts, beginnend mit den Worten: “Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.” Ein Satz wie Dynamit. Und doch auch sehr rätselhaft; schon dieser erste Satz wirft einen Schatten über das ganze Buch. Es folgt, wider erwartend, keine reißerische, bunt gefächerte, sondern die zutiefst menschliche und erstaunlich wendungsreiche Geschichte eines Lebens, das zwischen Glück und Niedergang einen seltsamen Weg beschreitet und in dem das Schicksal einen raubbauhaften Einfluss betreibt. Das Buch und die Geschichte legen sich wenig fest, verändern oft die Prioritäten, haben ein-zwei Längen – und sind doch am Ende fast grandios.

Ein guter Roman baut einen Sog auf, dem man sich nicht mehr ganz entziehen kann – bei der (potentiell und zumeist) längsten literarischen Gattung, die wir kennen, ist das ja auch irgendwie überlebenswichtig. Dennoch ist der Sog unterschiedlich; bei einigen Büchern tritt er sofort zu Tage, bei anderen ist er kaum vorhanden, liegt weniger in der Spannung der Geschichte, dem Sturm der Ereignisse und offenen Fragen, als vielmehr in einer hartnäckigen Neugier, die das Geflecht und die Windungen des Romans bis zum Ende gehen will, die alles Erleben will, was der Roman in seiner inhärenten Beschaffenheit für sie bereithält. Leviathan ist ein Roman von letzterem Kaliber. Man darf das jetzt nicht so verstehen, dass er langweilig ist. Aber seine innere Konsequenz bleibt bis zum Schluss zum Teil im Dunkeln, beinah bis zur letzten Seite ist sie nicht ganz offensichtlich. Darin liegt wiederum der große Reiz des Romans: Man weiß nicht, wo er einen hinführt. Ein Zug, der ihn auf eine beinahe morbide Art lebendig macht.

Es gäbe sicherlich noch viel zu sagen, noch viel was eine Erwähnung wert wäre. Das Ende z.B., das auszudeuten bleibt, aber auch die vielen Grauzonen (Dinge aus zweiter Hand, Widersprüchliches) die unauffällig den Roman immer wieder begleiten (und zuletzt noch Austers ewiges Thema: der Zufall, der auch die Manifestierung des Leviathans sein könnte) – das alles ist nicht ganz festgelegt und lässt das Werk in seinen Dimensionen gleichsam wachsen und verschwinden. Doch was man ihm nicht absprechen kann, dass sind ein Gesamtkonzept, welches alles andere als uninteressant ist und eine unaufdringliche Klasse, die man während des ganzen Buches spüren kann. Wie gesagt, wenn ein wenig Geduld mit ihm hat, kann Auster einen immer wieder überraschen und in seinen Bann schlagen, auch in diesem Werk. Man muss sich darauf einlassen – oder eben nicht.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen