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Zu “Das babylonische Wörterbuch” von Joaquim Maria Machado de Assis


Das Wörterbuch babylonisch Als Fan (und Besitzer der S. Fischer Gesamtausgabe) von Jorge Luis Borges, habe ich jahrelang Texte gesucht, die zumindest einen ähnlichen Ton wie seine Erzählungen und Gedichte aufweisen, angefangen bei vielen Autor*innen in der von Borges Lektüren und Empfehlungen inspirierten Reihe Bibliothek von Babel, über andere südamerikanische Autor*innen wie Silvina Ocampo, Julio Cortázar und Gabriel García Márquez, bis zu den Verfasser*innen von phantastischen (und enzyklopädischen) Texten aus anderen Weltteilen wie etwa Stanislaw Lem (siehe „Die vollkommene Leere“) oder Italo Calvino.

Dann stieß ich glücklicherweise vor kurzem auf die Erzählungen von Joaquim Maria Machado de Assis, einem brasilianischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert, erst 2018 neu veröffentlicht in der Übersetzung von Melanie P. Strasser und Marianne Gareis. Auf dem Einbanddeckel dann auch direkt ein Zitat von Salman Rushdie – „Hinter García Márquez steht Borges und hinter Borges als Quelle und Ursprung von allem Machado de Assis“ –, das mich frohlocken ließ.

In der Tat kann man Machado de Assis in vielerlei Hinsicht als einen wichtigen Vorläufer von Borges betrachten. Schon der Titel der Erzählsammlung (und einer Erzählung darin) erinnert an „Die Bibliothek von Babel“ oder „Die Lotterie von Babylon“. Auch was das Einstreuen und gleichzeitige Verfremden von enzyklopädischen Anspielungen und die (offenen und versteckten) Verweise auf viele andere Literaturen angeht, haben die Texte beider Autoren viele Dynamiken gemein, hinzu kommt die Faszination für das Biblische und Exotische.

Auf der anderen Seite neigen Borges Erzählungen dazu, labyrinthisch und verschlungen zu werden, die Elemente Ironie und Spannung ein wenig zu zersetzen, während Machado de Assis seine Geschichten mit beschwingter und vollendeter Eleganz, und viel feinem Witz, aufbereitet. Man merkt, dass er vor Borges kam, denn er hat noch mehr Vertrauen in die Kraft der Fiktion, des Geschichtenerzählens, während Borges Ingredienzen aus Fiktion und Wirklichkeit auf unnachahmliche Weise vermischt, dem Potenzial der reinen Fiktion misstraut.

Alles in allem ist „Das babylonische Wörterbuch“ für mich eine tolle Entdeckung. Während mir die Romane von Machado des Assis immer ein bisschen verplaudert erschienen, sind einige seiner Erzählungen wunderbar vielfältig instrumentierte Kleinode, manchmal etwas gestrig, aber doch eigenwillig genug, die Distanz zum Heute mit ihren Faszinationen zu überbrücken.

Zu “Weimarer Verhältnisse?”, einer Anthologie aus dem Reclam Verlag


Weimarer Verhältnisse „Die Rückkehr des Nationalismus und die Erfolge des Rechtspopulismus haben eine neue Debatte über die Grundlagen und Gefährdung der Demokratie in Gang gesetzt. Auch die etablierten Demokratien des Westens machen die Erfahrung, dass der politische Grundkonsens, auf dem sie ruhen, nicht mehr so selbstverständlich ist, wie noch bis vor kurzem angenommen.“

In der Bundesrepublik Deutschland hat der im Vorwort beschriebene »Rechtsruck« zu Debatten geführt, in denen immer wieder von „Weimarer Verhältnissen“ die Rede ist. Im Gegensatz zum Geschwafel von „spätrömischer Dekadenz“ wirkt dieser Rückgriff auf das Beispiel der ersten bundesdeutschen Demokratie seriös: Das Schicksal der Weimarer Republik war ein wichtiger Fehlerkatalog für die Ausarbeitung von Verfassung und Grundgesetzes der Bonner Bundesrepublik und bleibt ein Menetekel deutscher Geschichte.

Dennoch droht einem Vergleich der gegenwärtigen politischen Lage mit Weimar dasselbe, wie einem Vergleich von derzeitigen politischen Akteuren mit der Person von Joseph Goebbels: diese Vergleiche drohen zu hinken. Was können wir also wirklich bis heute aus Weimar lernen und was an diesem Rückgriff muss, bei näherer Betrachtung, zum bloßen Schreckgespenst verkommen?

Sieben Autorinnen und Autoren (namentlich Ute Daniel, Jürgen W. Falter, Hélène Miard-Delacroix, Horst Möller, Herfried Münkler, Werner Plumpe, Andreas Wirsching) gehen dieser Frage anhand von verschiedenen Facetten nach, bei deren ein Vergleich zwischen Weimar und der derzeitigen politischen Lage ansetzen könnte.

Die verschiedenen Gesichtspunkte sind durchaus interessant, wobei die beiden stärksten Texte vom Mitherausgeber Andreas Wirsching stammen, der auch neben Jürgen W. Falter am meisten Position zur Gegenwart bezieht. So liefert er bspw. eine gelungene Definition von Populismus:

„Populisten lehnen die politisch-soziale und kulturelle Vielgestaltigkeit demokratischer Gesellschaften ab. Sie behaupten hinter dem verfassungsmäßig zustande gekommenen politischen Willen gebe es ein anderes, ein »wahres«, »eigentliches« und in sich einiges Volk, das sie zu repräsentieren vorgeben. […] Sie lehnen es ab, die komplexe Realität zum Ausgangspunkt der Politik zu machen. Stattdessen zwängen sie die Konflikte moderner Gesellschaften in die Kategorien eines pseudomoralischen Rigorismus ein, der, konsequent zu Ende gedacht, nur Schuldige und Opfer kennt.“

Nach Wirschings Eingangstext beschreibt Werner Plumpe die wirtschaftlichen und Horst Möller die systempolitischen Probleme der Weimarer Republik. Ihr Resümee, obgleich vorsichtig mahnend, ist im Prinzip das Resümee der gesamten Anthologie: Ja, Weimar hat uns noch etwas zu sagen, aber ein Vergleich zwischen den Weimarer Verhältnissen und unsere politischen Lage hinkt nicht nur, er greift schlichtweg an einigen Stellen ins Leere, so sehr er auch mancherorts zu haften scheint.

Schon eher vergleichen kann man AfD und NSDAP, was Jürgen W. Falter anhand von deren Wählerschaft und Ideologie tut. Wohlgemerkt: es geht ums Vergleichen, nicht ums Gleichsetzen. Das Ergebnis ist in Sachen Wählergruppen doch sehr ähnlich, in der Ideologie aber stellenweise abweichend; und die verschiedenen Zeiten, in denen diese Parteien existierten, sowie die Erinnerungskultur der BRD, tun ihr Übriges. Die AfD muss natürlich auch keine NSDAP werden, um potenziell gefährliche oder potenziell antidemokratische Ausmaße anzunehmen. (Antidemokratisch waren beispielsweise auch die KPD der Weimarer Republik und andere Splitterparteien.)

Ute Daniel beschreibt in ihrem Text die Weimarer Presselandschaft und deren Dynamik, Herfried Münkler beleuchtet die euro- und geopolitischen Bedingungen, die sich in der Zwischenkriegszeit um die erste deutsche Demokratie herum entwickelten. Hélène Miard-Delacroix überfliegt dann noch einmal die deutsche Mentalität.

Ist das Büchlein lesenswert? Ja, aber nur zum Teil aus aktuellem Anlass. Manches darin taugt eben nur als Geschichtsstunde (die nie schaden kann), als politische Bildung, aber nicht als tagesaktuelle, politische Bildung. Denn letztlich: Mit Globalisierung, Umweltkrise, Digitalisierung, etc. steht unsere Zeit vor Problemen, die mit denen der Weimarer Zeit nicht vergleichbar sind – und umgekehrt! (Allenfalls die Entwertung der Arbeit ist vielleicht ein Überschneidungspunkt)

Wozu Weimars Beispiel weiter anhalten sollte sind allgemeine Wachsamkeit und die Bereitschaft im Ernstfall gemeinsam gegen extreme Positionen einzutreten. Auch wenn in Deutschland ein »Rechtsruck« spürbar ist, sind die Auswüchse derzeit weniger destabilisierend für das politische Gefüge als in vielen anderen europäischen Nationen – eben auch weil Weimar und seine Folgen bekannt sind. Es muss nun darum gehen, die Konflikte zu lösen und die Themen anzugehen, mit denen die Populisten derzeit noch ihren Wählerfang betreiben. Die Bühne, auf der das geschieht, bietet sich heute besser dar, als einst in Weimar.

„Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine langetablierte Tradition. Sie definiert sich nicht über machtstaatliche Ansprüche, weder nach innen noch nach außen, sondern ist geprägt von der verheerenden Erfahrung von Diktatur, Krieg und Verbrechen.“

Zu “50 Klassiker Römische Antike”, einem gelungenen Who is Who des antiken Rom


“Sogar in der Tagespolitik spielt das antike Rom noch immer eine Rolle. So wird häufig die Frage diskutiert, ob die Weltmacht USA eine ähnliche Entwicklung durchläuft wie seinerseits das römische Imperiums: Ist damit zu rechnen, dass auch das amerikanische Weltreich mit einer demokratischen Staatsform nicht dauerhaft und effizient zu regieren ist, und wird sich aus der amerikanischen Demokratie möglicherweise, wie damals in Rom, allmählich eine Aristokratie, also die Herrschaft nur weniger Dynastien und Familien, oder gar eine Monarchie entwickeln?”

ACHTUNG: SPOILER!

Hätten Sie gewusst, dass Aeneas nur die zweite Wahl beim Herkunftsmythos der Römer war? Dass Ovids Flirtratgeber “ars amatoria” auch heute noch eine verlockende Lektüre ist? Dass der erste Film von Terence Hill und Bud Spencer “Hannibal” hieß? Dass viele der uns bekannten Komödien, die Shakespeare, Moliere und Kleist schrieben, auf Werke des Stückeschreibers Plautus zurückgehen? Dass wir dem literarischen Erfindungsgeist des Cicero Worte wie “moralisch” oder “Qualität” verdanken? Dass eines der frühsten Gedichte von Vergil eine Schnacke besingt, die einen Hirten sticht, um ihn vor einer Schlange zu warnen, der dann aber reflexartig die Schnacke erschlägt, sodass sie ihm später in der Nacht erscheint und ihn tadelt?

Als ich mich in meiner Schulzeit für Geschichte begeisterte (vor allem für die Geschichte der Antike), lieferten die meisten Schulbücher bald nicht mehr genug Stoff – vor allem, weil die faszinierenden Randfiguren des Geschehens oft mit ein paar Sätzen abgekanzelt wurden; außer Caesar, Marcus Antonius und Augustus war da nicht viel. Aber auch die populären Buchreihen wie “Was ist Was” oder die vielen historischen Zeitschriften kauten meist nur dieselben Informationen wieder oder verloren sich in uninteressanten Details. Dementsprechend war ich sehr skeptisch, ob sich dieses Trauma meiner Jugend mit “50 Klassiker Römische Antike” nicht wiederholen würde.

Aber: ganz im Gegenteil. Das Buch ist nicht nur durchweg unterhaltsam und hält eine Fülle an anschaulichen Darstellungen und Informationen bereit, es betrachtet auch jeden der angeführten Charaktere unter eigenen Gesichtspunkten, weist die Verknüpfungen untereinander aus, berichtet im Rahmen seiner Möglichkeiten genauestens von den besonderen Ausprägungen, die gerade diese Person so wichtig für die römische Geschichte machen.

Architekten, Feldherren, Philosophen, Dichter, Kaisergattinen, Kaiser, Senatoren, Redner, Propheten, sie alle werden auf 3-4 Seiten essayistisch vorgestellt, dann folgt noch ein biographischer Abriss und eine Werkbeschreibung oder eine Trivia + Tipps für zusätzliche Lektüren und andere Informationsquellen zu der betreffenden Person. Sollte in keinem Bücherschrank fehlen; so kompakt und gut wird man Rom und seine Sternstunden wohl nirgends erleben können.