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Die Frauen in der Revolte


Schon im Vorwort macht die Autorin Valentina Grande klar, dass der Titel ihres (und Eva Rossettis) Comicbandes natürlich nicht enzyklopädisch gemeint ist und Frauen, die die Kunst revolutioniert haben keinen Anspruch auf vollständig erhebt. Die vier Kapitel des Bandes sollen ein möglichst anschaulichen Einblick in die Welt der feministischen Kunst und ihre Akteurinnen liefern und deren Anteil an der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts würdigen und bekannter machen.

Im Zentrum der Kapitel stehen die Künstlerinnen Judy Chicago, Faith Ringgold, Ana Mendieta und die Guerrilla Girls, eine Gruppe von anonymen Künstlerinnen und Aktivistinnen. Allerdings wird in den einzelnen Lebensgeschichten auch Bezug auf andere bekannte Künstlerinnen Bezug genommen (bspw. Miriam Schapiro, Marina Abramovic, Yoko Ono, Georgia O’Keeffe oder Eva Hesse; hinten im Buch gibt es dann noch eine Portraitliste). Meist greift Grande ein paar zentrale Augenblicke im Leben der Frauen heraus und entfaltet von dort ein kleines Panorama ihres Wirkens. Dabei geht es auch um verschiedene Aspekte, von Körper über Rassismus, Identität bis zu der Frage von Repräsentation.



Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen enttäuscht war von den einzelnen Darstellungen der Lebens- und Werkgeschichten, die mir wie Abrisse und nicht wie echte Auseinandersetzungen erscheinen. Der grafische Teil ist dagegen in jeder Hinsicht schön gestaltet und die Informationen, die man erhält, sind wohl auch mehr als Einstieg in eine tiefere Auseinandersetzung gedacht. Trotzdem finde ich, dass das Buch leider nicht wirklich den Tatbestand der Graphic Novel erfüllt. Eine treffendere Bezeichnung wäre vielleicht Short Cuts oder etwas in der Art gewesen.

Abseits dieser Kritik bin ich natürlich sehr froh, dass es dieses Buch gibt und gerade als Anstoß zur weiteren Beschäftigung ist es zu empfehlen – und als Würdigung der Künstlerinnen ohnehin eine feine Sache. Ich lege das Buch also allen ans Herz, die auf feministische Kunst aufmerksam werden oder eine schön gestaltete Hommage an einige Vertreterinnen bei sich im Bücherschrank haben wollen.

Zu “Träumer” von Volker Weidermann


Träumer Noch kurz vor dem offiziellen Ende des 1. Weltkrieges ruft Kurt Eisner den Freistaat Bayern aus – ein Ereignis, nicht unähnlich der Proklamation der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann 2 Tage darauf und doch in mancherlei Hinsicht ein Gegenentwurf. Die Königsdynastie wird verjagt, Wahlen angesetzt, alle Weichen sind gestellt für utopische Zeiten, für Gerechtigkeit und Frieden – doch stattdessen wird München fast ein halbes Jahr in den Ausnahmezustand versetzt …

“Das Buch der verbrannten Bücher”, in dem Volker Weidermann die Lebensgeschichten aller Autor*innen erzählt, die bei den Bücherverbrennungen der Nazis auf den Scheiterhaufen landeten, gehörte für mich zu den fesselndsten Lektüren der letzten Jahre. Auch in dem Buch “Träumer” hat sich Weidermann mit verdrängten Kapiteln deutscher Geschichte beschäftigt: der Revolution (oder eher: den Revolutionen) 1918/1919 in München, aus der zunächst der Freistaat Bayern und später eine Räterepublik hervorgingen, beide kurzlebig, aber voll spektakulärer Entwicklungen und Ideen.

So zumindest inszeniert Weidermann diese Zeit: als Spektakel. Als gesellschaftlich-politischen Einschnitt, historischen Hexenkessel, voller großer Namen und Figuren. Als Dreh- und Angelpunkt der Zeitenwende. Und dann auch noch der Untertitel: Als die Dichter die Macht übernahmen.

Das ist natürlich nicht alles nur heiße Luft, denn in der Tat ist diese Revolution nicht nur im Zuge des Nachkriegschaos von Bedeutung, sondern ein in vielerlei Hinsicht ein bedeutendes historisches Ereignis, dessen ersichtliche Auswirkungen letztlich gering waren, dessen Potenzial und vielfältiges Angesicht aber, das macht Weidermann deutlich, eine fast schon erschreckend umfassende Studie des Zeitgeistes ermöglichen.

Dennoch ist der Untertitel ein bisschen hochgegriffen. Zwar waren sowohl Kurt Eisner und Ernst Toller Schriftsteller und ein Großteil der damaligen Münchener Intellektuellen nahm (manchmal notgedrungen, wie Thomas Mann, manchmal mit Feuereifer, wie etwa Oskar Maria Graf) Anteil am revolutionären Geschehen und es wurden viele progressive Ideen von Literat*innen befeuert, dennoch ist die Zeit im hohen Maße von politischen Lagern geprägt und nicht von künstlerischen Vorstellungen. Das weiß Weidermann wiederum gut darzustellen: Wie die hochfliegenden, liberalen Ideen der Intellektuellen von der Unbedingtheit der politischen Weltanschauungen niedergedrückt werden.

Neben der Darstellung des Revolutionsverlaufs schweift Weidermann immer wieder geschickt in literarische Welten ab, zu Thomas Mann, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke und anderen Gestalten und Werken, wie etwa Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. Er bettet sie zwar ein in den Kosmos der Revolution, es entsteht aber trotzdem der Eindruck, Weidermann hätte liebend gern ein Buch wie Florian Illies „1913“ geschrieben und sich vor allem auf die künstlerischen Verstrickungen und deren Lebenswelten konzentriert.

Dennoch macht er auch in Sachen Revolution seine Sache nicht schlecht. Was die Räterepublik angeht, möchte ich hier am Rande das Buch “Die Erfindung des Rußn” von Daniel Bayerstorfer und Tobias Roth empfehlen (erschienen beim Aphaia Verlag, 2018), das eine wunderbare Ergänzung zu Weidermanns Ausführungen darstellt.

Zu den Schriften von Olympe de Gouges in “Die Rechte der Frau und andere Texte”


Die Rechte der Frau Olympe de Gouges (mit bürgerlichem Namen Marie Gouze) war eine Theaterautorin der Aufklärung und Feministin der ersten Stunde, die sich in den bewegten Zeiten vor und während der französischen Revolution für die Gleichheit aller Menschen (sowohl in Bezug auf Frauen als auch auf afroamerikanische Sklaven) einsetzte.

In dieser kleinen Edition ihrer Texte im Reclam Verlag wurden vier Texte versammelt. Den Anfang machen die „Réflexions sur les hommes Nègres“. Darin setzt sich de Gouges mit der Kritik an ihrem Theaterstück „Zamore et Miza“ (ein Stück über die Konsequenzen der Sklaverei am Beispiel zweier Sklaven) auseinander, begründet ihre Aversionen gegenüber der Sklaverei und verleiht ihrer Überzeugung Ausdruck, dass eine Befreiung und Gleichberechtigung der Sklaven*innen die einzig vernünftige und richtige Handlung darstellt.

Sie beschreibt, wie sie schon früh an der Sklaverei zu zweifeln begann und wie ihr die Verdammung aufgrund der Hautfarbe stets unsinnig erschien; ihre Mitmenschen beantworteten ihre Zweifel mit pauschaler Rassenlogik.

Doch als ich älter wurde, erkannte ich sehr deutlich, dass es Gewalt und Vorurteil waren, die sie zu dieser schrecklichen Sklaverei verdammt hatten, dass die Natur hieran keinen Anteil hatte, und alles nur auf das ungerechte und mächtige Interesse der Weißen zurückzuführen war. […] Ein Handel mit Menschen! … Gütiger Gott! Dass die Natur nicht erzittert! Wenn sie Tiere sind, sind wir es nicht ebenso wie sie?

Der zweite Text „Ein nützliches und heilsames Projekt“ beschäftigt sich mit dem Theater in der Revolutionszeit und ist außerdem ein Aufruf zur Einrichtung von Frauenhäusern. De Gouges beklagt, dass, obgleich es zahlreiche Einrichtungen für Kriegsversehrte und andere Gruppen gibt, keine Einrichtungen allein für Frauen, vor allem für Schwangere, zur Verfügung stehen, in denen Sauberkeit und professionelle Betreuung eine Geburt ermöglichen, die für die Frau nicht das hohe Risiko des Kindbetttods bereithält. Es ist, über diesen konkreten Vorschlag hinaus, generell ein Aufruf zur Würdigung des gesellschaftlichen Beitrags der Frau und zur Beschäftigung mit ihrer Lage.

Oh, Bürger! Oh, Monarch! Oh, meine Nation! Möge meine schwache Stimme im Grunde eurer Herzen wiederhallen! Möge sie euch dazu bewegen, das bedauerliche Schicksal der Frauen anzuerkennen. […] Welche zahllosen Schmerzen erleiden die jungen Damen, bis sie heiratsfähig sind? Welche furchtbaren Qualen empfinden die Frauen, wenn sie Mütter werden? Und wie viele von ihnen verlieren dabei ihr Leben […] oft sieht man junge Frauen, die, nachdem sie Tag und Nacht unter heftigen Schmerzen gelitten haben, in den Armen ihrer Geburtshelfer verscheiden, um im Sterben Männern das Leben zu schenken, von denen sich bis zu diesem Augenblick niemand ernsthaft darum bemüht hat, auch nur das geringste Interesse an diesem allzu unglücklichen Geschlecht zu bekunden, für all die Qualen, die sie ihm verursacht haben.

Der zentrale und längste Text der Sammlung ist die Schrift „Die Rechte der Frau“, der ein Brief an Marie Antoinette vorangestellt ist (mit der Bitte, nicht gegen das französische Volk zu konspirieren und sich lieber für die Rechte der Frauen einzusetzen) und die sowohl einen Rechtekatalog, als auch den Entwurf eines Gesellschaftsvertrages zwischen Mann und Frau beinhaltet.

In den Rechten heißt im Artikel 1:

Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

Abschließender Text ist de Gouges politisches Testament, in dem sie ihre wichtigsten Überzeugungen noch einmal festhält, geschrieben im Juli 1793, wenige Monate vor ihrem Tod durch die Guillotine.

Es fehlt mir schwer, das Buch zu bewerten. Natürlich ist es ungemein wichtig, eine Vorläuferin und Initiatorin wie Olympe de Gouges zu ehren und ihrem Namen und ihren Schriften den Platz in der Geschichte zu geben, der ihnen gebührt. Und sieht man sie in ihrer Zeit, sind diese Schriften allesamt auf gewisse Weise bahnbrechend.

Trotzdem möchte ich eine Warnung an jene Leute aussprechen, die sich von diesen Texten möglicherweise zu viel erhoffen. Es sind wichtige Dokumente, die starke Gedanken enthalten, sie sind aber ansonsten nicht ganz so gut gealtert. Das mag allerdings auch daran liegen, dass sie innerhalb von historisch-brisanten Kontexten entstanden sind und sowohl das Zeitgeschehen, als auch allgemeine Themen in einem Zusammenhang verhandeln wollten. Diese Verbindung hat ja durchaus etwas Reizvolles, aber die Leser*innen unserer Tage müssen sich das Allgemeine halt aus dem Historischen herauspicken.

Das Nachwort von Margarete Stokowski ist hier eine Hilfe, denn es bringt das Wesentliche und Wichtige in De Gouges Biographie und Werken auf den Punkt, ohne falschen Flair. Als Denkerin sollte De Gouges in jedem Fall allen ein Begriff sein und es schadet sicher nicht, sich mit ihr und ihren Schriften auseinanderzusetzen. Einige ihrer Rufe hallen nach bis in unsere Tage.

Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; du wirst ihr wenigstens dieses Recht nicht nehmen. Sag mir, wer hat dir die souveräne Herrschaft verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?

Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”


Maschenka

Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.

Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.

Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.

Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.

Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.

Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.

Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.

Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.

Zu Wilfried Loths “Fast eine Revolution”


Fast eine Revolution Eine Behauptung, die bereits auf den ersten Seiten des Buches vorkommt, könnte man geradezu irritierend nennen: Frankreich, die Revolutionsnation, war diesmal spät dran. Während in Deutschland, den USA und vielen anderen Ländern aus den unterschiedlichsten Gründen bereits seit 1966 Studierendenproteste stattfanden und der Clash zwischen den Generation klar zutage trat, war es in Frankreich bis zu den Ereignissen vom Mai 1968 verhältnismäßig ruhig. Frankreich, ein Land der engagierten Literatur und einiger der größten Philosophen von Freiheit, Zwang und Selbstbestimmtheit, auch noch im 20. Jahrhundert, war ein Nachzügler bei diesem bis heute nachhallenden Generationenbruch.

Dafür gibt es einige Gründe, die der Autor anfangs auf gekonnte Weise kurz umreißt. Ein Grund ist sicher, dass Frankreichs Politikergarde und Frankreichs Intellektuelle lange Zeit die Diskussion dominierten; ein anderer die große Stabilität und Prosperität.
Obwohl Frankreich ein Nachzügler war: der französische Mai 1968 war einer der prägendsten Umbrüche in den europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, ist bis heute mit vielen Mythen umwoben und die Wurzel vieler unterschiedlichster Entwicklungen, Bewegungen und Karrieren. Immerhin führte diese “Fast-Revolution” zu einem landesweiten Generalstreik, ein Ereignis, das in diesem Umfang in Friedenszeiten bisher selten verzeichnet wurde.

Wilfried Loth liefert mit seinem Buch nicht nur eine Übersicht und Chronik, sowie eine Analyse der Maitage, ihrer Akteure und des Verlaufs, sondern entziffert vor allem den Mythos des Mai 68. Ähnlich wie bei anderen Revolution (und allgemein bei großen gesellschaftlichen Ereignissen, die als Fixpunkte einer gesellschaftlichen Veränderung gelten) ist auch hier der Mythos viel glatter als die Summe der komplex motivierten, widersprüchlichen und teilweise eher willkürlich als geplant verlaufenden roten Fäden, die das Muster der tatsächlichen Ereignisse geben.

Genau dies aufzudecken und fesselnd und informativ zu schildern, gelingt Loth sehr gut, präzise, ohne falsche Eitelkeiten und, erfreulicherweise, ohne größere Lücken, die oft in Büchern vorkommen, deren Autor*innen man anmerkt, dass sie vor allem von einem Aspekt, einer Interpretation besessen sind, was dazu führt, dass die Umsicht und der Fokus auf eine anschaulich-ausbalancierte Darstellung auf der Strecke bleiben. Nicht so bei Loth, der ein lesenswertes Buch über einen Augenblick in der Geschichte geschrieben hat, den immer noch, selbst entzaubert, ein Hauch von inspirierendem Klang umweht, 50 Jahre später.

68 mag Geschichte sein, die Faszination ausgewaschen von endlosen Fußnoten, Korrekturen, Widerrufen. Aber dieses Buch zeigt auch, dass, obgleich es eben keine einheitliche Bewegung oder dergleichen gab, das revolutionäre Potenzial der vielfältigen Ideen dieser Tage, sowie der Mut, die Courage oder der schlichte Versuch dafür einzustehen, wichtig waren für die Gesellschaften, in denen wir heute leben – und vielleicht kommt man beim Nachdenken über diese vergangenen Zustände und Aufstände darauf, dass auch unsere Gesellschaften in bestimmten Punkten eine friedliche, engagierte Revolution (oder zumindest Reformation) bitter nötig hätten.

Zu Hannah Arendts Vortrag über Revolution, Privilegien und die “Freiheit, frei zu sein”


Die Freiheit frei zu sein „Wie jeder andere Begriff unseres politischen Wortschatzes lässt sich auch der der Revolution in generischem Sinne verwenden, ohne dass man dabei die Herkunft des Wortes oder den zeitlichen Moment berücksichtigt, an dem der Terminus erstmals auf ein bestimmtes politisches Phänomen Anwendung fand.“

Die erste (als solche bezeichnete) Revolution (auch in Abgrenzung zu einer Revolte/einem Putsch (z.B.: des Militärs, des Heeres) oder eines Aufstand (regional und/oder zunftbezogen)) war tatsächlich eine konservative, eine Restauration sozusagen, und führte 1660 in England die Monarchie wieder ein. Aber dies nur als bedenklicher Fun-Fact am Rande.

In Hannah Arendts 1967 gehaltener Rede, die im Umfeld ihres Buches „On Revolution/Über die Revolution“ entstand, geht es nämlich um weitaus mehr, als um eine bloße Auseinandersetzung mit dem Begriff der Revolution – vielmehr um eine Auseinandersetzung mit den Begriffen, die das erklärte Ziel der meisten (wenn nicht aller) Revolutionen sind: das Ende von Unterdrückung, also Befreiung, und das Schaffen besserer, uneingeschränkterer Möglichkeiten der Lebensführung, also Freiheit.

„Kompliziert wird es dann, wenn es der Revolution um Befreiung und Freiheit geht, und da Befreiung ja tatsächlich eine Bedingung für Freiheit ist – wenngleich Freiheit keineswegs zwangsläufig das Ergebnis von Befreiung ist –, ist es schwer, zu entscheiden, wo der Wunsch nach Befreiung, also frei zu sein von Unterdrückung, endet und der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt.“

Dass zwischen dem Wunsch nach Befreiung und der Forderung nach Freiheit kein Unterschied besteht, ist ein oft unterschätztes Missverständnis. Dass der Akt der Befreiung oft vorschnell mit einem Akt zur Schaffung der Freiheit gleichgesetzt wird, ist spätestens seit der russischen Revolution ein trauriges Faktum (und, was bereits aus der frz. Revolution zu lernen gewesen wäre, sich aber auch in der russischen Revolution wieder zeigte: das große Autoritäts- und Machtvakuum, welches Revolutionen hinterlassen, wird oft von neuen, nicht minder starken Autoritäts- und Machtstrukturen besetzt; das Dilemma: am Ende werden nur die Privilegien verschoben, vielleicht etwas breiter verteilt, aber selten aufgeweicht oder gar abgeschafft.)

Ein anderer wichtiger Punkt, den Arendt hervorhebt: Revolutionen gelingen nicht in Staaten und Systemen, in denen das Autoritätsgefüge noch intakt und stark ist (einer der Gründe, könnte man spekulieren, warum im Dritten Reich oder im sowjetischen Russland keine Revolution stattfand). Eine große Unzufriedenheit, nicht nur des „Volkes“, sondern auch der privilegierten Gesellschaftsschichten, ist notwendig; eine klar aufscheinende Differenz zwischen der eingenommenen Machtposition und der tatsächlichen Macht der Herrschenden.

„Revolutionen sind keine notwendige, sondern eine mögliche Antwort auf den Niedergang eines Regimes, sie sind nicht Ursache, sondern Folge des Verfalls politischer Autorität.“

Natürlich gibt es einige Revolution, die Arendt nicht erlebte – nicht nur den arabischen Frühling, auf den das Problem des Machtvakuums sicher zutrifft, sondern z.B. auch die friedliche iranische Revolution. Vielleich hätten diese ihren Blick auf einige Aspekte des Phänomens, die bis hierhin angesprochen wurden, geändert.

Wenig bis gar nicht verändert hätten diese Ereignisse wohl ihre Betrachtungen und Erkenntnisse, auf die sie im Folgenden zu sprechen kommt und die um die Problematik von der Vorstellung des Revolutionären kreisen, aber auch um die ganz konkrete Frage: was will eine Revolution denn eigentlich? Was kann sie erreichen, inwiefern ist sie wünschenswert? Und inwiefern kann mit ihr die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse angestrebt werden? (Werden nur die Karten neu gemischt oder werden sie auch fairer verteilt?)

„Eine der wichtigsten Konsequenzen der Revolution in Frankreich war es, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte le peuple [das Volk] auf die Straßen brachte und sichtbar machte. Als das geschah, stellte sich heraus, dass nicht nur die Freiheit, sondern auch die Freiheit, frei zu sein, stets nur das Privileg einiger weniger gewesen war.“

Albert Camus schrieb einmal in seinen Cahiers, dass die gesamte dokumentierte Menschheitsgeschichte, seit der Gründung der ersten Staaten mit größeren Gesellschaften, letztlich nichts anderes als eine Geschichte des Kampfes um Privilegien sei. Denn Privilegien sind letztlich alles: sie entscheiden über die Möglichkeiten, die uns offenstehen, über unseren Zugriff auf natürliche Ressourcen und fremde Dienstleistungen, über unseren Zugang zu Räumen, in denen wir uns entfalten können.

Da wir auf einer Welt mit begrenzten Ressourcen leben, sind zwei Möglichkeiten denkbar, diese Privilegien zu verteilen: 1. Es wird allen der gleiche Lebensstandard ermöglicht, der dem entspricht, was der Planet an Belastung verträgt und wir an Ressourcen zur Verfügung haben. Das ist eine theoretische, sehr utopische (und von vielen nur als scheinbar-gerecht bezeichnete) Idee, bei der viele Möglichkeiten ausgeklammert bleiben.
Die 2. Möglichkeit (die natürlich sehr unterschiedlich angelegt und ausgeführt werden kann) ist die vom Menschen praktizierte: Hierarchische Systeme, in denen die Anzahl der Privilegien theoretisch mit der Schwere der Pflichten, der Verantwortung, der Arbeit und der Bedeutung dieser Arbeit steigen, während dafür gesorgt wird, dass alle Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit, die aber in den meisten Fällen noch nichts mit Freiheit zu tun hat, genießen (das letzte Wort ist durchaus euphemistisch zu verstehen).

Ganz abgesehen davon, dass sich Privilegien (und mit ihnen die Machtverhältnisse) in diesen Systemen schnell zementieren & in den seltensten Fällen flexibel gehandhabt werden und allgemein Korruption und andere Phänomene die Idee des Ganzen sabotieren, ist die genaue Ausformung dieser hierarchischen Modelle schon seit den Tagen der Athener Demokratie Gegenstand von kritischen Auseinandersetzungen. Revolutionen wurden spätestens im 18. Jahrhundert zu der Tat, die einem allzu deutlichen Missstand innerhalb der hierarchischen Verhältnissen folgen sollte/konnte (auch wenn die Akzeptanz des Modells an sich zwar oft infrage gestellt, aber nie wirklich verworfen wurde und wird).

„Ein Vergleich der ersten beiden Revolutionen [amerikanische und französische], deren Anfänge so ähnlich und deren Enden so ungeheuer unterschiedlich waren, zeigt, so glaube ich, in aller Deutlichkeit nicht nur, dass die Überwindung der Armut eine Voraussetzung für die Begründung der Freiheit ist, sondern auch, dass die Befreiung von der Armut etwas anderes ist als die Befreiung von politischer Unterdrückung.“

Solange jemand herrscht und sei es auch eine gewählte Regierung, wird es das Problem des Privilegs geben – warum wohl ist Fremdenfeindlichkeit ein so großes Problem, warum senken Staaten den Spitzensteuersatz, warum ist den Emanzipationsbewegungen von unterdrückten Bevölkerungsgruppen und gesellschaftlichen Minderheiten oft ein so steiniger Weg beschieden? Weil die Menschen, die viele Privilegien haben, sehr gut wissen, dass sie diese in einer freieren und gerechteren Welt teilweise abgeben müssten.

„Herrschaft bezog ihre größte Legitimation nicht aus Machtstreben, sondern aus dem menschlichen Wunsch, die Menschheit von den Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren; um das zu erreichen, bedurfte es der Gewalt, der Zwangsmittel, damit viele die Last der wenigen trugen, sodass zumindest einige frei sein konnten. Das – und nicht die Anhäufung von Reichtum – war der Kern der Sklaverei, zumindest in der Antike, und es ist lediglich dem Aufkommen moderner Technik und nicht irgendwelchen modernen politischen Vorstellungen, darunter auch revolutionären Ideen, geschuldet, dass sich diese Situation der Menschen zumindest in einigen Teilen der Welt geändert hat.“

Wollen wir und können wir diese Dynamik, diese Systematik ändern? Ist Revolution das Mittel gegen die Hierarchien? Hannah Arendt öffnet in dieser kurzen Rede, in der sie sehr viele kluge, erhellende – und vielleicht ein-zwei vorschnelle – Definitionen und Erklärungen anbringt, ein weites Feld. Und stößt uns, wie es ihre Art ist, gleichsam in unbequeme Wahrheiten und erstaunliche Betrachtungsweisen. Obgleich mittlerweile 50 Jahre alt, ist dieser Text nicht nur lesenswert, sondern fast schon so etwas wie das Musterbeispiel einer Einführung in das Nachdenken über das Phänomen der Revolution, des Revolutionären, jenseits des Westentaschenhistorischen und der Romantisierung – ohne, und das ist besonders bemerkenswert und schön, dass Arendt darin abschließend festlegt, was eine Revolution sein kann und wie, man von ihren Gedanken aus gesehen, weiter damit umgehen sollte.

Das sollte ein Anstoß für unsere Generation sein, darüber nachdenken, ob die Revolution nicht eine Idee ist, die es gerade in unseren Zeiten neu zu erfinden gilt. Die 68er Bewegungen waren teilweise ein erster Schritt in diese Richtung, ein teilweise ungelenker. Fest steht, dass die Mächtigen, die „Herren der Welt“ wie Noam Chomsky sie nennt, wenig Interesse daran haben, den Status Quo zu ändern und die derzeitige Verteilung der Privilegien weltweit, zu überdenken. Vielleicht könnte man sich darauf besinnen, dass sie in der Minderheit sind. Und das Revolution, friedlich und im Bewusstsein von Verantwortung und Gerechtigkeit, nach wie vor eine Option ist – solange man auch aus der Geschichte lernt, was mit diesem Text von Hannah Arendt um einiges leichter sein sollte.

Das letzte Wort erhält Konstantin Wecker:

„Ach pfeifen wir auf alles, was man uns verspricht,
auf den Gehorsam, auf die sogenannte Pflicht,
was wir woll´n ist kein Reförmchen und kein höh´rer Lohn,
was wir woll´n ist eine
REVOLUTION!“

Zu “Giuseppe Mazzini” von Eva Wegensteiner-Prull


Giuseppe Mazzini “Es ist mir ein Bedürfnis über diesen Mann in seiner schicksals-schweren Zeit zu schreiben. Es soll keine wissenschaftliche Abhandlung und kein reines Geschichtswerk sein, von denen es zumindest in italienischer Sprache genügend gibt.”

Stattdessen soll es um das “abenteuerliche Leben” von Giuseppe Mazzini & dessen Stationen und immer wieder um seine Liebe zum Menschen, zur Literatur und zur Einheit Italiens gehen – ein durch und durch geglücktes Unternehmen, wenn man auch hier und da den Eindruck hat, dass die Geschichte in manchen Episoden allzu schnell vorbeisaust, was bei einem Buch diesen Umfangs aber unvermeidlich ist. Die Begeisterung, die Eva Wegensteiner-Prull dabei anbringt, entschädigt für vieles und erinnert in Teilen an die fast schon hautnahen und zutiefst humanistisch-emotionalen Geschichtswerke von Stefan Zweig (wie etwa “Castellio gegen Calvin” oder “Joseph Fouché”).

Als einziges Manko ließe sich anführen, dass das Buch sehr unkritisch gegenüber seinem Objekt, der Person Mazzinis, ist – was aber wiederum nicht zu stark ins Gewicht fällt, da es erstens die erklärte Absicht des Textes ist, die Vision Mazzinis und sein Leben, nicht aber dezidiert seine Erfolge und Verfehlungen zu beschreiben und auch keine kritische Biographie angestrebt wird, und zweitens da Mazzinis Lebensweg anscheinend wenig Beanstandenswertes enthält, zumindest was seine politischen Lösungen und Taten angeht. Gerade bei Freiheitskämpfer*innen wird das Pathos ja schon mal gerne weit entfernt vom Ethos aufgebaut. Bei Mazzini scheint dies selten der Fall gewesen zu sein, auch wenn er durchaus daran glaubte, dass man für die Freiheit kämpfen und also auch töten muss.

Ich habe dies kleine Büchlein, das schön, aber zumeist zweckdienlich und nicht übermäßig, illustriert ist (zum Beispiel mit einer Landkarte Italiens anno 1815, Portaits, etc.) gern gelesen und war teilweise überrascht, dass mir der Name Mazzini bisher kein Begriff war, trotz all seiner Schriften und Ideen. Einiges von dem, was er schrieb, weist ihn als einen der frühsten Vordenker eines Europas der verbündeten Nationalstaaten aus – eine Idee, die noch die Feuer zweier Weltkriege brauchte, um aus dem Schatten jahrhundertelanger Rivalitäten und Herrschaftsansprüche zu treten.
Die Entbehrungen, die er zu Lebzeiten ertragen musste, sind zwar nichts Neues in den leidensreichen Breiten der Geschichte, wo oft die engagierten Menschen in ungemütlichen Unterschlüpfen ausharren müssen, aber sie rühren doch im Angesicht seines Glaubens an seine hehren Ziele.

Alles in allem ersetzt dieses Buch selbstverständlich keine Biographie, dafür gelingt ihm gekonnt eine Illumination der Person Mazzinis. Lesenswert!

Zu Patrick Devilles “Viva”


Im Zentrum des sich drehenden Kosmos in Patrick Devilles Roman, der sich mitunter wie eine anekdotische Wanderung durch Geschichtsbücher und biographische Landschaften anfühlt, stehen vor allem übergroße, leicht geheimnisvolle Figuren wie Leon Trotzki, Arthur Cravan, Frida Kahlo, Malcolm Lowry oder B. Traven. Sie sind so etwas wie Außenseiter in ihren Disziplinen und doch Personen mit maßgeblichem Einfluss – und vor allem: es umgibt sie ein Mythos. In einem rasanten Karussell aus Orten und Verflechtungen, Rückblicken und situativen Verdichtungen, lässt Deville den Quell ihres Lebens und Denkens, ihrer Seele, vor den Augen der Lesenden aufsprudeln und wieder in sich zusammen fallen.

Die Stärke des Buches liegt in der leicht unberechenbaren Dynamik, mit der es seine Perspektiven und Schauplätze wechselt und dabei teilweise die assoziative Sprunghaftigkeit der Erinnerung und teilweise die historischen Abläufe für die Bewegung des Textes einbindet. So entsteht ein flirrendes Bild der geschichtlichen Prozesse und eine lebhafte Darstellung der Figurenschicksale, die zeigt, wie die einzelnen Individuen – abseits der neutralen, historischen Perspektive – von den Wellen der Ereignisse hin und hergeworfen werden; und alle nur einen Ort suchen, an dem sie die Gezeiten und Unwetter nicht so hart treffen können, an denen Ruhe vor dem Sturm herrscht. Und doch begeben sie sich auch immer wieder in den Sturm hinein. Im Sturm sind sie schließlich auch lebendig. Aber vielleicht auch nicht mehr lange am Leben.

Mexiko ist der Ort, an den sich einige von ihnen flüchten. Ein Leben wartet hier, vielleicht. Während in Russland und anderen Teilen der Welt Bürgerkriege toben und ein weiterer Weltkrieg sich ankündigt und die Welt schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zur Ruhe kommt, sind es die vielfach in die bisherigen historischen Zusammenhänge Eingebundenen, die ihnen jetzt kaum mehr entgehen können. Letztlich zeigt dieser Roman vor allem das Brodelnde, das in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts steckte. Man konnte immer im Zentrum des Geschehens sein, wenn man wollte, den Geschehen gab es genug, aber es gab auch noch die Hoffnung, die Idee, dass das Leben fernab des alleszerfressenden Trubels der Revolutionen, Kriege und Abenteuer möglich sein könnte. Zwischen diesen kleinen Hoffnungen und den großen Umbrüchen pendelt das Narrativ dieses Buchs.