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Zu Julian Barnes “Der Lärm der Zeit”
Julian Barnes beste Romane, zu denen auch “Der Lärm der Zeit” zählt, sind oft eigenwillige Kompositionen. Man merkt ihnen aber an, dass es Barnes dabei nicht um Formexperimente geht, sondern darum eine Geschichte genau auf die Art und Weise zu erzählen, die die wesentlichen Motive und Stimmungen, die hervorgehoben werden sollen, am besten trägt und für die Lesenden greifbar macht.
In “Der Lärm der Zeit” ist diese Form ein Gedankenstrom, ein Monolog, der einen sprunghaften, anknüpfenden und wabernden Erinnerungsprozesses simuliert. Der sich da erinnert, war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Von drei Zeitpunkten ausgehend, werden seine Lebens- und Gedankenwelten vor uns ausgebreitet, immer wieder von wiederkehrenden, variierten Motiven durchzogen, wie bei einem Musikstück.
Das erste Mal: 1936 – gerade ist Schostakowitsch beim Regime um Stalin in Ungnade gefallen und rechnet jeden Moment mit seiner Verhaftung, weshalb er mit gepackten Koffern beim Fahrstuhl auf die Beamten wartet, Nacht für Nacht. Es geht um seine erste Oper, die in der größten russischen Zeitung verhöhnt und als westlich-dekadent gebrandmarkt wurde. Er droht dem Wahn der Denunziation und den großen Säuberungen Stalins zum Opfer zu fallen
Das zweite Mal: 1948 – nach dem großen Krieg und seiner Etablierung in der UdSSR kehrt er gerade aus den USA von einer Friedenskonferenz zurück. Er ist wiederum teilweise in Ungnade gefallen, sein Name ist von der Partei und dem Regime nie gänzlich reingewaschen worden. Er fürchtet, dass alles wieder von vorne beginnt, weiß immer noch nicht, wie er sich gegen das Regime wehren soll.
Das dritte Kapitel erstreckt sich dann nicht wie die vorangegangen hauptsächlich rückwärts, sondern von 1960 bis zu seinem Tod.
In allen Kapiteln sind die gewählten Momente und die räumlichen Festlegungen (das erste Kapitel heißt “Auf der Treppe”, das zweite “Im Flugzeug”, das dritte “Im Auto”) nur Ausgangspunkte für die Rückschau auf die vor den Kapiteln liegenden Jahre und die Schilderungen der Verstrickungen und Auseinandersetzungen zwischen Schostakowitsch und dem jeweiligen sowjetischen Regime. Er will vor allem Musik machen, muss sich aber immer vor den jeweiligen Herrschenden verantworten, wird von ihnen gefordert, bedroht, gehätschelt oder getadelt. Ständig lebt er mit dem Rücken zum Abgrund.
Barnes Roman ist das meisterhafte Porträt eines Künstlers in den schwierigen Wassern des 20. Jahrhunderts. Mit Schostakowitsch hat er sich dabei einen Charakter, einen Menschen ausgesucht, der weder ein großer Dissident, noch Anhänger einer Ideologie oder Politik war. Er war auch kein klassischer Mitläufer und kein unbequemer Geist im eigenen Haus. Das Buch zeigt auf, wie die jeweilige politische Macht sein Leben bestimmt und wie er versucht, zumindest seine Liebsten, zumindest seine Integrität und am Ende zumindest seine Musik zu retten. Er wird nicht ermordet, nicht eingesperrt, nie wirklich angegangen. Aber Stück für Stück zermürbt das System auch ihn, begleitet ihn zumindest immer, egal wo er hingeht. Er, der als Mensch gern der Musik gehören würde, seinen eigenen Gefühlen, den Menschen, denen er sich anvertrauen, mit denen er zusammen sein will, gehört doch letztlich immer dem Staat, in dem er lebt.
Das Großartige an diesem Buch ist, dass es den Menschen Schostakowitsch nicht nur darstellt, nicht nur seine Biographie einfühlsam wiedergibt. Sondern dass es eines dieser Bücher ist, denen es gelingt, den Lärm der Zeit, die profanen Kräfte der Politik und des Weltgeschehens spürbar zu machen, aber währenddessen vor allem über das menschliche Wesen, das menschliche Glück, die menschliche Würde zu sprechen, davon Zeugnis abzulegen. Barnes Schostakowitsch ist keine historische Figur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut und bleibt es von der ersten bis zur letzten Seite; er wird nicht als tragisches Beispiel inszeniert – Barnes verleiht seinem Leben wirklich eine Stimme, eine unverwechselbare. Diese große Leistung, die man leicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen könnte, macht das Buch zu etwas Besonderem.
Zu Ralf Georg Reuths “Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs”
Ralf Georg Reuth hat eine “Kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs” verfasst. Ist aber nicht schon wirklich genug über diese sechs Jahre geschrieben worden? Es gibt riesige Wälzer über Stalin und Hitler, es gibt andere Wälzer mit detaillierten Analysen der einzelnen Feldzüge, Analysen und Beweise der Kriegs- und Zivilverbrechen, Guido Knopp und andere haben Zeitzeugen befragt, Historiker haben über den großen Rahmen, den Krieg der Ideologien, geschrieben. Und wer will, der kann sich tagelang Fernseh-Produktion zum Dritten Reich und dem Krieg anschauen. Was bleibt da noch zu tun?
Nun, viele der erwähnten Publikationen sind selbst (freiwillig oder unfreiwillig) Teilnehmer an einem Konflikt, einem Kampf um die Deutungshoheit –s denn bei kaum einem historischen Ereignis gibt es so viele unterschiedliche Ansätze, so viele Fokusse vor allem. In welchem Licht soll man den Zweiten Weltkrieg und seine Akteure betrachten, vor allem was die größeren Zusammenhänge und die Absichten angeht?
Ralf Georg Reuth wirft dieses Licht in seiner Zusammenfassung vor allem auf Adolf Hitler, er ist für ihn die Schlüsselfigur, und sein Buch ist eine Analyse von Hitlers Entscheidungen und in vielen Teilen eine subtile Dekonstruktion von dessen Nimbus. Er stellt ihn nämlich nicht mit jener Ehrfurcht dar, die selbst die kritischen Biographien lange Zeit irgendwie mitgetragen haben, die in jedem Spiegel-Sonderheft-Artikel immer noch mitschwingt und die hinter den tausenden Einzelpublikationen Pate stand. Vielmehr zeigt er Hitler als einen Mann, der permanent in Illusionen gefangen war und der nicht von ihnen lassen konnte – und dessen militärische Erfolge zumeist Glückstreffer waren.
Reuth verharmlost den Diktator keinesfalls, auch seine Talente beim Reden und die bezwingende Energie seiner Präsenz, seine Wirkung auf die Massen, stellt er nicht in Abrede. Nur schreibt er dies alles ganz klar dem Wahnhaften seines Wesens zu und nicht irgendeiner Form von Größe oder Finesse.
Mit Hitler im Mittelpunkt, der lange seiner Vorstellung von einem Bündnis mit Großbritannien alles unterordnete und auch ansonsten völlig unrealistische Bündnisse zustande bringen wollte, führt uns Reuth durch die militärischen Ereignisse des 2. Weltkriegs. Er fasst das meiste gut zusammen und bringt viele kleinere Randnotizen zur Geltung (bspw. mit wem Hitler sich bzgl. seiner meist scheiternden Bündnis- und Kriegspläne trifft), die neue Einblicke erlauben, führt ebenso ohne Scheu den Irrsinn und die Absurdität vieler Aspekte vor Augen. Manchmal gefällt er sich, so kommt es mir vor, ein bisschen zu sehr in seiner Rolle als Zusammenfasser und Aufdecker. Aber dies sei ihm verziehen.
Diese neuste, zusammenfassende Publikation zum 2. Weltkrieg ersetzt natürlich nicht die vielen breiteren Werke und Analysen, aber ergänzt sie wunderbar und kann gut für sich stehen. Wer eine kluge, undramatische und nicht allzu aufs Militärische versessene Geschichte des 2. Weltkriegs sucht: Voila.
Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”
Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.
Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.
Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.
Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.
Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.
Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.
Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.
Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.
Gedichte von Ossip Mandelstam, in der Übersetzung von Paul Celan
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Zu Patrick Devilles “Viva”
Im Zentrum des sich drehenden Kosmos in Patrick Devilles Roman, der sich mitunter wie eine anekdotische Wanderung durch Geschichtsbücher und biographische Landschaften anfühlt, stehen vor allem übergroße, leicht geheimnisvolle Figuren wie Leon Trotzki, Arthur Cravan, Frida Kahlo, Malcolm Lowry oder B. Traven. Sie sind so etwas wie Außenseiter in ihren Disziplinen und doch Personen mit maßgeblichem Einfluss – und vor allem: es umgibt sie ein Mythos. In einem rasanten Karussell aus Orten und Verflechtungen, Rückblicken und situativen Verdichtungen, lässt Deville den Quell ihres Lebens und Denkens, ihrer Seele, vor den Augen der Lesenden aufsprudeln und wieder in sich zusammen fallen.
Die Stärke des Buches liegt in der leicht unberechenbaren Dynamik, mit der es seine Perspektiven und Schauplätze wechselt und dabei teilweise die assoziative Sprunghaftigkeit der Erinnerung und teilweise die historischen Abläufe für die Bewegung des Textes einbindet. So entsteht ein flirrendes Bild der geschichtlichen Prozesse und eine lebhafte Darstellung der Figurenschicksale, die zeigt, wie die einzelnen Individuen – abseits der neutralen, historischen Perspektive – von den Wellen der Ereignisse hin und hergeworfen werden; und alle nur einen Ort suchen, an dem sie die Gezeiten und Unwetter nicht so hart treffen können, an denen Ruhe vor dem Sturm herrscht. Und doch begeben sie sich auch immer wieder in den Sturm hinein. Im Sturm sind sie schließlich auch lebendig. Aber vielleicht auch nicht mehr lange am Leben.
Mexiko ist der Ort, an den sich einige von ihnen flüchten. Ein Leben wartet hier, vielleicht. Während in Russland und anderen Teilen der Welt Bürgerkriege toben und ein weiterer Weltkrieg sich ankündigt und die Welt schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zur Ruhe kommt, sind es die vielfach in die bisherigen historischen Zusammenhänge Eingebundenen, die ihnen jetzt kaum mehr entgehen können. Letztlich zeigt dieser Roman vor allem das Brodelnde, das in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts steckte. Man konnte immer im Zentrum des Geschehens sein, wenn man wollte, den Geschehen gab es genug, aber es gab auch noch die Hoffnung, die Idee, dass das Leben fernab des alleszerfressenden Trubels der Revolutionen, Kriege und Abenteuer möglich sein könnte. Zwischen diesen kleinen Hoffnungen und den großen Umbrüchen pendelt das Narrativ dieses Buchs.
Besprechung der Anthologie “Einbildung eines eleganten Schiffbruchs”
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Zu Matthias Schreibers Buch über den “Verräter”
Der Verräter/die Verräterin ist eine wichtige Figur: in der Geschichtsschreibung, im Mythenfundus der Popkultur, in politischen und gesellschaftlichen Diskursen. Oft ist sie der Schlüssel, der in einer kritischen Situation das Gute vom Bösen scheidet, weil er der einen Seite zuarbeitet und die andere verrät. Gleichwohl hat die Bezichtigung des Verrates oft den Beigeschmack einer übermäßigen Beanspruchung von Gehorsam und Zugehörigkeit. Schon innerhalb dieses groben Rahmen sieht man: das Thema hat einiges zu bieten.
Matthias Schreiber hat nun einen Essay über das Thema verfasst, der auf zweierlei Augenmerk legt: zum einen auf eine Auslotung der Aspekte und Attribute, die notwendig sind, um die Gestalt des Verräters und seine Motivationen abzubilden und zum anderen auf Beispiele, die sich von der biblischen Gestalt des Judas über zahllose Fälle aus der Zeit des kalten Krieges und anderer Konflikte bis hin zu Edward Snowden erstrecken – was letzteren angeht, wage ich die Behauptung, dass der Essay wenig Aufschluss gibt, wie man mit seiner Person umgehen sollte.
Ansonsten erweist sich Schreibers Buch als sprudelnder Quell von Anekdoten und Geschichten und entwickelt sich schnell zu einer lockeren Studie, die hier und da etwas schnell den Strich unter die Rechnung setzt, aber auf umfassende Weise die Idee des Verräters einzukreisen weiß. Die vielen Definitionsansätze überschwemmen hier und da die Lektüre, grundieren aber mit der Zeit auch das oftmals eher plumpe Bild, das der Verräter in den meisten Narrativen einnimmt und weisen ihm eine eigenständige Tiefe zu.
„Auch wenn er positive Folgen hat, zum Beispiel die Aufdeckung bestimmter Missstände, braucht der Verrat einen Täter: den Verräter. […] Einer der Gründe dafür, weshalb wir dem Verräter an sich misstrauen, ist die Tatsache, dass uns die Antwort auf eine wichtige Frage fehlt: Was treibt ihn wirklich an, wenn er verrät?“
Ich habe mich ein paar Mal geärgert, dass Schreiber seinen Text zum Anlass nimmt, um kurz und knapp über bestimmte zeitgenössische Problematiken zu urteilen, wie etwa bei der Frage der digitalen Zugangsrechte, die nun einmal mehr Aspekte hat als nur den des möglichen Verrates.
Abgesehen davon haben mich die vielen Anekdoten großartig unterhalten und auch meine Idee von der Gestalt des Verräters hat sich an einigen Stellen neu gegliedert; der Text hat einiges angestoßen, mit dem ich mich erst in der Folge auseinandergesetzt habe. Mehr kann man von einem Essay nicht verlangen.
Vladimir Nabokovs “Das wahre Leben des Sebastian Knight”
[…] und außerdem wusste er, dass im Grunde keine Idee wirklich existiert, wenn ihr nicht die Worte genau nach Maß angelegt werden.
Romane, die als Weltliteratur oder gehobene Literatur bezeichnet werden, haben nicht gerade den Ruf leicht lesbar zu sein. In kaum einem Genre herrscht aber auch eine so große Bandbreite an Formen und somit auch nahezu nirgends eine so große Bandbreite an Verständlichkeitsstufen: von Simmel und Konsalik (deren Büchern einige Gralshüter des Romans wie Kundera oder Vargas Llosa – möglicherweise zurecht – die Bezeichnung Roman absprechen würden) bis zu Arno Schmidt und Oswald Wiener ist es ein weiter Weg und doch steht auf den Büchern dieser grundverschiedenen Literaten das Wort Roman geschrieben. Irgendwo in der Mitte aber gibt es jene Romane, die bereits eine vielfältige, subtile Erfahrung bereithalten und dennoch nicht besonders schwer zugänglich sind, keine großen Mühen und Anstrengungen vom Leser erwarten. Manche Romane von Kundera und Vargas Llosa gehören dazu, Werke von Camus oder André Gide, Carson McCullers und Nicole Krauss und es wären noch einige Autor*innen zu nennen, bevor diese Liste fertig wäre.
Einer, der in dieser Liste auch nicht fehlen dürfte ist Vladimir Nabokov. Kaum ein Autor ist ein besserer, lebendigerer Inbegriff der hohen Narration, die beileibe nicht schwer zugänglich ist oder sich allzu sehr in Formspielen oder perspektiven Verzerrungen ergeht. Von seinen frühen russischen Romanen bis zu jenen späten Meisterwerken „Lolita“ und „Pnin“ hat er es bravourös und virtuos vermieden, etwas Verkopftes zu Papier zu bringen und ist dennoch kein unmoderner Autor (wenngleich einige Gralshüter der Avantgarde und neuer Roman- und Kunstbegriffe ihn vielleicht so bezeichnen würden).
Nabokov stammte aus Russland, in dem es zwei Romanciers gab, die ebenfalls zur Hochliteratur gezählt werden und dennoch fesselnd sind, ja geradezu Bestsellercharakter haben: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski. Man könnte auch noch den großartigen Erzähler Anton Chechov hinzufügen. Es liegt mir fern ihn in eine Reihe mit diesen dreien zu stellen, aber Nabokov hat vielleicht auf kluge Art und Weise von ihnen gelernt, nicht was die Themen und was die Sprache anging, aber in Sachen Bodenhaftung und narrativer Eleganz ist er ihnen, behaupte ich, gar nicht so fern.
„Das wahre Leben des Sebastian Knight“ war der erste Roman, den Nabokov auf Englisch schrieb, mehr aus Notwendigkeit, denn aus einem Wunsch heraus. Er war auch zum Teil eine Art selbsterlegte Auftragsarbeit, mit der Nabokov sich bei einer Geldmöglichkeit bewerben wollte. Diese Entstehungsgeschichte flößt nicht gerade Vertrauen ein und man könnte zunächst glauben, man hielte eines jener Bücher in der Hand, die der Verlag herausgegeben hat, obwohl der Roman nicht die Höhe des sonstigen Werkes erreicht (Ähnliches ist ja schon geschehen, bei Witold Gombrowicz und „Die Besessenen“ zum Beispiel) und nur weil man die Rechte am Gesamtwerk besitzt.
Doch weit gefehlt: in seiner eigenen, schummrig-kristallinen Art ist dieser Roman ein Meisterwerk, eine Schönheit. Es gibt kaum ein Buch, das ich in den letzten Jahren mit so viel Genuss und mit so wenig Frust gelesen habe. Es ist leicht, trägt aber in jedem Satz eine tiefe Bedeutsamkeit in sich und die Sprache ist, selbst in der Übersetzung (die Dieter E. Zimmer augenscheinlich wundervoll angefertigt hat) eine echte Augenweide, auf der so manches grandiose sprachliche Bild wie ein Windstoß das Gras, die Bäume und den Körper des Lesers rauschen, wehen und zittern lässt.
Erzählt wird die Geschichte eines jungen Exilrussen, der sich auf die Spuren seines kürzlich verstorbenen Halbbruders, eben jenes Sebastian Knight, begibt. Sebastian war Schriftsteller und der Protagonist möchte nun ein Buch über ihn und sein Schaffen schreiben, eben jenes, das wir in Händen halten: „Das wahre Leben des Sebastian Knight“. Anlass ist zum einen der Tod des Bruders, der den Erzähler erkennen lässt, dass er sehr wenig über dessen Leben wusste (obgleich er sein Schaffen immer aufmerksam verfolgt hat) und zum anderen das stümperhaft-blasierte biographische Buch von Sebastians ehemaligem Sekretär, das, davon ist der Protagonist fest überzeugt, ein völlig falsches Bild von dessen geistigen Haltungen, Interessen und Antrieben zeichnet.
Also macht sich der Protagonist auf die Suche, beginnend bei der gemeinsamen Kindheit, mit Ausflügen in die Welten der Bücher, die Sebastian schrieb, immer der dünner werdenden Fährte seiner Lebenswege hinterher. Genau auf dem Grat der Gefälle entlang, von dem das Buch auf der einen Seite in die Schlucht des bloßen Berichtes, auf der anderen in den Abgrund seines eigenen Aufhängers fallen könnte, bewegt sich die Erzählung, mit einer kleinen Fülle von anekdotischen und illuminierenden Momenten beladen, in die Existenz der Figur Sebastian Knight herein, überhöht ihn nicht, verwirft ihn nicht, überfüttert den Leser nicht mit Details. Der meist weit entfernte und nun tote Bruder bekommt eine dem Sujet angemessen Aufladung angediehen, er wird aber vor allem menschlich sichtbar, nicht als Figur, als angelegte Idee. Und die Entfernung bleibt, von kurzen Momenten der Nähe durchzogen, von kurzen Erkenntnissen über ein anderes Dasein.
Es ist kein spannendes und kein gewaltiges Buch, kein großer Wurf, aber ein sehr starker, reicher Roman.
Zu Vladimir Vertliebs Roman “Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur”
Es ist eine Geschichte von der Schwierigkeit der jüdischen Existenz und ein Blick auf und in das große Land Russland und seine zerrissene Geschichte im 20. Jahrhundert. Es ist die Geschichte einer Frau, die überlebt, was kaum zu überleben war: Verfolgungen, Kriege, Entbehrungen und Verluste. Es ist eine Geschichte schwerer Zeiten, mühseligen Lebens, ununterbrochenen Überlebens und sehr sehr zager Hoffnungen. Es ist aber noch mehr als das, es ist ein gelungener Roman.
Ich misstraue allgemein der Idee, dass ein Buch, das eine längere Erzählung beinhaltet, automatisch ein Roman sei. Zu einem Roman gehört etwas mehr; eine aufdeckende, aufschlüsselnde Gesamtwirkung, eine übergreifende Stimmigkeit; eine Art sich im Ganzen als etwas zu ergeben, das eine transzendente und nicht nur narrative Dimension hat.
Trotzdem schätze ich gelungene Erzählungen, zumal wenn sie unser Verständnis über Zustände, Zusammenhänge, Fakten und Ideen erweitern können und spannende und/oder epische Züge aufweisen, kurzum: eine gute Geschichte um ein interessantes Thema erzählen. Vladimir Verliebs Buch über Rosa Masur ist eine Mischung aus dem, was ich an Erzählungen schätze und von Romanen erwarte.
Es wäre nicht ganz falsch, aber letztlich zu einfach, wenn man diesen Roman eine Lebensgeschichte nennen würde. Zu einfach, weil es vermuten ließe, dass alle in diesem Buch aufgearbeiteten und anklingenden Konflikte nur etwas mit der Protagonistin zu tun haben. Aber Vertlieb hat wahrhaftig einen Roman geschrieben, was auch bedeutet, dass sich Konfliktfäden durch ihn ziehen, dich nicht am Anfang des Buches anfangen und nicht auf seiner letzten Seite verschwinden. Sie tauchen in der Geschichte auf, werden Teil der Romanwelt, sind aber eigentlich Konflikte, die uns ebenso etwas angehen wie die Figuren in der Geschichte. Der Roman wird hier zum Beispiel des Lebens, dem Spiegel seiner Zeit, zum Gedächtnis der Gesellschaft.
Der Blick, den Verlieb uns auf das 20. Jahrhundert und die russische Gesellschaft eröffnet, ist zweischneidig. Zum einen hat er dem Historischen zugestanden, sehr viel Raum und Umgebung für die Erzählung zu beanspruchen. Die Sorgen der jeweiligen historischen Situation sind die Sorgen der jeweiligen Menschen, miteingeschlossen die Protagonistin. Das will ich nicht geringschätzen, denn es gibt den anderen Passagen eine größere Prägnanz und Kontur und dem ganzen Buch eine große Glaubwürdigkeit – kein Mensch kann immer aus der Masse hervorragen und Einzigartiges erleben; den meisten Menschen ist dies ja wahrlich nur dann und wann vergönnt. Trotzdem drückt diese Gewichtung eine gewisse Haltung aus, die ich nicht problematisch finde, die einen aber das Buch streckenweise schlicht konsumieren lässt.
Interessanter ist es, wenn sich Rosa auf ihre eigenen Pfade begibt. Vertlieb hat seiner Figur eine sehr ausbalancierte Persönlichkeit eingehaucht und hat den Mut sie ins Ausweglose zu steuern, eines der großen Charakteristika des Jahrhunderts und des menschlichen Daseins schlechthin. Wie sie damit umgeht, welche Geschichten sich an diesen Punkten entwickeln: das sind die großen Glanzlichter dieses Buches. Sie geben ihm eine ungeheuer greifbare Dimension, Tiefe und Anschaulichkeit. Sie machen das Schicksal der Figur individuell und doch stellvertretend.
Rosa Masur ist ein Buch, das schneller endet, als man gedacht hätte. Es liest sich sehr flüssig, trotzdem weiß der Autor die Sprache feinzujustieren, wenn es drauf ankommt. Es ist eine große Erzählung und letztendlich ein gelungener Roman.