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Zum “Welttagebuch” von Alexandros Stefanidis und Julia Otterbach


Das Welttagebuch Haben Sie schon gewusst – am 4. Februar sollten Sie sich bei Ihrem Postboten bedanken! Verpassen Sie außerdem nicht die Gelegenheit, am 18. Mai kein dreckiges Geschirr zu produzieren oder zumindest direkt abzuspülen. Den letzten Donnerstag des Oktobers sollten Sie dann auf einem Schiff verbringen. Und am 1. August vielleicht eine Himbeersahnetorte?

“Das Welttagebuch” von Alexandros Stefanidis und Julia Otterbach ist an sich schon eine wunderbare Idee: alle inoffiziellen Feiertage versammelt zwischen zwei Deckeln. Als Kuriositätenkabinett hätte das Buch allerdings wohl schnell ausgedient, denn es ist schnell gelesen, aber es ist eben tatsächlich ein wunderbarer Begleiter durchs Jahr, der viele Anregungen bereithält, sich das eine oder andere mal wieder vor Augen zu führen (oder anderen Sinnen zuzuführen).

Wer dieses Buch verschenkt, der verschenkt somit auch nicht das x-te funny-stories-Buch oder eine weitere Packung unnützes Wissen – er verschenkt die Möglichkeit, jeden Tag einiger Aspekte der Welt und des Lebens gewahr zu werden, Genüssen und Fragen, Ideen und Problemen. Eine empfehlenswerte Anschaffung, die auf leisen Sohlen bereichern kann, wenn man täglich mal hineinschaut und dann über den Tellerrand hinaus.

Zu der Anthologie “Grand Tour”


Grand Tour

Grand Tour, das ist ein etwas altbackener Titel für eine doch sehr beachtliche Anthologie, die uns mitnimmt auf eine Reise (oder sieben Reisen, denn als solche werden die Kapitel bezeichnet) in 49 europäische Länder und eine Vielzahl Mentalitäten, Sprachen, Stimmen und Lebenswelten, ins Deutsche übertragen von einer Gruppe engagierter Übersetzer*innen (und das Original ist immer neben den Übersetzungen abgedruckt).

Laut dem Verlagstext knüpft die von Jan Wagner und Federico Italiano betreute Sammlung an Projekte wie das „Museum der modernen Poesie“ von Enzensberger und Joachim Sartorius „Atlas der neuen Poesie“ an – vom Museumsstaub über die Reiseplanung zur Grand Tour, sozusagen.

Dezidiert wird die Anthologie im Untertitel als Reise durch die „junge Lyrik Europas“ bezeichnet. Nun ist das Adjektiv „jung“, gerade im Literaturbetrieb, keine klare Zuschreibung und die Bandbreite der als Jungautor*innen bezeichneten Personen erstreckt sich, meiner Erfahrung nach, von Teenagern bis zu Leuten Anfang Vierzig.

Mit jung ist wohl auch eher nicht das Alter der Autor*innen gemeint (es gibt, glaube ich, kein Geburtsdatum nach 1986, die meisten Autor*innen sind in den 70er geboren), sondern der (jüngste erschlossene) Zeitraum (allerdings ist die abgedruckte Lyrik, ganz unabhängig vom Geburtsdatum der Autor*innen, nicht selten erst „jüngst“ entstanden).

Wir haben es also größtenteils mit einer Schau bereits etablierter Poet*innen zu tun, die allerdings wohl zu großen Teilen über ihre Sprach- und Ländergrenzen hinaus noch relativ unbekannt sind. Trotzdem: hier wird ein Zeitalter besichtigt und nicht nach den neusten Strömungen und jüngsten Publikationen und Talenten gesucht, was selbstverständlich kein Makel ist, den ich der Anthologie groß ankreiden will, aber potenzielle Leser*innen sollten sich dessen bewusst sein.

Kaum überraschen wird, dass es einen gewissen Gap zwischen der Anzahl der Gedichte, die pro Land abgedruckt sind, gibt. Manche Länder (bspw. Armenien, Zypern) sind nur mit ein oder zwei Dichter*innen vertreten, bei anderen (bspw. England, Spanien, Deutschland) wird eine ganze Riege von Autor*innen aufgefahren. Auch dies will ich nicht über die Maßen kritisieren, schließlich sollte man vor jedem Tadel die Leistung bedenken, und würde mir denn ein/e armenische/r Lyriker/in einfallen, die/der fehlt? Immerhin sind diese Länder (und auch Sprachen wie das Rätoromanische) enthalten.

Es wird eine ungeheure Arbeit gewesen sein, diese Dichter*innen zu versammeln und diese Leistung will ich, wie gesagt, nicht schmälern. Aber bei der Auswahl für Österreich habe ich doch einige Namen schmerzlich vermisst (gerade, wenn man bedenkt, dass es in Österreich eine vielseitige Lyrik-Szene gibt, mit vielen Literaturzeitschriften, Verlagen, etc. und erst jüngst ist im Limbus Verlag eine von Robert Prosser und Christoph Szalay betreute, gute Anthologie zur jungen österreichischen Gegenwartslyrik erschienen: „wo warn wir? ach ja“) und auch bei Deutschland fehlen, wie ich finde, wichtige Stimmen, obwohl hier natürlich die wichtigsten schon enthalten sind. Soweit die Länder, zu denen ich mich etwas zu sagen traue.

Natürlich kann man einwenden: Anthologien sind immer zugleich repräsentativ und nicht repräsentativ, denn sie sind immer begrenzt, irgendwer ist immer nicht drin, irgendwas wird übersehen oder passt nicht rein; eine Auswahl ist nun mal eine Auswahl. Da ist es schon schön und erfreulich, dass die Anthologie zumindest in Sachen Geschlechtergerechtigkeit punktet: der Anteil an Frauen und Männern dürfte etwa 50/50 sein, mit leichtem Männerüberhang in einigen Ländern, mit Frauenüberhang in anderen.

„Grand Tour“ wirft wie jede große Anthologie viele Fragen nach Auswahl, Bedeutung und Klassifizierung auf. Doch sie vermag es, in vielerlei Hinsicht, auch, zu begeistern. Denn ihr gelingt tatsächlich ein lebendiges Portrait der verschiedenen Wirklichkeiten, die nebeneinander in Europa existieren, nebst der poetischen Positionen und Sujets, die damit einhergehen. Während auf dem Balkan noch einige Texte um die Bürgerkriege, die Staatsgründungen und allgemein die postsowjetische Realitäten kreisen, sind in Skandinavien spielerische Ansätze auf dem Vormarsch, derweil in Spanien eine Art Raum zwischen Tradition und Innovation entsteht, usw. usf.

Wer sich poetisch mit den Mentalitäten Europas auseinandersetzen will, mit den gesellschaftlichen und politischen Themen, den aktuellen und den zeitlosen, dem kann man trotz aller Vorbehalte „Grand Tour“ empfehlen. Wer diesen Sommer nicht weit reisen konnte, der kann es mit diesem Buch noch weit bringen.

 

Zu “Das Buch der klassischen Haiku”


Das Buch der klassischen Haiku „Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“

So heißt es bei Johann Wolfgang von Goethe. Lyrik allgemein, aber das Haiku im Besonderen, hat sich dieser Kostbarkeit des Augenblicks verschrieben, des unverfänglichen Eindrucks, der aus Millionen sich ausdrückenden Lebendigkeiten eine Facette ausgewählt, einfängt.

„Den roten Nelken
Scheint auf die Stengelknoten
Die Abendsonne“
(Seibi)

Die hier vorliegende Sammlung wurde zusammengestellt und übersetzt von dem im Jahr 2000 verstorbenen Jan Ulenbrook. Vom ihm stammt auch das erfreulich ausführliche Nachwort, in welchem er auch freimütig die Vor- und Nachteile seiner Übersetzungsmethoden anführt und viele Aspekte von Auswahl und der Idee des Haiku erläutert.

Die Sammlung ist unterteilt in fünf Kapitel: eines zum Neujahr und jeweils eines zu einer der vier Jahreszeiten. Innerhalb der Kapitel finden sich wiederum – nicht extra separierte, sondern lediglich durch das Aufeinanderfolgen gruppierte – Sammlungen zu Themen und Motiven der jeweiligen Jahreszeit.

„Vom grauen Himmel
Fällt Schnee auf Schnee herab:
Ein Schmuck den Häusern!“
(Kigô)

Die Haikus sind, wie es der Titel schon ausdrückt, klassisch und auch möglichst formgetreu übersetzt (Silbenanzahl, Wortstellung). Das kann man bemängeln, auch mit guten Argumenten. Aber letztlich muss man bei Gedichtübersetzungen immer Abstriche machen. Manche von Ulenbrooks Übertragungen wirken etwas hölzern, aber die meisten seiner Haikus sind immer noch schöne, gelungene Verdichtungen.

Obgleich es hauptsächlich klassische Haikus sind, stammen auch einige von Dichter*innen, die im 20. Jahrhundert lebten. Im Anhang kann man zu allen Verfasser*innen zumindest die Lebensdaten nachschlagen, Kurzbiographien von einem Satz sind nur wenigen vorbehalten.

„Für alle Türen
ist der Dreck der Holzschuhe
der Frühlingsanfang.“
(Issa)

Man wird schwerlich eine umfangreichere Sammlung finden: über tausend Haikus hat Ulenbrook zusammengetragen. Das heißt natürlich auch, dass man sich seine Lieblinge erst herauspicken muss. Wenn man sich damit zeitlassen will, was zu empfehlen ist, begleitet einen das Buch vermutlich eine ganze Weile. Es ist auch möglich, erst in der jeweiligen Jahreszeit zu dem Band zu greifen.

So oder so: ein Bändchen, das in keiner Büchersammlung fehlen sollte.

„Der Frühlingswind, horch,
Läuft durch die Weizenfelder
Wie Wasserrauschen.“
(Mokudô)

Zu der Anthologie “Querulantinnen” mit siebenundzwanzig weiblichen Kabarettistinnen im Reclam Verlag


Querulantinnen „Wenn das Scheitern nicht wär,
wo wären wir da –
Du würdest mich nicht fragen müssen
wo ich gestern war, weil –
Ich wär dir überhaupt niemals
begegnet mon cher.

Wenn das Scheitern nicht wär,
wo wären wir da –
und wär ich jetzt gescheiter
oder nicht, oder blabla
Und wo nähme ich denn
meine ganze Kraft her,
wenn das Scheitern nicht wär.“

So singt die wunderbare Uta Köbernick. Es ist eigentlich schon ein Versäumnis, dass dieser ambitionierten Anthologie mit von Frauen gemachtem Kabarett, mit weiblicher Poesie und Liedkunst, keine CD oder sogar DVD beigelegt wurde. Denn so stark viele Texte sind, gerade die Poetry-Slam- und Liedtext leben nun mal von der Lakonie/dem Drive/den Nuancen des Vortrags und erscheinen auf dem Papier in manchen Momenten etwas eindimensional.

Aber auch ohne audiovisuelle Aufbereitung kann man sich an den Texten der 27 Kabarettistinnen und Poetinnen dieser Anthologie größtenteils erfreuen, sich von ihnen erheitern und vor den Kopf stoßen lassen, sich mit ihnen und gegen sie empören.

Ein häufig auftauchendes, allzeit präsentes Thema ist natürlich die Frage nach dem feministischen Aspekt von weiblichem Kabarett: sollte man Klischeethemen bewusst vermeiden oder gerade diese Themen angehen? Muss sich weibliches Kabarett irgendwie besonders positionieren oder sollte es sich gerade gegen dieses mögliche Stigmata wehren. Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Daniela Mayer:

„Denn heute gilt mehr denn je: die Erwartungen vor allem an Frauen sind auch in der Kleinkunst besonders hoch. Und werden sie nicht erfüllt, wird eben das Ticket der weniger ambitionierten Konkurrentin gekauft.“

Es ist interessant zu beobachten, wie diese Diskussion oft mitschwingt in den Texten und einem dadurch auch einfällt, wenn ein Text nicht in irgendeiner Weise daran anknüpft. Es ist bedenklich, dass es anscheinend einen weitverbreiteten Reflex gibt, der weiblichem Kabarett den Stempel „Frau wehrt sich, Frau schießt zurück“ aufdrücken will – und es dadurch nur zum bloßen Widersacher, zum Antagonisten männlichen Kabaretts macht, zu einer Kunst, die nur reagiert und nicht für sich selbst steht, die sich permanent behaupten muss und nicht einfach sein kann. Die meisten Kabarettistinnen in diesem Buch gehen diesem Label nicht auf den Leim, aber nicht alle finden einen Weg drumherum.

„Zwischen Männern und Frauen gibt es viele unausrottbare Missverständnisse. Und viele Klischees. Eines davon ist das Klischee, dass Männer nicht gerne reden. Dieses Vorurteil kann ich in der Form eher nicht bestätigen. Mag sein, dass Männer über manche THEMEN nicht so gerne reden, aber will ich als Frau einen Mann in ein Gespräch verwickeln, so brauche ich nur die richtigen Themen auszuwählen und schon bin ich bei Männern auf der ganz, ganz sicheren Seite. Wenn ich einen Mann dazu auffordere, darüber zu erzählen, wie schlecht und/oder hinterhältig seine Ex(en) ihn behandelt hat (haben), dann geht’s los.“ (Aus einem Text von Lioba Albus)

Der Diskurs, der sich an solchen Fragen entzündet, ist sicher wichtig und die Selbstkritik und die mannigfaltige Reflexion, die die Querulantinnen an den Tag legen, sind bewundernswert. Aber man wünscht ihnen, dass daraus kein Teufelskreis wird, dass die Leute sie aufgrund ihres Humors, ihrer Intelligenz und ihrer auf den Punkt gebrachten, entlarvenden Pointen feiern und nicht, weil sie sich gekonnt innerhalb dieses Diskurses positioniert haben. Emanzipation soll doch heißen: Unabhängig sein von seinem Geschlecht und seiner Rolle im Diskurs, oder nicht? Wohl auch wieder eine Frage, die einen Diskurs entzündet.

„Was wir Frauen im Kabarett an veralteten Rollenklischees zelebrieren, da kriegen Islamisten einen Ständer. […] Interessant ist aber, dass es immer die Humorlosen sind, die über Humor urteilen. […] Darum: mehr Humor und mehr Spott den Idioten. Weil es sie herunterschrumpft, auf das richtige Maß. Oder wie man jetzt in Amerika sagt: Make assholes small again.“ (Aus einem Text von Lisa Catena)

Es geht ja vor allem um Humor, um Satire, um die Kunst, die Dinge verquer auf den Punkt zu bringen – auch weil das, was sehr ernst ist, nicht am Schlechtesten in einem klugen Scherz aufgehoben ist, in einem trefflichen Spruch. Und Humor sollte kein Geschlecht haben müssen, zumindest nicht aufgrund seines Geschlechts beurteilt werden. Sondern aufgrund seiner Cleverness, seiner Qualität. Und Qualität findet man hier überall: in den Tweets von Lea Streisand:

„Sorgen sind wie Nudeln: man macht sich immer zu viel davon.“

Den Miniaturen von Uta Köbernick:

„Angst
ist der rote Teppich
für den Mut.“

und den Liedern von bspw. „Suchtpotenzial“:

„VIELEN DANK DISNEY – (danke Disney)
Für die scheiß Illusionen und die Herbstdepressionen
DANKE DISNEY – (Vielen Dank Disney)
Hätt ich damals mal lieber Pornos geguckt
und früher gemerkt, dass ihr lügt wie gedruckt
VIELEN DANK DISNEY – (danke für nichts)

Er ruft nicht: Rapunzel lass dein Haar herunter
sondern nur: Ey Mädschen! Was trägstn du drunter?“

In Querulantinnen gibt es eigentlich kein Thema, das nicht gestreift wird: Politik, Alltag, Klima, Religion, Liebeskummer, Sex und kaum eine Form, die nicht wenigstens einmal vorkommt: Geschichte, Aphorismus, Lied, Gedicht, Anekdote, Comedy, Poetry-Slam, Satire, Apell, Rede, etc. Manchmal geht es sehr munter zu, dann wieder bissig, dann nachdenklich, dann und wann auch albern, wie bei Maria Vollmers Version der zehn kleinen Zinnsoldaten, äh, Eizellen

„Fünf kleine Eizellen riefen ganz laut: „Hier!“
Doch Horst hat ihn nicht hochgekriegt, da war’n es nur noch vier.

Vier kleine Eizellen rollten flink herbei,
die Wodkaparty ging zu lang, da warn es nur noch drei.

Drei kleine Eizellen, die gingen jetzt aufs Ganze,
am Ende war’n es nur noch zwei, das Date das hieß Konstanze.“

Alles in allem: eine tolle Anthologie, wichtig für den Diskurs, noch wichtiger fürs Zwerchfell, das Hirn, Youtubenächte und das Herz. Ein Buch, über das man nicht einfach sagen sollte: es zeigt, dass auch Frauen großartiges Kabarett machen. Es geht schließlich nicht bloß um das Aufheben einer Negation. Es ist schlicht zu sagen: hier kann man ein Buch voller Beiträge von großartigen Künstlerinnen erwerben, gut ausbalanciert zwischen Kritischem, Spaßigem, Nachdenklichem und Banalem.

Natürlich will ich nicht falsch verstanden werden: die emanzipatorische Dimension des Buches will ich keinesfalls kleinreden (und es ist ja auch erfreulich, dass der Reclam-Verlag ein solches Buch rausgebracht hat, Daumen hoch). Kabarettistinnen gehören gesehen und gehört. Und natürlich ist es wichtig, dass wir uns in unseren Gesellschaften für die Menschen einsetzen, die es nachweislich schwerer haben, gehört und gesehen zu werden. Zum Schluss, ein letztes Mal zitiert, ein Satz von Uta Köbernick:

„Wegschauen hilft leider nicht,
Da siehts nämlich auch nicht besser aus.“

 

Zu “Letztes Lexikon”, erschienen 2002 in “Die andere Bibliothek”


Das letzte Lexikon kann und will nicht mit den Heerscharen der Spezialisten und der profunden Sachkenntnis seriöser Enzyklopädien konkurrieren. Es ersetzt keinen einzigen Band eines ordentlichen Lexikons, flüstert aber allem Wissen und allen Wissbegierigen ein leises Memento Mori ins geneigte Ohr. Wir gleiten über einen unermesslich großen Ozean gefrorenen enzyklopädischen Wissens, bohren, mit stets unzulänglichen Mitteln, hier und da neugierig ein paar Löcher, um Trouvaillen, versunkene Schätze, Strandgut und der Bodensatz der Geistesgeschichte ans Tageslicht zu fördern
(Aus dem Vorwort)

Sie haben wohl ausgedient, die Mammutwerke, die säkularisierten Turmbaustellen zu Babel, die in den Antiquariaten und Kellern und Regalen verstauben; die Lexika von einst und heute. Schätzungen zufolge werden im 21. Jahrhundert pro Haushalt etwa 0,02 Prozent der Beiträge in diesen mehrbändigen Ungeheuern gelesen – bei dem Aufwand, der jahrhundertelang um diese Bildungsgewichte gemacht wurde, ist diese Zahl eigentlich eine Bankrotterklärung.

Aber natürlich hatte die Geschichte des Lexikons schon immer eine komische, absurde Note und die großen Projekte, von der großen Encyclopédie, bei der Denis Diderot mitwirkte, bis hin zur Encyclopædia Britannica, die der Journalist A.J. Jacobs immerhin in einem Jahr durchlesen konnte (und darüber ein Buch schrieb: Britannica & ich: Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden), sind bis heute eigentlich ein perfektes Sinnbild für das Schicksal hochstechender Ideale: edel und mit zu großem Anspruch vorbelastet, sind sie meist zum Scheitern im großen Stil bestimmt.

Das Internet hat diese Absurdität natürlich etwas gewandelt, sie teilweise deutlicher herausgestellt und doch viele Probleme gelöst, mit denen Enzyklopädien seit jeher zu kämpfen hatten: Aktualität, Platz, Auswahl, Spezialist*innensuche etc. Die generelle Idee aber hat noch einmal Aufwind bekommen: was wäre, könnte man alles Wissen von allen sammeln und alle könnten davon profitieren? Wäre das nicht das Paradies? Der Fahrstuhl zur Vervollkommnung? Der Schlüssel zu allem?

Vermutlich nicht, denn wenn das “Letzte Lexikon” eines zeigt, dann, wie sehr Wissen ideologisch gefärbt ist und nicht nur vom Stand der Forschung, sondern auch von Deutung und Akzeptanz abhängt. Die alten Originalbeiträge, die die drei Autoren zusammengetragen haben, aus Lexika des 18ten, 19ten und 20ten Jahrhunderts, haben somit oftmals etwas Obskures und Kurioses – wenn auch leider nicht immer in dem erheiternden Maß, das man sich vielleicht bei einem Buch wie diesem erhofft.

Trotzdem lädt es wunderbar zum Schmökern ein und die gelegentliche Antiklimax der Erwartungen muss dann einfach mal hingenommen werden; auch im Banalen steckt ein Glanz, das haben Lexika ja schon immer gepredigt. Wer ein Buch sucht, in das er immer mal wieder einen Blick werfen kann, ein Anti-Lexikon, das doch irgendwie ein Lexikon ist: Voila. Hier ist es.