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Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”


Maschenka

Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.

Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.

Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.

Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.

Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.

Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.

Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.

Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.

Zu “Weimarer Verhältnisse?”, einer Anthologie aus dem Reclam Verlag


Weimarer Verhältnisse „Die Rückkehr des Nationalismus und die Erfolge des Rechtspopulismus haben eine neue Debatte über die Grundlagen und Gefährdung der Demokratie in Gang gesetzt. Auch die etablierten Demokratien des Westens machen die Erfahrung, dass der politische Grundkonsens, auf dem sie ruhen, nicht mehr so selbstverständlich ist, wie noch bis vor kurzem angenommen.“

In der Bundesrepublik Deutschland hat der im Vorwort beschriebene »Rechtsruck« zu Debatten geführt, in denen immer wieder von „Weimarer Verhältnissen“ die Rede ist. Im Gegensatz zum Geschwafel von „spätrömischer Dekadenz“ wirkt dieser Rückgriff auf das Beispiel der ersten bundesdeutschen Demokratie seriös: Das Schicksal der Weimarer Republik war ein wichtiger Fehlerkatalog für die Ausarbeitung von Verfassung und Grundgesetzes der Bonner Bundesrepublik und bleibt ein Menetekel deutscher Geschichte.

Dennoch droht einem Vergleich der gegenwärtigen politischen Lage mit Weimar dasselbe, wie einem Vergleich von derzeitigen politischen Akteuren mit der Person von Joseph Goebbels: diese Vergleiche drohen zu hinken. Was können wir also wirklich bis heute aus Weimar lernen und was an diesem Rückgriff muss, bei näherer Betrachtung, zum bloßen Schreckgespenst verkommen?

Sieben Autorinnen und Autoren (namentlich Ute Daniel, Jürgen W. Falter, Hélène Miard-Delacroix, Horst Möller, Herfried Münkler, Werner Plumpe, Andreas Wirsching) gehen dieser Frage anhand von verschiedenen Facetten nach, bei deren ein Vergleich zwischen Weimar und der derzeitigen politischen Lage ansetzen könnte.

Die verschiedenen Gesichtspunkte sind durchaus interessant, wobei die beiden stärksten Texte vom Mitherausgeber Andreas Wirsching stammen, der auch neben Jürgen W. Falter am meisten Position zur Gegenwart bezieht. So liefert er bspw. eine gelungene Definition von Populismus:

„Populisten lehnen die politisch-soziale und kulturelle Vielgestaltigkeit demokratischer Gesellschaften ab. Sie behaupten hinter dem verfassungsmäßig zustande gekommenen politischen Willen gebe es ein anderes, ein »wahres«, »eigentliches« und in sich einiges Volk, das sie zu repräsentieren vorgeben. […] Sie lehnen es ab, die komplexe Realität zum Ausgangspunkt der Politik zu machen. Stattdessen zwängen sie die Konflikte moderner Gesellschaften in die Kategorien eines pseudomoralischen Rigorismus ein, der, konsequent zu Ende gedacht, nur Schuldige und Opfer kennt.“

Nach Wirschings Eingangstext beschreibt Werner Plumpe die wirtschaftlichen und Horst Möller die systempolitischen Probleme der Weimarer Republik. Ihr Resümee, obgleich vorsichtig mahnend, ist im Prinzip das Resümee der gesamten Anthologie: Ja, Weimar hat uns noch etwas zu sagen, aber ein Vergleich zwischen den Weimarer Verhältnissen und unsere politischen Lage hinkt nicht nur, er greift schlichtweg an einigen Stellen ins Leere, so sehr er auch mancherorts zu haften scheint.

Schon eher vergleichen kann man AfD und NSDAP, was Jürgen W. Falter anhand von deren Wählerschaft und Ideologie tut. Wohlgemerkt: es geht ums Vergleichen, nicht ums Gleichsetzen. Das Ergebnis ist in Sachen Wählergruppen doch sehr ähnlich, in der Ideologie aber stellenweise abweichend; und die verschiedenen Zeiten, in denen diese Parteien existierten, sowie die Erinnerungskultur der BRD, tun ihr Übriges. Die AfD muss natürlich auch keine NSDAP werden, um potenziell gefährliche oder potenziell antidemokratische Ausmaße anzunehmen. (Antidemokratisch waren beispielsweise auch die KPD der Weimarer Republik und andere Splitterparteien.)

Ute Daniel beschreibt in ihrem Text die Weimarer Presselandschaft und deren Dynamik, Herfried Münkler beleuchtet die euro- und geopolitischen Bedingungen, die sich in der Zwischenkriegszeit um die erste deutsche Demokratie herum entwickelten. Hélène Miard-Delacroix überfliegt dann noch einmal die deutsche Mentalität.

Ist das Büchlein lesenswert? Ja, aber nur zum Teil aus aktuellem Anlass. Manches darin taugt eben nur als Geschichtsstunde (die nie schaden kann), als politische Bildung, aber nicht als tagesaktuelle, politische Bildung. Denn letztlich: Mit Globalisierung, Umweltkrise, Digitalisierung, etc. steht unsere Zeit vor Problemen, die mit denen der Weimarer Zeit nicht vergleichbar sind – und umgekehrt! (Allenfalls die Entwertung der Arbeit ist vielleicht ein Überschneidungspunkt)

Wozu Weimars Beispiel weiter anhalten sollte sind allgemeine Wachsamkeit und die Bereitschaft im Ernstfall gemeinsam gegen extreme Positionen einzutreten. Auch wenn in Deutschland ein »Rechtsruck« spürbar ist, sind die Auswüchse derzeit weniger destabilisierend für das politische Gefüge als in vielen anderen europäischen Nationen – eben auch weil Weimar und seine Folgen bekannt sind. Es muss nun darum gehen, die Konflikte zu lösen und die Themen anzugehen, mit denen die Populisten derzeit noch ihren Wählerfang betreiben. Die Bühne, auf der das geschieht, bietet sich heute besser dar, als einst in Weimar.

„Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine langetablierte Tradition. Sie definiert sich nicht über machtstaatliche Ansprüche, weder nach innen noch nach außen, sondern ist geprägt von der verheerenden Erfahrung von Diktatur, Krieg und Verbrechen.“

Zu “Giuseppe Mazzini” von Eva Wegensteiner-Prull


Giuseppe Mazzini “Es ist mir ein Bedürfnis über diesen Mann in seiner schicksals-schweren Zeit zu schreiben. Es soll keine wissenschaftliche Abhandlung und kein reines Geschichtswerk sein, von denen es zumindest in italienischer Sprache genügend gibt.”

Stattdessen soll es um das “abenteuerliche Leben” von Giuseppe Mazzini & dessen Stationen und immer wieder um seine Liebe zum Menschen, zur Literatur und zur Einheit Italiens gehen – ein durch und durch geglücktes Unternehmen, wenn man auch hier und da den Eindruck hat, dass die Geschichte in manchen Episoden allzu schnell vorbeisaust, was bei einem Buch diesen Umfangs aber unvermeidlich ist. Die Begeisterung, die Eva Wegensteiner-Prull dabei anbringt, entschädigt für vieles und erinnert in Teilen an die fast schon hautnahen und zutiefst humanistisch-emotionalen Geschichtswerke von Stefan Zweig (wie etwa “Castellio gegen Calvin” oder “Joseph Fouché”).

Als einziges Manko ließe sich anführen, dass das Buch sehr unkritisch gegenüber seinem Objekt, der Person Mazzinis, ist – was aber wiederum nicht zu stark ins Gewicht fällt, da es erstens die erklärte Absicht des Textes ist, die Vision Mazzinis und sein Leben, nicht aber dezidiert seine Erfolge und Verfehlungen zu beschreiben und auch keine kritische Biographie angestrebt wird, und zweitens da Mazzinis Lebensweg anscheinend wenig Beanstandenswertes enthält, zumindest was seine politischen Lösungen und Taten angeht. Gerade bei Freiheitskämpfer*innen wird das Pathos ja schon mal gerne weit entfernt vom Ethos aufgebaut. Bei Mazzini scheint dies selten der Fall gewesen zu sein, auch wenn er durchaus daran glaubte, dass man für die Freiheit kämpfen und also auch töten muss.

Ich habe dies kleine Büchlein, das schön, aber zumeist zweckdienlich und nicht übermäßig, illustriert ist (zum Beispiel mit einer Landkarte Italiens anno 1815, Portaits, etc.) gern gelesen und war teilweise überrascht, dass mir der Name Mazzini bisher kein Begriff war, trotz all seiner Schriften und Ideen. Einiges von dem, was er schrieb, weist ihn als einen der frühsten Vordenker eines Europas der verbündeten Nationalstaaten aus – eine Idee, die noch die Feuer zweier Weltkriege brauchte, um aus dem Schatten jahrhundertelanger Rivalitäten und Herrschaftsansprüche zu treten.
Die Entbehrungen, die er zu Lebzeiten ertragen musste, sind zwar nichts Neues in den leidensreichen Breiten der Geschichte, wo oft die engagierten Menschen in ungemütlichen Unterschlüpfen ausharren müssen, aber sie rühren doch im Angesicht seines Glaubens an seine hehren Ziele.

Alles in allem ersetzt dieses Buch selbstverständlich keine Biographie, dafür gelingt ihm gekonnt eine Illumination der Person Mazzinis. Lesenswert!

“John Marr und andere Matrosen” – Melvilles Gedichte


“Wohin ging Ap Catesby? Er kämpfte in Schlachten,
Die ihm Ruhm und etliche Orden einbrachten.
Doch Ruhm ist eine Welle, die, wenn sie bricht
Rasch verebbt und lachend Vergänglichkeit spricht.”

Wer sich heute mit dem amerikanischen Schriftsteller Hermann Melville beschäftigen will, hat in Deutschland gar keine so schlechten Karten. Der Hanser Verlag hat eine neue Werkauswahl herausgegeben, inkl. Briefen und Tagebüchern und einer Biographie, und man kann jeden interessierten Leser auch noch auf weitere Bücher wie das Sachbuch Wilde Dichter hinweisen oder eben diese erstmalige Auswahl aus seinem lyrischen Werk, erschienen im Mare-Verlag.

Melville, dieser Name gehört zweifellos zu den großen in der amerikanischen Literatur. Doch  hat er leider lange Zeite, ebenso wie Jack London (und auch der Franzose Jules Verne und der Deutschamerikaner B. Traven teilen dieses Schicksal, u.v.a.) vor allem als Autor von Abenteuergeschichten gegolten, obwohl er, genau wie London, mit seinen Werken weit über die einfachen Elemente dieses Genres hinausging; seine Erzählungen gelten heute als Vorläufer für das psychologische bzw. das phantastische Erzählen und sein Hauptwerk Moby Dick wurde zurecht als metaphysisches Meisterwerk anerkannt (auch wenn hier weiterhin dutzende von gekürzten, aufs Abenteuer zurecht gestutzten Versionen unter demselben Namen wie das vollständige Werk verkauft werden.)

“Sturm ist Leben -, so ließt ihr’s erschallen:
Lasst es stürmen, das Schicksal hat es bedacht!
Wie Kinder, die den Erdball umspannen,
Habt ihr euch nicht viel aus dem Leben gemacht.
[…]
Ach, der Vergangenheit zu entrinnen,
Streich sie wie Klängen, die nutzlos nun sind
Dem Herzen, dessen Saiten hochmütig singen;
[…]
Aus einem Meer von Gesichtern gelangen
Zahllose fremde Erinnerungsfäden,
Um mich wie einen Traum zu umfangen!”

Ein Matrose, der nicht mal mehr in der Nähe des Meeres lebt, erinnert sich an seine Zeit auf See; es ist die Kameradschaft, an die er sich erinnert und diese Erinnerungen beschwören natürlich die See, die diese Kameradschaft erschuf und zugleich zu vernichten versuchte, die ein Feind war, ein geliebter Feind und gleichzeitig die Geliebte, dahingestreckt im Abendsonnenlicht – gleichsam Glück und vielleicht das Ende vom Glück, eines Tages.

Das ist, in groben Zügen, die Geschichte von “John Marr”, des ersten Gedichtes dieses Bandes; es ist mit einem Prosatext, der als Einleitung fungiert, kombiniert, etwas, dass Melville (wie im Nachwort sehr gut dargestellt wird) öfter in seinem Werk (vor allem in seinem Spätwerk) zu tun pflegte oder zumindest oft für die ersten Entwürfe plante.

Auch der Rest der Gedichte hat wie dieser Text eine sehr nostalgische, wenn auch nicht weinerliche Note; mehr wie die Nostalgie einer sturmgepeitschten Nacht, wenn es zugleich stürmt und doch irgendwie sehr still ist. Etwas Unabwendbares liegt in den Versen, und nicht nur weil sie hauptsächlich von Erinnerungen und Schicksalen handeln, von dem, was das Meer genommen hat, von dem, was man mit ihm erlebt hat und es doch nicht wieder erleben und kaum mehr spüren, nur noch ahnen kann, sondern weil es so unverwechselbar war.

Ansonsten haben die Texte sowohl Balladen-, als auch Erzählungseinsprengsel. Im zweiten Text “Bräutigam Dick” geht es zum Beispiel auch um die Seegefechte während des amerikanischen Sezessionskrieges und die dadurch entstandenen Neuerungen in der Seekriegsführung, die Einhergehen mit dem Untergang eines Zeitalters, einer Epoche der Segelschoner, Holzfregatten und Mann gegen Mann-Kämpfe an Deck. Sehr klassisch und schön fand ich persönlich die kleine Verserzählung “Die Seemöwen”. Man wird insgesamt viel Klassischem aus der Seefahrt begegnen, von Mythen, Tatsachen, über Matrosenschicksale, Geschichten von einzigartigen Männern auf See und der Furcht des Matrosen, seine Liebe zum Meer mit dem Leben, seine Abkehr davon mit dem Verstummen zu bezahlen.

“Wirbelnde Wasser stürzen achteraus,
Der Bug, ein Sämann, streut die Gischt;
Segel gebläht, die Rah hält es kaum aus,
Der schwarze Rumpf die Flut vermischt
Zu einer Milchstraß, während Planken beben,
Frohlockend saust das Schiff, die Wimpel lustig wehen.”

Das Meer war Melvilles Metier. Im ständigen Kampf es auszudrücken, abzubilden, es nicht nur zu bereisen, sondern auch sprachlich zu erlangen und zu erfassen, lebte er und durch diesen Kampf kam er zu seiner literarischen Meisterschaft. Auch in diesen letzten lyrischen Werken – die erstmals 1888 in einer kleinen Auflage von 25 Exemplaren (auf Kosten des Autors) verlegt wurden, eigentlich lediglich für Freunde und Bekannte gedacht – zeigt sich diese Klasse, wenn auch etwas untergraben durch einen sehr starken Slang-Einschlag, der die Texte nicht unbedingt universell macht.

Zur Edition bei Mare: Sie ist wunderbar aufgemacht, in einer Kombination aus den Texten und einigen kleineren, einfachen Bildern/Zeichnungen (alle ähnlich der Art der Abbildung auf der Schuberfront). In Sachen Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort wurde sehr gute Arbeit geleistet, gerade die Anmerkungen erleichtern das Leseerlebnis. Es wurde davon abgesehen das englische Original direkt neben dem deutschen Text abzudrucken, stattdessen wurde erst der ganze deutsche Text und im Anschluss dann noch einmal, als Anhang, die komplette englische Fassung abgedruckt. Es lässt sich darüber streiten, ob das eine gute Idee war. Wer gerne zugleich englischen und deutschen Text vor Augen hat wird sich ein wenig ärgern, aber da die Texte wie gesagt gut übersetzt wurden ist das mehr eine Eigenheit denn ein Makel.

Als Fazit: Wer erzählende Gedichte schätzt, Gedichte vom Schicksal und der Seefahrt wird ohne Zweifel des Öfteren zu diesen Gedichten greifen wollen; wer ein ästhetisches Erlebnis bei einem guten Buch schätzt wird ebenfalls erfreut sein. Um wirklich klassisch zu sein ist diese Lyrik zwar etwas eigen, aber sie hat diese Symbolik, diese stets herausschwingende, unbeschwerte Art den Leser von Zeile zu Zeile mit ihrem Kosmos und ihrer Geschichte zu locken – etwas, dass man fast wieder klassisch nennen könnte.

Link zum Buch

Weitere Buchempfehlungen zu Melville

Meistererzählungen
Moby Dick oder: Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein. Eine tiefenpsychologische Deutung
Das lyrische Werk Hermann Melvilles. Eine Studie
Außerdem gibt es noch einen sehr guten Text über Melville und “Moby Dick” in Djians Hommagebuch In der Kreide

“Der schwedische Reiter” – einer der kleinen, beeindruckenden Romane von Leo Perutz


“Aber der Herr mag wissen, dass der Hase nirgends flinker ist als dort, wo man ihn jagt.”

Noch zu wenig Stimmen haben Lob gespendet für das kleine und wunderbare Gemälde, dass Leo Perutz mit diesem Roman geschaffen hat; denn so wie ein einziges Bild steht mir dieser Roman nach dem Lesen vor Augen; ein bedeutsames, eindringliches, klares Gemälde voller kleiner Aspekte und gelungener Motive, mit dem geheimnisvoll-schönepischen Titel: Der schwedische Reiter.

“Ihr habt gesehen wie so rasch sich dreht das Rad des Glücks.”

Leo Perutz gehört für mich zu den faszinierendsten und besten Romanciers deutscher Sprache; ich kann seine Bücher oft lesen und sie werden mir nicht langweilig. Sehr trefflich finde ich daher, was Daniel Kehlmann auf der Rückseite dieser Edition schrieb: “Perutz ist der größte magische Realist unserer Sprache.” Das fängt eigentlich genau das ein, was Perutz ist, von seinem ersten, furiosen Roman Die dritte Kugel an, über sein Meisterwerk “Von Neun bis Neun”, bis zu seinem letzten Geniestückchen “Der Judas des Leonardo” – nämlich ein Autor, der nicht nur spannende Geschichten in die Umgebung großer, historischer Umfelder einzuweben weiß, sondern dies auch noch mit einer Leichtigkeit von Sprache und Stil verbindet, dass man seine Bücher meist in einem Ruck durchlesen will und sei es nur, weil es sich so angenehm anfühlt ständig im Fluss seiner Geschichte zu sein.

“Der Erzähler experimentiert mit Wirklichkeiten”, so sagte es Vargas Llosa einmal. Perutz hat dies schon 40 Jahre vor dieser Aussage zu seiner Technik und seinem Stil gemacht. Viele seiner Romane betten das Schicksal einer oder mehrerer historisch nicht verbürgter Personen (oder wenn sie doch verbürgt sind, dann begehen diese Personen neben verbürgten, auch nicht verbürgte, Taten) in historische Abläufe ein. In Die dritte Kugel sind es z.B. ein paar Deutsche, die unabhängig von den Spaniern zur selben Zeit in die neue Welt reisen und sich dann beim Krieg mit den Azteken auf die Seite der Ureinwohner schlagen und gegen Cortez und die Spanier kämpfen; in Turlupin wird die frz. Revolution fast um 125 Jahre vorverlegt, was ein Mann dann doch verhindert; in “Der schwedische Reiter” nun ist die Geschichte von Liebe, Verrat, Schicksal und Abenteuer an die Klippe des “Großen Nordischen Krieges” zwischen Schweden, Polen-Sachsen und Russland gebaut.

“Es ist die Geschichte zweier Männer. Sie trafen einander an einem bitterkalten Wintertag zu Beginn des Jahres 1701 in eines Bauern Scheune und schlossen Freundschaft miteinander.”

Einmal sollte man Perutz lesen, weil es ein Vergnügen ist, wie schnörkellos, komprimiert und authentisch er erzählen kann – und zum anderen kann man ihn guten Gewissens allen empfehlen, die gute Geschichten lieben. Mag sein, dass man es ihm dann und wann übel nehmen könnt, dass er alte Sprichwörter, Gedichte und Lieder einflicht und allgemein die Sprache gern dem historischen Setting angleicht – oder dass praktisch keine einzige intensive Szene aus seinem Erzählfluss hinaus sticht, das er wenig bis gar nicht psychologisiert, dafür seinen Leser immer wieder mit Wendungen und Ideen überrascht. Den Sog seiner Geschichten, den kann man ihm nicht absprechen. Sie mögen sich bescheiden kleiden, wachsen aber jedes Mal auf wunderbare Weise als Ganzes über sich hinaus. Und selbst demjenigen, der sonst keine historischen Roman mag (wie auch ich) werden Perutz kleine Romane vermutlich eine große Freude bereiten. Jedes seiner Bücher bietet Unterhaltung während der gesamten Lesedauer.

“-Warum kommst du den nicht wenn es Tag ist?-
-Weil mein Pferd bei Tag den Weg gar langsam trabt; bei Nacht aber, da fliegt es durch die Luft in Windeseil’, in einer Stunde fünfhundert Meil’.”

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.

Für John Green und sein wahnsinnig berührendes Buch “Das Schicksal ist ein mieser Verräter”


“Eigentlich ist fast alles eine Nebenwirkung des Sterbens.”

Ich bin bereits seit Eine wie Alaska ein großer Fan des amerikanischen Autors John Green und seiner Jugendromane, die oft die Feinheiten dieses Genres mit einzigartigen Thematiken verknüpfen. Ich weiß nicht, was es genau ist, das seine Bücher so ehrlich und doch so gut erzählt erscheinen lässt, aber in seinen Büchern fühle ich wohl, wie es mir sonst nur bei Autoren wie John Irving, Jorge Luis Borges oder in den Gedichten Rilkes passiert. Was ihn jetzt nicht mit einer dieser Autoren konkret in Verbindung setzten soll, aber es ist da eine unkomplizierte, echte, berührende Präsens in seinen Geschichten, Personen, seiner ganzen Sprache, die der Erfahrung des Lesens ein wenig das glasscheibenartige, das Hindernis, was manchmal zwischen Leser und Lektüre steht, nimmt.

Gleich vorweg: “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” ist ein wirklich tolles Buch. Es ist vollkommen unprätentiös und ein wunderbar unüberladenes Erlebnis, es wirkt auf den Leser, es hat einen ganz besonderen Platz im Bücherregal verdient. Es erreicht uns im Kleinen und es erreicht uns im Großen, ist eines dieser Bücher, an dem wir nicht vorübergehen können, sondern kurz innehalten, vielleicht nicht einmal genau wissen warum wir innehalten, aber eins ist klar: das Innehalten genügt als Grund, die Rührung genügt als Schleife auf dem Moment, das Buch, gelesen, in der Hand, genügt als vollendeter Ruf an das Leben in uns allen.

“-und sofort bekam ich Angst, dass die Leute über mich, wenn ich starb, auch nichts anderes zu sagen hätten, außer das ich tapfer gekämpft hätte, als wäre das einzige, was ich je getan hatte, Krebs zu haben.”

Und ums Leben geht es in diesem Buch, viel mehr, als in vielen anderen Büchern, in denen die Menschen tatsächlich die ganze Zeit einfach nur leben.
Hazel Grace ist 16 und kann nur noch durch zugeführten Sauerstoff aus einer Flasche überleben, die sie mit sich herumtragen muss; Krebs in der Schilddrüse, Metastasen in der Lunge – unheilbar, nur noch aufhaltbar. Gelegentlich geht sie einmal in der Woche zu einer Art Gruppentherapie in einer Kirche für krebskranke Kinder. Dort trifft sie eines Tages einen Jungen, der selber mal an Krebs erkrankt war, jetzt aber gesund ist. Und es scheint, dass er sich auffällig für Hazel interessiert…

Es ist natürlich letztlich unbeschreiblich, wie nah einem ein Buch nach der Lektüre steht. Also nicht nur, wie nah es einem geht, sondern wie sehr man darin, abseits vom Thema, Spuren einer lebendigen Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit spürt – oder, altmodisch gesagt: Dass es ist, als wären die Romanfiguren Teilnehmer an einem Spiel, das auch wir spielen, wenn wir das Buch wieder geschlossen haben. Solche Bücher erreichen uns mit ihrem Thema stärker als andere, nicht weil sie Illusionen fabrizieren oder unterstützen, sondern weil sie offenbaren, was gültig ist in allem, egal ob Realität oder Fiktion. Eins davon ist sicherlich die Liebe und dieser Roman zeigt sie in einer ihrer schönsten, traurigsten Ausprägungen.

“Jedenfalls sind die wahren Helden nicht die Leute, die Sachen tun; die wahren Helden sind die, die Dinge BEMERKEN, die AUFMERKSAM sind.”

Im Grunde ist die Geschichte eine Liebesgeschichte – und dass sie viel, viel mehr ist, lässt diesen letzten Punkt trotzdem nicht in Vergessenheit geraten. Von den Szenen, durch die diese Buch sich bewegt, haben mich viele berührt, viele habe ich mit Spannung und Aufmerksamkeit verfolgt, viele sind mir als sehr gut geschilderte Gesten im Gedächtnis geblieben, die Kleinigkeiten eines Buches eben, die seine Lektüre zu einem riesengroßen Raum machen, den man nach der Lektüre nicht sofort verlassen kann, weil man ihn noch eine ganze Weile durchwandern muss.

Übergreifend (Hier: Achtung, kleiner SPOILER) hat mich aber letztendlich die Szene berührt, in der das Motto, die Essenz dieses Buches in aller Deutlichkeit hervortritt (wie sonst nur in einem ebenfalls sehr besonderen Film (Das Leben ist schön)). Die Szene in der Gus zu ihr sagt und man weiß, dass es das ganze Buch einfängt und letztendlich in diesem Satz der Punkt hinter die Aussage gesetzt wird, wodurch sie vollkommen ist:

“Das Leben ist schön, Hazel Grace.”

Ein Moment zum Heulen. Aber auch ein Moment um John Green zu danken. Weil er ein großartiges Buch geschrieben hat. Ein Buch, das vielleicht nicht künstlerisch wertvoll ist, dass keine große Psychologie betreibt – aber ein Buch, das menschlich so viel mehr erreicht, als es viele andere Bücher können. Das eine Erkenntnis bereithält, die so einfach ist und für die es doch manchmal solche Bücher braucht, um sie uns wieder ins Gedächtnis zu bringen: „Das Leben ist ungeheuer wertvoll. Und noch wertvoller sind die Menschen, die uns am Herzen liegen. Zwischen diesen beiden Dingen liegt viel Herzzereißendes – aber auch eine Chance auf das Glück.

“-Was es ist-             von Erich Fried

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe”

Link zum Buch

*diese Rezension ist teilweise schon auf Amazon.de erschienen

“Ein Traum in Rot” – Lernet-Holenias Kammerspielroman über das Böse, die Prophezeiung und und das Schicksal


“Es scheint überhaupt, als ob einem etwas Übles nur geweissagt würde, damit man es selbst, in dem Bestreben, es zu vermeiden, durch ebendieses Bestreben nur umso sicherer herbeiführe.”

Seit der Geschichte des Ödipus waren hunderte von Helden dazu verdammt, die Tragödie ihres Lebens selbst herbeizuführen, in dem Bestreben, sie zu verhindern. Das Motiv des Schicksals als das, auf das wir gerade dann zusteuern, wenn wir den Weg von ihm weg einschlagen, ist eines der populärsten der Literatur- und sonstigen Mediengeschichte. Gerade in Filmen ist es eine überaus beliebte Wendung, von Star Wars über Flash Forward bis hin zu Minority Report. Sehr eng verbunden ist und war es immer mit Prophezeiungen und Visionen.

Um Prophezeiung und Schicksal geht es auch in Lernet-Holenias Roman “Traum in Rot”, allerdings mit einigen Ausprägungen, die das Böse und die Macht unserer eigenen Angst mit einfließen lassen. Angesiedelt ist der Roman einige Jahre nach einem der großen umstürzenden Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts: der Oktoberrevolution in Russland und dem darauf folgenden Bürgerkrieg. Für viele Russen war dies die Auftaktkatastrophe zu in einer schrecklichen Epoche, die Genozide, Massenmorde und ein völlig von unübersichtlichen Kleinkriegen durchzogenes Land hinterließ, bevor die Sowjetunion daraus hervorging.

Einige vor dem Krieg geflohene Exilrussen, hauptsächlich Adelige, die jetzt als Bedienstete arbeiten müssen, leben auf einem Gut in Polen; noch immer hoffen sie, dass sie bald in ein monarchistisches, befriedetes Russland zurückkehren können. Gleichzeitig fürchten sie, dass die revolutionären Ideen sich noch weiter ausbreiten, über die Grenzen Russlands hinaus bis nach Polen und sie doch noch den Tod finden könnten.
Der Mann, dem das Gut gehört hat derweil andere Sorgen. Die hängen mit einer Prophezeiung zusammen, die einst ein hoffnungsloser Narr und Taugenichts über sein Schicksal und das Schicksal aller Anwesenden gemacht hat. Bisher hat dieser Kerl mit allem, was er voraussagte, Recht behalten. Und der Mann, der das angekündigte Unglück in sein Haus tragen soll, ist scheinbar auch nicht mehr weit entfernt, wenn man den mysteriösen Briefen seiner Verwandten glauben soll. Aber kann er überhaupt verhindern, dass das, was eintreten wird, eintritt…? Hilft das Reden, hilft das Handeln… Wenn doch alles nicht bis dahin so passiert wäre, wie es passierte…

“Was in der Welt zwangsläufig und selbstverständlicherweise, was gar nicht anders geschehen kann, vollzieht sich durch Zufälle und Missverständnisse. Denn das Notwendige und Selbstverständliche wäre aus sich selbst gar nicht imstande, andrer Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten, die ihm entgegenstehen, Herr zu werden.”

Sehr gut in Szene gesetzt und meisterlich in seiner Rahmengeschichte, meidet Lernet-Holenias Roman bei all seinen Abschweifungen und philosophischen Gedanken eine allzu schwere Dichte und das Abgleiten vom Roman hinein in die Form des Essays oder die meditative Gedankenprosa; formal ist der Roman ein Meisterstück. Allerdings kann ein Roman um solch ein Thema natürlich nichts anderes sein, als ein Spiel mit wenigen Motiven: hier mit Schicksal, Unglück und Phantastik, die der Autor auf verschiedene Ebenen und Teile der Handlung verteilt, aber damit auch nicht verhindern kann, dass der Roman letztendlich eher auf kleinem Raum bleibt.

Trotzdem: Dieser kleine Raum weiß zu gefallen – vor allem weil Lernet-Holenia es nicht bei den einfachen Begrifflichkeiten belässt, sondern, gerade wenn es um das Böse und das Schicksal geht, ein paar sehr gute Ideen und Zusätze mit ins Spiel bringt. Wie dies geschieht, sei nicht verraten – nur ein Tipp: Die Farbe Rot hat in diesem Roman eine sehr vielfältige Bedeutung. Und eine kleine Apologie des Teufels wird auch stattfinden…

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen

Austers “Leviathan”


Der Leviathan ist eigentlich ein Ungeheuer aus der Mythologie des Zweistromslandes, eine riesige Wasserschlange, mit biblischer Zerstörungskraft. Bekannter und für die westliche Geisteswelt von größerer Bedeutung ist jedoch das, nach diesem Ungetüm benannte, Buch aus dem 17. Jahrhundert (Der Leviathan), geschrieben von dem Mathematiker und Philosophen Thomas Hobbes. Es ist ein politik-/staatsphilosophisches Werk, der Form und dem Grundwesen nach ähnelt es dem Buch Der Fürst von Machiavelli oder Rousseaus Gesellschaftsvertrag – genau wie diese ist es weniger eine konkrete Ausarbeitung eines Staatsapparates, als vielmehr eine Abhandlung über der menschlichen Natur und wie der Staat (also die Gemeinschaft der Menschen) dieser Natur in seinen Mechanismen und Aufgaben Rechenschaft zollen muss. Hobbes sah den Menschen als ein sehr düsteres Wesen, das stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und eigentlich nicht für ein Zusammenleben geeignet ist. Deswegen muss der Staat, als allmächtiger Leviathan (in der Mythologie kann kein Mensch die Macht des Leviathan brechen) dafür sorgen, dass seine Instanz die Menschen und ihre Natur stets kontrolliert und sie davon abhält, übereinander herzufallen. Dazu sind dem Staat kaum Beschränkungen auferlegt, solange die Sicherheit gewahrt bleibt und Chaos, Anarchie und Verbrechen vermieden oder zumindest bestraft werden können. Dies wird von Hobbes nicht nur als Notlösung, sondern als höchste ideele Möglichkeit des Staates angesehen.

Es ist interessant wie viele Künstler sich auch danach noch mit dem Leviathan-Motiv beschäftigt/es aufgegriffen haben. Julien Green zum Beispiel (Leviathan) und Joseph Roth. Aber auch Arno Schmidt hat eine seiner wichtigsten Erzählungen nach dieser doppeldeutigen Idee benannt. Dabei ist den Texten von Schmidt und Green eigen (den von Roth kenne ich leider nicht), dass sie nur sehr unkonkret auf das Phänomen, das ihren Werken den Titel gab, eingehen – oder anders gesagt: nur der Titel schafft die Verbindung zwischen der Idee des Leviathans und dem Text, obwohl sie dann ganz offensichtlich oder zumindest naheliegend ist. Überhaupt hat diese Idee, in abgewandelter, libertinärer Form, etwas sehr modernes, in Zeiten des Internets, des organisierten Terrorismus und solchen Gesetzen wie dem Patriot Act, etc.

Paul Auster ist bisher der letzte große Autor, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, obwohl bei ihm der Titel während und nach der Lektüre schon fast als ein Rätsel auftritt, als etwas Nebulöses, schon beinahe unkenntlich gemacht. Das mag enttäuschend sein, aber nur wenn man konkrete Erwartungen hegt. Und das Paul Auster aus so einem Motiv keinen hochgestochenen Verschwörungsthriller, sondern eine zutiefst ambivalente, menschliche Geschichte gemacht hat, ist ihm letztlich sogar hoch anzurechnen. Dadurch wirkt das Buch zwar manchmal auch etwas unentschlossen und nicht gerade zielstrebig, was aber wiederum zu der Geschichte passt.

Trotzdem sei dies schon mal klar in den Raum gestellt: Wer nicht in die Beschaffenheit/Welt eines Buches, mit all seinen Abzweigungen, Änderungen am Grundthema und dem Verschieben der Perspektiven, eintauchen kann, ist mit diesem Werk wahrscheinlich schlecht beraten. Dabei ist es nicht mal ein sonderlich kompliziertes Buch. Aber, und dies hat auch mit den fiktiven Begleitumständen der Niederschrift des Berichtes, aus dem das Buch besteht, zu tun: es ist ein eher unordentliches, nicht gerade lineares Werk – bewahrt sich dadurch allerdings eine stille, dem Leben angeglichene Authentizität.

Wie nicht selten bei Auster beginnt das Buch mit einer Ausgangslage, die das ganze spätere Werk auf gewisse Weise prägt, weil sie im Kern Form und Rahmen der ganzen Erzählung bereits festlegt. In diesem Fall ist es der Anfang eines Bekenntnisses oder eines Berichts, beginnend mit den Worten: “Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.” Ein Satz wie Dynamit. Und doch auch sehr rätselhaft; schon dieser erste Satz wirft einen Schatten über das ganze Buch. Es folgt, wider erwartend, keine reißerische, bunt gefächerte, sondern die zutiefst menschliche und erstaunlich wendungsreiche Geschichte eines Lebens, das zwischen Glück und Niedergang einen seltsamen Weg beschreitet und in dem das Schicksal einen raubbauhaften Einfluss betreibt. Das Buch und die Geschichte legen sich wenig fest, verändern oft die Prioritäten, haben ein-zwei Längen – und sind doch am Ende fast grandios.

Ein guter Roman baut einen Sog auf, dem man sich nicht mehr ganz entziehen kann – bei der (potentiell und zumeist) längsten literarischen Gattung, die wir kennen, ist das ja auch irgendwie überlebenswichtig. Dennoch ist der Sog unterschiedlich; bei einigen Büchern tritt er sofort zu Tage, bei anderen ist er kaum vorhanden, liegt weniger in der Spannung der Geschichte, dem Sturm der Ereignisse und offenen Fragen, als vielmehr in einer hartnäckigen Neugier, die das Geflecht und die Windungen des Romans bis zum Ende gehen will, die alles Erleben will, was der Roman in seiner inhärenten Beschaffenheit für sie bereithält. Leviathan ist ein Roman von letzterem Kaliber. Man darf das jetzt nicht so verstehen, dass er langweilig ist. Aber seine innere Konsequenz bleibt bis zum Schluss zum Teil im Dunkeln, beinah bis zur letzten Seite ist sie nicht ganz offensichtlich. Darin liegt wiederum der große Reiz des Romans: Man weiß nicht, wo er einen hinführt. Ein Zug, der ihn auf eine beinahe morbide Art lebendig macht.

Es gäbe sicherlich noch viel zu sagen, noch viel was eine Erwähnung wert wäre. Das Ende z.B., das auszudeuten bleibt, aber auch die vielen Grauzonen (Dinge aus zweiter Hand, Widersprüchliches) die unauffällig den Roman immer wieder begleiten (und zuletzt noch Austers ewiges Thema: der Zufall, der auch die Manifestierung des Leviathans sein könnte) – das alles ist nicht ganz festgelegt und lässt das Werk in seinen Dimensionen gleichsam wachsen und verschwinden. Doch was man ihm nicht absprechen kann, dass sind ein Gesamtkonzept, welches alles andere als uninteressant ist und eine unaufdringliche Klasse, die man während des ganzen Buches spüren kann. Wie gesagt, wenn ein wenig Geduld mit ihm hat, kann Auster einen immer wieder überraschen und in seinen Bann schlagen, auch in diesem Werk. Man muss sich darauf einlassen – oder eben nicht.

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen