Besprochen beim Signaturen-Magazin
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Gedanken zur Eröffnungsrede von Thomas Kunst beim Lyrikpreis Meran und zur deutschen Lyrikszene
Publiziert wurde mein kurzer Essay beim Signaturen-Magazin (dort auch ein Verweis auf die Original-Rede).
Zu Ron Padgetts Gedichten
besprochen beim Signaturen-Magazin.de
“Zähle nach wie Noah gezählt hat” – Das dichterische Werk von Rainer Brambach
“So einfache Sachen wie Kühe melken,
Begonien begießen, damit sie nicht welken
[…]
beim Überqueren der Straße auf Autos achten
und nachts den Mond wie Klopstock ihn sah
und nachts den Mond wie Goethe ihn sah
und nachts den Mond wie Claudius ihn sah
und nachts den Mond wie Hebel ihn sah
betrachten.”
“Ich schreibe keine Geschäftsbriefe
ich beharre nicht auf dem Termin
und bitte nicht um Aufschub.
Ich schreibe Gedichte.”
Eine der schönsten Dinge, die man meiner Ansicht im Leben tun kann, ist, sich mit einem guten Gedichtband, der einen zu nichts nötigt, sondern jede Vorstellungspore öffnet, irgendwo hinzusetzen und zu lesen; zu lesen und wieder zu lesen, als wäre jedes Gedicht eine Flaschenpost zwischen Menschen, eine Lebensweisheit, eine Offenbarung erlebnishafter Natur. Als wäre jedes Gedicht die Reinkarnation eines Gefühls, eines Eindrucks. Als sei das Büchlein in der Hand ein Schatz voller einzelner Schätze namens Seiten, Titel, Zeilen.
Es ist der große Vorteil von Gedichten, dass sie nicht einfache ein Abbild sind, sondern eine Wirkungsmacht. Jedes Gedicht kann auf seine Weise beeindrucken und tief treffen, weil das Element der lyrischen Vermittlung einen dazu bringt, mit jedem noch so winzigen Eindruck Berge an Bedeutung zu versetzen, Goldadern in den eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu finden, einen Blick auf die Gründe vieler Dinge zu erhaschen. Gedichte sind schon ihrer Art nach ein Erlebnis, das zwar Bewegungen vorgibt, doch der Tanz, den man aufgrund von einzelnen oder dem Ablauf dieser Bewegungen beginnt, der liegt ganz beim Leser. Ein gutes Gedicht hat eine Form, die schon viel in sich trägt, auf die aber noch mehr und noch höher aufgebaut werden kann.
“Diese Welt, die ich nicht mehr verstehe,
besucht mich in Gestalt einer Zeitung
jede Woche einmal,
und mehrmals täglich
schwirrt eine Schar von Spatzen ans Fenster.”
Faszinierend ist, auf wie viele unterschiedliche Arten lyrische Beschwörung gelingen kann. Rainer Brambach (1917-1983) zum Beispiel hat kaum ein Gedicht geschrieben, was länger als eine großbedruckte Seite lang wäre. Sie gehen von einfachen Umständen aus und entfernen sich auch nicht wirklich in ihrer Sprache davon; es sind Beobachtungen, Erlebnisse, kurze Vertiefungen, die er, manchmal sinnig, manchmal spielerisch, auftauchen lässt, bevor das Gedicht dann schon wieder vorbei ist. Das bemerkenswerte ist: in der Zwischenzeit geschieht dennoch etwas: Die Auseinandersetzung mit dem Gedicht fördert etwas in einem zu Tage; man selbst fördert es mithilfe des Gedichts zu tage.
“Dem Tod keine Zeile bisher.
Ich wiege achtzig Kilo und das Leben ist mächtig.
Zu einer anderen Zeit wird er kommen und fragen,
wie es sei mit uns beiden.”
Es sind nur kleine Botschaften. Aber gerade das Schmale an ihnen, macht sie gleichzeitig fest, eindrücklich. Man kann ihnen nicht ausweichen, denn ihre Präsens ist für die Dauer der Lektüre unausweichlich, alles darin gehört zusammen; sie sind ein untrennbares Geflecht, gleich einem Schild, das dich auffordert, etwas zu dem zu sagen, was du gerade empfindest, was du gerade von Leben verstehst, was du sehen kannst
“Vom Querschläger Regen nassgeprügelt,
glänzt der Asphalt sammetschwarz satt,
schwankt die Allee herbstlaubbeflügelt.”
Kopfkino, musiziert nach lyrischem Wortschatz. Die teilweise harmlos-instinktiven Naturepisoden und -veranschaulichung machen einen nicht unerheblichen Teil des Bandes aus; in dieser Naturverbundenheit liegt dabei erstaunlicherweise nicht der Versuch, die Natur zu überwinden. Vielmehr ist diese ländlich-lebensgegerbte Note eine authentische Verknüpfung zwischen dem Schreiben des Autors und seinem Lebensgefühl.
Aber das Zentrale ist letztlich nicht das Überwiegen einer Thematik, sondern die Art, wie Brambach die Form des sehr kurzen Gedichtes auf viele verschiedene Themen erstrecken kann (auch wenn er meist beim Natur- oder Ichgedicht bleibt), was diesen Band so wertvoll macht. Es geht vieles, es geht auch anders – als Beispiel das Gedicht “Paul”:
“Neunzehnhundertsiebzehn
an einem Tag unter null geboren,
rannte er wild über den Kinderspielplatz,
fiel und rannte weiter
das Gewehr im Arm über das Übungsgelände,
fiel, und rannte weiter
an einem Tag unter Null
in ein russisches Sperrfeuer
und fiel.”
Im Ganzen ist dieses Gesamtwerk von 170 sehr großzügig bedruckten Seiten, ein kleines Geschenk für jeden Poesieliebhaber. Es enthält Ernstes und Heiteres, aber vor allem viel Natürliches. Man kann dieses Band mit einem unverfänglichen Genuss lesen, der einem dann und wann auch zu denken gibt. Berührend ist auch ein Wort, was für die Gedichte Brambachs stehen kann, auf eine sehr dezente Weise, die sich nie innerhalb dieses Begriffes ausverkaufen will.
“Außer Poesie und mir
war niemand im Park.
Wer sich gerne mit Gedichten beschäftigt, die keinen großes Tamtam um Verschleierung und Tricksereien machen, sondern vielmehr am Poetischen, dem Sinnspiel, dem Kopfkino, dem Einfangen der Welt als Wortgeste(n), interessiert sind, dem kann man dieses Werk ohne große Gefahr ans Herz legen. Es sind einfache Gedichte, die hier zu lesen sind. Aber einfache Gedichte sind immer noch Gedichte.
“Ein Gedicht schreiben
ohne Ballast
zum Beispiel Spätherbst
leeres Schneckenhaus Spinnenweben
lautlos Fallendes
im Geflüster der Bäume.”
Ein leichthändiges Märchen, ein wunderbarer Film: “Grand Budapest Hotel”
Dynamisch und doch erzählerisch-bedächtig – virtuos & bunt und doch wieder schlicht – eigensinnig, aber nie abstrakt. Wes Andersons Filme sind schon allein deswegen jedes Mal ein Erlebnis, weil ihre Art sich nicht ganz erklären oder in Worte fassen lässt. Egal um welch Materie er seine leichtfüßig-tiefgehenden Erzählungen spinnt, immer haftet dem Stoff die Aura des Absonderlichen, des Kuriosen an, aber auf so sanfte und kunstvolle Weise, dass die Erfahrung der Kuriosität auf eine besondere Ebene gehoben wird – eine menschliche Ebene, die Anderson jedem Ambiente, jeder Geschichte entlockt – ohne darauf verzichten zu müssen, seine Zuschauer durch vielerlei Formen von Witz, Wendung und mit einer Vielzahl von Figuren zu unterhalten.
Wenn man zum ersten Mal einen Wes Anderson sieht, sollte man sich bewusst machen, dass die leichte Apathie und Irritation, die in jeder Szene seiner Filme auftauchen kann, ein Stilmittel ist, dass seine Filme begleitet wie eine stilistische Kadenz. Natürlich kann man diese Tatsache als störend empfinden – ebenso wie den Umstand, dass seiner Handlungsführung stets eine schwer zu bändigende Fabulierfreude innewohnt, die zwar nie ausufert, aber auch nie Ruhe gibt. Wer aber gerade diese freie und unbändige Form mag, wer Filme als Orte zwischen Fiktion und Wirklichkeit, voller Möglichkeiten, Ideen und Charakteren, erleben will, die Leinwandwelt als eine den Gesetzen der Realität leicht entzogene Chance zur Schönheit sehen kann, als Möglichkeit über die Wahrheit, die Liebe und viele andere Dingen mit einem gewissen Anstrich von Phantasie zu erzählen, die diese Entitäten nicht verschleiert, sondern sie im Gegenteil manchmal noch besser einzufangen versteht, der wird sich in diesem und wohl auch in jedem anderen Wes Anderson Film sehr wohl fühlen.
“Grand Budapest Hotel” ist in gewissem Sinne ein Krimi, aber auch eine Hommage an die goldenen Jahre Europas, vor und zwischen den Weltkriegen; ein Märchengebäude, gebaut aus lauter echten Kultur- und Historienbruchstücken, Accessoires und Atmosphären. Es ist ein Kino der Optik wie auch der Erzählfreude, unopulent, trotzdem mit einer großen Detailfreude und -fülle, einer Zelebrierung, in der Ernst und Spaß sehr, sehr nah beieinander liegen. Während vordergründig allerhand Charaktere in den Todesfall einer alten Grande Dame verwickelt werden, herrscht in den einzelnen Szenen und Kapiteln jeweils die ein oder andere Idee vor – die ganze Zeit schwebt eine leichte Parodie über allem, nicht maßgeblich und auch nicht die eigentliche Absicht – sie ist nur ein Stilmittel, ein Funke, der die Dynamik des Ganzen in Schwung hält.
Wer meine Meinung nicht teilt, dem mag es albern erscheinen, aber ich finde das wesentliche Element in Andersons Filmen ist (neben der Vergeblichkeit, die Anderson nie auswalzt, nie vertieft, sie nur erscheinen lässt, als schlichtester Zusatz des Daseins) die Schönheit. Die Schönheit die Liebe, die Schönheit der Kindheit, die Schönheit der Exzentrik, die Schönheit der Angst oder, im Fall von Grand Budapest Hotel, die Schönheit der Epoche, der Kultur von damals. Damit will ich nicht sagen, dass Andersons Filme Wohlfühlfilme sind, zuckersüß oder irgendwas in der Art. Denn wenn ich von Schönheit spreche meine ich damit nicht eine der Ausprägungen von Schönheit wie Rührung, Zärtlichkeit, Glanz, Epos oder Künstlichkeit, Anspruch und Glamour. Es wird nichts herausgestellt – es ist einfach die Schönheit der Sache selbst, mit all ihren Fehlern und Farben, ihrem Wesen. Eine Schönheit, die in ihrem Widerschein eine Spur von Wahrhaftigkeit besitzt.
Deswegen sind Andersons Filme, wenn man sie mag, auch immer wieder eine Art vollendetes Erlebnis. Es bleibt kein Zwiespalt zurück. Nicht, weil seine Filme übergroß sind oder er als Regisseur unfehlbar. Aber die schlichte Ehrlichkeit, die unverfängliche Eigenheit, der unaufdringliche Witz, all das, was seine Erzählungen ausmacht, bietet sich dem Zuschauer immer an, als Welt, als Geschichte, stellt aber nie Anforderungen, weder durch große Special-Effects, noch durch reißerische Dilemmas, aufgezwungenes “Vor den Kopf stoßen” oder den erhobenen Zeigefinger. Seine Filme wühlen einen nicht auf – sie sind wie ein gutes, wunderbar geschriebenes Buch: sie bieten einem die Möglichkeit einer einzigartigen Geschichte, in jeder Zeile, mit vielen Auftritten und vielen Feinheiten. Nicht mehr und nicht weniger.
Nachtrag: Das der Film von tollen Schauspielern nur so übersprudelt, dürfte wohl bekannt sein. Am Anfang (und auch noch später) kann man immer wieder, auch noch bei der kleinsten Rolle, in ein bekanntes Gesicht blicken – an die 15-20 große bis kleine Hollywoodstars treten auf, manchmal nur für wenige Sekunden. Hervorheben muss man Ralph Fiennes, der die Hauptrolle so gut spielt, jede Szene wie aus dem Ärmel schüttelt, in keinem Moment zuviel und nie zu wenig in die Rolle legt und den unvergesslichen Charakter ausfüllt wie es wohl sonst keiner gekonnt hätte. Man freut sich einfach, dass diese Rolle und dieser Schauspieler zusammengefunden haben!
Von der Schönheit so viel Ungesagtens: Gedichte von Johannes Kühn
“In Gesprächen wohn ich nicht gern.
An der Eiche lieber
meine Schulter,
allen Stämmen zugelehnt die Stirn.”
Wenig Freiheit und Wirkung liegt in dem Gedicht, das sich nicht zugesteht mit den Mitteln zu entstehen, die dem Dichter am natürlichsten und besten erscheinen. Dichtung mag ein Ereignis sein, aber ein Ereignis ist nicht unbedingt ein knallbuntes Spektakel, sondern kann auch eine sehr kleine, doch ständig präsente Stimmung sein, ein Strauch, ein Sommertag, ein Abend im Gasthaus, eine Stunde am Fenster. Ereignisse, so könnte man sagen, sind die Momente, in denen wir auftauchen – in denen wir nicht nur sind, sondern uns der Erfahrung des Seins auch ganz aussetzen können. Gedichte simulieren diese Auftauchen und sind gleichermaßen selbst ein Ereignis – so auch die Gedichte Johannes Kühns, der zusammen mit Rainer Malkowski und Peter Huchel zu den schlichten großen Dichtern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert gehört. Mit diesen beiden hat er dabei vor allem gemein, dass er alltägliche Aussichten und Vorkommnisse, karge Natur und tief liegende Gefühle, auf sehr eindrückliche Weise hervorzuholen versteht.
“Wer wirft gelesene Briefe aus dem Wolkenfenster?
Zerrißne Zettel,
von Bitten voll,
nun kehren sie zurück
als Flocken,
es war noch Sommer,
was verfasstet ihr da Klagen, als ein Feuer,
stand radgroß,
alle wärmend, oben.”
Dies Auswahl in diesem Band ist so etwas wie ein Lesebuch. Lange Zeit war Kühn nicht sehr bekannt und bis in die 90er Jahre hinein blieb ihm breite Anerkennung verwehrt und er hörte sogar eine Weile auf zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt wurde sein bis dato verfasstes Werk gesammelt und veröffentlicht.
In elf Kapiteln sind hier nun alte und neue Gedichte zusammengekommen, durch die einzelnen Kapitel vor allem umgebungsthematisch getrennt. Übergreifend sind fast alle Gedichte, außer einigen beeindruckenden Widmungen an Dichter wie Trakl oder Hölderlin, in sehr einfacher Form und Sprache gehalten, wobei die Schönheit der langsam aus Form und Worten aufsteigenden Imagination, oft über die Einfachheit der Darstellung hinauswächst und eine unnachahmliche Vorstellung ergibt. So werden Kühns Betrachtungen und Geschichten Stück für Stück zum Erscheinungsbild der Dinge.
“Die Nadelstiche der Libellen nähen
am blauen Tag ein blaues Kleid
der Wassernixe,
die am Abend kommt,
es fortnimmt,
so jeden Sommertag.”
“Dann kommt die Sonne
und malt zu Goldbuchstaben
Fenster und Fenster.
Der Himmelszug
der Habichtszeilen
drängt sich ins Herz,
gelungener Schulaufsatz
vom Glück.”
Er erschließt Stimmungen, als wären sie tatsächlich in den Worten anwesend – und in seinen Versen strahlt die Realität manchmal und urplötzlich wie etwas Verheißungsvolles, Schönes, Tieferes – zumindest wie etwas, dem nicht der Verstand, sondern nur das Gefühl ebenbürtig ist; auch etwas Trauriges, möglicherweise, weil es einem nicht gehört, was aber, wie Brodsky richtig meinte, “ein wesentlicher Zug des Schönen ist”.
Wahrscheinlich ist vieles, was man sonst über die Gedichte noch sagen kann, zu eng gegriffen, um alle Wege ihrer Sprache anzudeuten. Kühn lebt die Mythologien von Natur, Dorf, Wald und Wiesen aus, belebt sie wieder und verschmilzt sie mit dem Tagwerk, Leid und Trost der Menschen; aber er hat auch oft ein instinktives Gefühl dafür, wo ein Gedicht hin will und wie man es innerhalb seines Themas, ganz ungewohnt, aber vortrefflich, wendet oder vollendet.
“Wenn ein Geizhals am Ursprung der Wetter säße,
gäbe es nur einen Sonnenstrahl,
die anderen hielte er zurück
für sich.”
Der echte Dichter wird stets bemüht sein, eine eigene Stimme zu entwickeln. Und an den schönsten deutschen Dichtern kann man immer wieder sehen, dass man dafür keinen extravaganten Wortschatz zu kreieren braucht, sondern nur die Dinge lange genug mit den Augen der Sprache betrachten muss – eine Kunst, die Johannes Kühn so vortrefflich beherrscht.
Über eine Hochzeit schreibt er:
“Maiblüten
in die Straßen herein
werfen aus grünen Hoffnungsbäumen
sicheren Schein
in der Braut Gesicht
und die Seele leuchtet von Innen.”
Ein Bild wie für den Moment geschaffen, in dem es einst geschah, gemalt für die Vorstellung, welche immer und überall Wunder sehen kann, wenn sie nur will.
Ganz zuletzt sei nicht verhehlt, dass auch zahlreiche ernste und melancholische Töne auf diesen Seiten zu finden sind. In ihnen liegt die machtvolle Ruhe eines Dichters, der sich ganz auf die Dinge einlässt, beinahe verschwindet dahinter, ganz so als wären sie die, die schreiben und er nur das Objekt, das als lyrisches Ich passiert. Erfassungen von Wesenheiten, wie sie sonst nur das Unbewusste erreichen kann, in Form von breiten, einzigartigen, spezifischen Empfindungen, sind, allumfassend, Kühns großer lyrische Verdienst.
“Frühlingsschönes Denken an die Gärten der Kindheit!
Über mir der Schwalben Tintenflug
durch der Himmel Pergament
nahe mir die Buche,
die stand schauerlich gütig,
als hätte ihr eingeatmet
ein Greis eine Seele.”
Ganz zuletzt möchte ich noch aus dem Nachwort Ludwig Harigs zitieren, der sich sehr für die Anerkennung Kühns eingesetzt hat:
“Ihm, dem Dichter, offenbart sich – wenn man Peter Rühmkorf glauben darf – aus einem unvermuteten Augenaufschlag die Welt als eine Wundererscheinung. Doch mitten im Zauberglanz, rund umhüllt, der Wundererscheinung, bleibt er der realistische Dichter, der dem Geschauten zu einem zweiten Dasein verhilft.”
Ein Buch, randvoll mit dem zweiten Daseins vieler Dinge, die zurecht nicht in Vergessenheit geraten sollten, weil sie das Wesen unserer Welt auf einfache Weise zu präsentieren verstehen – so gut dargestellt, besser, als man selber oft hinsieht; fast durchweg eines der großen Leseereignisse in der deutschen Poesielandschaft. Eine rundum Erfahrung für alle der Welt verbundenen Leser, die auch ihre Schönheit immer wieder verheißen hören.
Zuletzt noch einige kleine Zitate:
Über einen Baum:
“O grüner Kopf, der mit den Vögeln denkt”
Über einen General:
“Orden wachsen ihm über die Brust
wie in reicher Wiese Margeriten im Frühjahr.”
Über den Fuchs:
“Sieh ihn,
gemalt als Fackel, Warnung vor sich selbst.
[…]
In Räuberein
hält er sich ritterlich schlank,
die Junker alter Zeit
in Gräbern modern. Er lebt.”
“Einen Weg geh ich, komme an, dort,
wo die Hecken wie Abenteuer leuchten.”
“Es schläft ein Igel leis
in mir: die Zuversicht.”
“Entzückt sitzt der Trinker
an seinem Glas,
und alle anderen Welten sinken.”
“Wer hat die Langweile,
den einhufigen Gaul,
meinem Lebenskarren vorgespannt.”
“Abends,
wie schnürt sich mein Atem.
Mit dem silbernen Mond
kommt mir die Erde
noch einmal entgegen”
Link zum Buch
“Dank sei den Dingen” von Rutger Kopland
“Die Dichtkunst ausüben heißt
mit der größtmöglichen Sorgfalt
konstatieren, dass beispielsweise
am frühen Morgen
die Vogelbeeren tausend Tränen tragen
gleich einer Zeichnung aus der Kindheit
so rot und so viel.”
Die wenigen holländischen Dichter, die ich bisher lesen durfte (Cees Nooteboom und Lucebert) sind, trotz ihrer Themenvielfalt und ihrer Unterschiede, allesamt bedächtige Dichter. Vielleicht liegt das an der Sprache, dem Niederländischen selbst, oder an den Übertragungen; vielleicht suche ich auch nur das Verbindende und streiche es dabei zu stark heraus.
Feststeht: Es geht oft um Ruhe, ums In-sich-gehen, um den Tod (von Freuden, aber auch den eigenen) und um das, was bleibt, wenn man reflektiert, fragt, wenn man innehält und näher an die Dinge herangeht. Höchstwahrscheinlich hat die Niederlande in Sachen Dichtung ein genauso breites Spektrum, von glatt bis innovativ, wie auch die Deutschen, aber nur diese Art der Dichtung, die tiefe, feine Art ist bisher zur Übertragung gelangt.
“Morgens am Fluss, morgens, wenn
er noch abzuwägen scheint,
wohin er an diesem Tag
wieder gehen soll,
ob er dieselben heftigen Bewegungen
machen soll wie immer
oder nicht mehr,
oder ist dieses ewige Zögern
die leere Gebärde von jemandem,
der schon nicht mehr existiert
[…]
Morgen am Fluss,
morgen, wenn er endlich
nichts weiter sein wird
als der Fluss.”
Rutger Kopland ist, wie gesagt, ein sehr gesetzter Dichter. Ein bisschen in der Tradition von William Carlos Williams, schreibt er einfache, persönliche, spät einsetzende Verse. Keine Abstraktionen, wenige, nicht anschneidende, sondern aufgehende Metaphern, eine große Freude an der Melancholie, keine Scheu der Schönheit einen einfachen handgemachten Holzstuhl anzubieten, keine Angst von den ersten und letzten Dingen zu sprechen.
Keine Furcht davor, das Gelingen eines Gedichts vom Verständnis zwischen Dichter und Leser und nicht von der Kunstfertigkeit oder Heftigkeit der Darstellung abhängig zu machen.
“Der Körper wird wohl als ein Nest betrachtet
die befristete Bleibe eines unsichtbaren
Vogels – eines Abgesandten der Ewigkeit.
Wer gerne Gedichte liest, die ihre Wärme aus dem Inneren gewinnen, aus den Gefühlen, die sie nahe legen, statt aus den Bildern, die sie provozieren, der wird mit diesen schönen, beinahe schlichten Dichtungen eine sehr erfreuliche Erfahrung machen. Auch diejenigen, die nachdenkliche Lyrik schätzten, werden diesen Band auch nach der ersten Lektüre noch öfters zur Hand nehmen, denn einige von ihnen sind gleichsam klar und doch wandelbar wie Spiegel – jede Lektüre kann eine neue Dimension haben, eine neue Ebene freilegen.
Selten habe ich Gedichte gelesen, die so vollkommen zu sein scheinen, derweil sie eigentlich so einfach und schön sind wie eine Gartenbank im Abendlicht oder die glatte Oberfläche eines Sees. Vielleicht trifft dies letztlich nur auf 5-6 der Gedichte wirklich zu, aber die erste Lektüre des ganzen Buches wird von diesem Gefühl eingenommen.
P.S.: In diesem Band sind nur die deutschen Übertragungen enthalten, keines der niederländischen Originale; die Auswahl wurde aus Werken von 1966-2006 getroffen. Das Nachwort stammt vom Nobelpreisträger J.M. Coetzee. Übersetzt wurden die Texte von Mirko Bonne und Hendrik Rost.
Link zum Buch
Über das epische Erzählen, Weben, Singen des Jannis Ritsos, “Unter den Augen der Wächter”
“Ich weiß,
die Dichter beflecken nicht
mit ihren Tränen
die gläsernen Städte.
Sie wachen mit
ihrem reinen und ungetrübten Blick,
um das Frösteln des Lichts
und die Handflächen des Weltalls zu zählen.”
Jannis Ritsos gehörte, um es gleich im Voraus zu sagen, zu den epischsten und produktivsten Dichtern des zwanzigsten Jahrhunderts. Wo die Werke von Kavafis oder Odysseas Elytis nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Gedichten umfassen, die in eine Einbandgesamtausgabe passen, würde das gesamte dichterische Werke von Ritsos gleich mehrere Bände füllen. Sie sind auch lange nicht so formidable wie die Werke seiner griechischen Zeitgenossen, dafür aber sehr natürlich-universell, ehrlich und kraftvoll.
Neben klassischen Gedichten und längeren Zyklen hat er auch für sich eine neue Art von Lyrik, in Verbindung mit der Dramatik, geschaffen, die in dieser Auswahl leider nur in sehr kleinen Auszügen zugänglich ist.
“Ein wirkliches Gedicht hält sich niemals in der Ecke der Träumerei auf.
Es ist stets zur erforderlichen Stunde da wie der bewusste, bereitwillige Arbeiter,
es ist ein entschlossener Soldat, der “hier” ruft beim ersten Appell seiner Zeit.”
Ritsos lebte in bewegten Zeiten (1909-1990). Seine Heimat Griechenland machte in schneller Folge sehr viele tief greifende Veränderungen durch, angefangen bei dem Einsturz des feudalen Systems vor und im ersten Weltkrieg, dann die Okkupation im Zweiten Weltkrieg durch die Achsenmächte, dann die Nachkriegswirren, Militärdiktatur und Wirtschaftskrisen.
Ritsos war sowohl im Krieg, als auch während der Militärdiktatur in Gefangenschaft und in Arbeits-/Verbannungslagern, weil er sich für eine sozialistischorientierte Demokratie stark machte.
In seiner Lyrik bewegt er sich gleichsam abseits und in den Erfahrungen seines Lebens. Er dichtet keine politischen Gedichte, aber einige seiner Gedichte sind nicht ganz unpolitisch. Er ist kein Gesellschaftskritiker, sondern ein lyrischer Erzähler und Antaster, aber trotzdem erzählt er eben auch von der Gesellschaft und dem Guten und dem Bösen darin.
“Schön waren jene Tage auf den Plätzen der Viertel,
und barfüßige Kinder in geflickten Kleidern
riefen Worte aus – sprachen über die Zukunft,
öffneten mit ihren erregten Fingern große Fenster in den Himmel.”
Vor allem ist Ritsos ein Dichter der Hoffnung und des Einklangs. In allem, was er schreibt ist das Sonnenuntergangsgefühl enthalten, mal offensichtlich, mal unterschwellig, mal melancholisch, mal beschwörend, mal nur gefühlt in Stil und Takt. Oft kann man geradezu sängerische Passagen in seinen Texten finden, die klassischen griechischen Volksliedformen oder epischen Gesängen ähneln (viele seiner Gedichte wurden später auch tatsächlich vertont, was ihn erst in seiner Heimat und darüber hinaus richtig bekannt machte). Doch zu schlichten Gedichten werden sie wieder durch ihre Natürlichkeit, ihren aufblitzenden, unpathetischen Streifungen.
“Freude, Freude, Freude –
Wir haben das große Unabsichtliche berührt,
das keine Absicht erfordert.
Gott selbst verwirklicht sich
in unserem Kuss.
Stolz erfüllen wir den Auftrag
des Unendlichen.”
Man sollte Ritsos lesen wenn man viel für die unwillkürliche und einfache Schönheit übrig hat, die eine Erzählung im Gewand von Dichtung und Darreichung bieten kann; dennoch sollte man auch ein bisschen Konzentration und Aufmerksamkeit mitbringen, denn wie immer zeigt sich die wahre Größe auch dieses Lyrikers in den beinahe wie unabsichtlich daherkommenden Zeilen, in denen er an uns selbst heranzutreten scheint und kurz für uns das Buch des Lebens auf einer uns bekannten Seite aufschlägt und uns aufzeigt, wie wir sie noch nie gelesen haben. Wir ahnten es und diese Ahnung erfährt in der Textzeile eine neue Form von Wirklichkeit.
“Viele Gedichte sind wie silberne Fäden,
an die Glöckchen der Sterne gebunden –
wenn man dran zieht, lässt ein silberheller Glockenschlag den Horizont erschüttern.”
“Der Tag brach an.
Eine Katze spielt auf dem Feld
mit den Zitronenbechern des Mondes.”
Gedichte sind da, um sich der Schönheit der Welt nicht nur zu vergewissern, sondern sie auch noch öfter zu erleben, als es gemeinhin vielleicht möglich wäre; also auch um sie anders zu erfahren. Viele von Ritsos Gedichten schaffen das, mit einfachen lyrischen Worten und schlichter, doch einfallsreicher Metaphorik, die im Ganzen über sich hinauswächst.
Ihm selbst sei das letzte Wort gegeben:
“In diesen Tagen jagt uns der Wind.
Rings um jeden Blick der Stacheldraht,
um unser Herz der Stacheldraht,
rings um die Hoffnung Stacheldraht. Sehr kalt dies Jahr.
Näher. Noch näher. Kilometerweit Wasser um dich herum.”
“Die anderen werden lächelnd sagen: “solche Gedichte
schreiben wir allemal”. Das wollen wir auch.
Denn wir singen nicht Bruder, um die Welt zu unterscheiden,
wir singen, damit die Welt sich vereint.”
Link zum Buch
Ein paar einfache, wirklich gute Gedichte – “Das Leben so bedrohlich mal zwei”
Ich mag den Klang der Wendung “wirklich gut” eigentlich nicht, da er etwas Bekräftigendes an sich hat, das aber gleichzeitig auf etwas schwachen Beinen steht; fast eine Art Oxymoron. Doch wenn diese Wendung dann einmal „wirklich“ zutrifft, gibt es wenig andere Wendungen, die passend wären.
So auch bei den Gedichten von Benjamin Lauterbach, die man kaum mit etwas anderem betiteln kann als “wirklich gut” – auch weil sie wenig andere Merkmale haben. Sie sind unaufgeregt, öfters etwas lapidar, dann wieder nachdenklich, und immer wieder: bestechend in ihrer Schlichtheit, aus dieser Deckung heraus den Leser für sich einnehmend.
Es gibt keinen großen Angelpunkt, keine filigrane Diktion und Form, die hinter allem mitläuft. Und Benjamin Lauterbach beweist, dass es das auch nicht braucht. Nicht wenn man einfach ein paar ehrliche Gedichte aus dem Leben heraus schreiben will, so wie man sich etwas von der Seele schreibt: mit Zuschüssen von Ironie und losen Enden.
Wer in dem Meer moderner Lyrik und ihren vielen experimentellen Verästelungen sich leicht verloren vorkommt, dem dürften diese Texte wie eine kleine Offenbarung erscheinen, eine kleine Heimat. Sie sind nicht gereimt, sondern erzählend, im Stile von Bukowski, und ein wenig erinnern sie der Art nach an Gedichte von Nicolas Born, jedoch gibt es in ihnen wenig mehrdimensionale Metaphorik. Stattdessen werden die Dimension des Lebens selbst hervorgehoben und betont.
In einem meist klaren Fluss berichten die Gedichte von Lebensverdruss, Liebe, Schicksalen und Ich-Zuständen. Da sie dabei kaum auf abgewandte Abstraktionen zugreifen, ist sowohl ihre Erscheinung als auch ihr Ton sehr glatt und angenehm. Die ersten Gedichte sind noch etwas zu einfach gehalten, aber schon bald wissen die Texte ihre Aufrichtigkeit und ihre unaufgeregte Gangart filigraner zu gestalten. Dann entstehen sogar Texte, die entfernt an Charles Simic erinnern, wie etwa ein Gedicht mit dem Titel: “Das Leben ist zehn streichende Männer”, “Hier sein”, “Das müsste ich sagen” etc. Das besondere an diesen Gedichten ist, dass sie äußerlich und didaktisch nicht viel herzumachen scheinen, dabei aber sehr aufmerksam sind und trotz des kleines Raums, in dem sie operieren, am Ende immer etwa schmales für den Leser bereithalten, etwas nahezu Handfestes. Etwas, so verschwindend klein, als hätte das Gedicht noch gar nicht begonnen, als hätte nichts begonnen und aufgehört. Aber da ist etwas. Und mit diesem Gefühl liest man diese Auswahl und am Ende fühlt man sich wie nach einer wirklich guten Lektüre.